It's the system, stupid!

Essay Für eine zweite Aufklärung

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Am 24. September durften wir also wieder zwei Kreuzchen machen. Und weil die AfD vor dem Einzug in den Bundestag stand, wurde dem potenziellen Nichtwähler aller Orten wohlmeinend ins Gewissen geredet, wie wichtig es vor allem diesmal sei, jene Kreuzchen zu machen – nur nicht bei der AfD. Wohlmeinend (erfolglos) und bigott zugleich: Als sei menschenfeindliche Politik in unserem politisch-ökonomischen System nicht institutionalisierter Alltag. Oh welch böser Satz! Wir leben doch in einer Demokratie, das verharmlost doch „echte“ Diktaturen und die neuen Nazis im Parlament und so weiter und so fort! Wirklich? Wissen wir nicht alle, dass wir als viertgrößte Wirtschaftsnation und fünftgrößter Waffenexporteur der Welt jeden Tag für Ausbeutung, Hunger, Tod, Leid, Krieg und die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen mitverantwortlich sind? Nur weil all das Leid, all der Krieg und all die Zerstörung outgesourct fernab unserer sicheren Wahlkabine, fernab unseres saturierten Wohlstandsdeutschlands geschehen, heißt dies nicht, dass wir dafür keine Verantwortung tragen.

Und anstatt uns nun die nächsten vier Jahre mit der AfD zu beschäftigen und selbstgefällig darin zu bestätigen, was für gute Demokraten wir doch sind, wenn wir die Ausfälle der AfD missbilligen, sollten wir den Mut haben, uns mit den tatsächlichen Ursachen und Folgen der gegenwärtigen politischen Situation auseinanderzusetzen. Wollen wir wirklich etwas am Status Quo verändern, dessen eigentliches Problem nicht die AfD, sondern ein (auto-)destruktives Wirtschaftssystem und eine tiefgehende Glaubwürdigkeitskrise der etablierten Parteien und politischen Institutionen ist, dann reichen dafür keine Kreuzchen, dann brauchen wir einen grundlegenden Wandel unseres politisch-ökonomischen Systems.

Nach dem erneuten Scheitern der linken Parteien in Deutschland wäre es deshalb nun endlich an der Zeit den drängenden Zukunftsfragen offen und mutig ins Gesicht zu sehen. Es reicht eben nicht – wie im vergangenen Wahlkampf von SPD und Linkspartei –, einen rückwärtsgewandten „Restaurations-Sozialstaats-Diskurs“ zu führen, der seine Adressaten – wenn auch ungewollt – zu passiven Opfern eines ungerechten Systems erklärt. Als national-soziale Variante funktioniert dies bei den Rechten. Vielmehr ist längst schon überfällig, eine vorwärts gewandte, positive Geschichte einer neuen Gesellschaft zu erzählen, dessen Adressaten keine Opferrolle zugewiesen wird, sondern die als Macher angesprochen werden. Die politischen, ökonomischen und sozialen Umbrüche schreien geradezu danach, endlich einen politischen Diskurs zu entfachen, der sich mit einer Zukunft jenseits einer Fortschreibung des Gegenwärtigen befasst. Ganz ohne Straßenkampf ist bereits eine Revolution im Gange, die die westliche, kapitalistisch-bürgerliche Gesellschaft der letzten 200 Jahre grundlegend transformieren wird.

Digitalisierung als Chance

Einer der Haupttreiber dieser Entwicklung ist der technologische Wandel, an dessen Speerspitze steht, was man als Digitalisierung bezeichnet. Diese greift vor allem tief in die Strukturen ein, die das menschliche Leben maßgeblich bestimmen: die Strukturen der Arbeit. So war in letzter Zeit oft zu lesen, dass bald nicht nur zahlreiche Arbeitsplätze in der Industrie, sondern auch im Dienstleistungssektor durch Computer und Maschinen ersetzt werden können: Übersetzer, Anwälte, Finanzanalysten, Altenpfleger, Taxifahrer, Justiziare oder Journalisten – kein Job sei vor maschineller Übernahme mehr sicher.

Zwar dürfte sich die These vom „Ende der Arbeit“ als Irrglaube entpuppen – denn selbst wenn durch Automatisierung und Digitalisierung künftig zahlreiche Arbeitsplätze verloren gehen, heißt dies nicht, dass nicht neue Felder von Industrie und Dienstleistungen den Verlust möglicherweise kompensieren. Und wollen wir unsere natürlichen Lebensgrundlagen entgiften und erhalten, wird uns auf absehbare Zeit keineswegs die Arbeit ausgehen – im Gegenteil: Der Umbau zu einer sozial-ökologischen Gesellschaft und die Reparatur der Umweltschäden in einem post-fossilen und post-nuklearen Zeitalter bedeutet mehr als genug Arbeit.

Doch die große Chance im Rahmen der sich vollziehenden „vierten industriellen Revolution“ liegt darin, neue mentale, soziale und ökonomische Infrastrukturen zu schaffen, mit denen sich die paradoxen und (auto-)destruktiven Folgen des Kapitalismus womöglich überwinden lassen.

Denn durch die fortschreitende Automatisierung wird vor allem ein grundlegendes Paradox des Kapitalismus offenbar, welches man als „Effizienzparadox“ bezeichnen könnte: Wenn immer weniger Menschen immer mehr Dinge in immer kürzerer Zeit herstellen können, werden irgendwann mehr Güter hergestellt, als nachgefragt beziehungsweise gekauft und/oder konsumiert werden können. Dieser innere Widerspruch der kapitalistischen Rationalisierungsmaxime war – als „Ausweitung der Kampfzone“ – nicht zuletzt einer der Hauptgründe für den Aufstieg des Neoliberalismus und der Defizitökonomie in den 1970er und 1980er-Jahren. Der von Kohle, Öl, Gas und Atomkraft getriebene Maschinenkapitalismus des 20. Jahrhunderts hatte das Prinzip der Effizienzsteigerung und Ausbeutung bereits so perfektioniert, dass er zu effizient geworden war. Die zur (scheinbaren) Lösung dieses Konflikts eingesetzten Mittel der Expansion und Steigerung stoßen zu Beginn des 21. Jahrhunderts nun zunehmend an ihre Grenzen, da in einer endlichen Welt Expansion und Konsum auf Kosten der Substanz nicht unendlich fortsetzbar sind.

Aufgabe einer politischen Avantgarde wäre es deshalb, den Retropien auf der einen Seite und dem blinden Wachstums- und Technikerlösungsglauben des Silicon Valleys auf der anderen Seite – der letztlich nur auf eine Intensivierung des Bestehenden setzt – eine positive Gesellschafts- und Technikutopie entgegenzusetzen. Diese müsste der geschehenden Revolution eine Form und Richtung geben, die konträr zu allen düsteren politischen Zeichen der Zeit (mehr Autokratie, weniger Freiheit und totale Überwachung) verläuft.

Und so sehr angesichts der massiven globalen Machtkonzentration und Ungleichverteilung von Vermögen linke Forderungen nach Umverteilung, Schuldenschnitten, einem Grundeinkommen und einer Reform des Steuer- und Finanzsystems zwar richtig sind, so lautet die entscheidende Frage jedoch: Wofür sollen die dadurch neu gewonnenen Möglichkeiten eingesetzt werden?

Aufhorchen sollte man zum Beispiel, wenn mittlerweile auch aus Vorstandsetagen transnationaler Konzerne ein Grundeinkommen ins Spiel gebracht wird. Zu verstehen ist dies als Reaktion auf das skizzierte Effizienzparadox mit dem Ziel, die kapitalistische (Konsum-)Maschine am Laufen zu halten. Ein düsteres Zukunftsszenario hierzu lautet: Die Mittelschicht verschwindet, und neben einer superreichen Elite und kleinen Oberschicht in hoch qualifizierten Jobs hält sich der Rest der Gesellschaft mit unqualifizierten Billigjobs und/oder einem Grundeinkommen über Wasser und vegetiert von der Unterhaltungsindustrie narkotisiert als Konsumroboter vor sich hin, siehe hierzu etwa die Studie von Karin Frick und Bettina Höchli „Die Zukunft der vernetzten Gesellschaft“, Gottlieb Duttweiler Institut 2014.

Deshalb gilt: Ein Grundeinkommen ohne Systemwandel würde das System – zumindest temporär – stabilisieren, anstatt es grundlegend zu transformieren. Bei der Idee des bedingungslosen Grundeinkommens geht es darum in erster Linie um die längst überfällige Anerkennung der Tatsache, dass durch die Arbeitskraft und Produktivität der Maschinen für alle gesorgt ist. Das Bruttoinlandsprodukt Deutschlands ist im Zeitraum von 1900 bis 1989 um das 60-Fache (!) gewachsen und hat sich seit 1991 bis heute noch einmal fast verdoppelt. Und dies bei relativ geringem Bevölkerungswachstum (1900: 56 Millionen, 1989: 62 Millionen) und einer gesunkenen durchschnittlichen Wochenarbeitszeit von 58 Stunden im Jahr 1950 auf 43 Stunden im Jahr 2002. Kurz: Wir haben es im globalen Norden mit einem gigantischen Produktivitätszuwachs zu tun, dessen Früchte jedoch höchst ungleich verteilt sind.

Diesen Zuwachs verdanken wir der wissenschaftlich-technischen Entwicklung, der Energie der fossilen Energieträger, der Externalisierung von Kosten und der globalen Arbeitsteilung und Ausbeutung. Und obwohl es Ziel einer neuen Wirtschaftsordnung sein muss, die Nutzung fossiler Energieträger, Ressourcenvernichtung und globale Ungerechtigkeit zu überwinden, ist ein Grundeinkommen primär dennoch keine Frage der Finanzierbarkeit, sondern eine Frage der Macht und des politischen Willens. So wie genug Arbeit da ist, ist auch genug Geld da.

Aus transformativ-emanzipatorischer Perspektive (versus System erhaltende Maßnahme) ist die Idee des Grundeinkommens vor allem die Idee von einer anderen Gesellschaft, die endlich anerkennt, dass Technik und Erfindergeist uns tatsächlich von einem Großteil der Plackerei „im Schweiße unseres Angesichts“ befreit haben und dass Arbeit, Technik und (die Vermehrung von) Geld kein Selbstzweck sind.

Abkehr vom globalen Wettbewerbs- und Wachstumsimperativ…

So verheißungsvoll die Möglichkeiten der sozialen Transformation durch den technologischen Wandel (auch aus sozial-ökologischer Perspektive) scheinen mögen, an einer entscheidenden Tatsache wird wohl dennoch kein Szenario einer neuen Gesellschaft vorbeikommen: Insgesamt muss es um eine Reduktion des wirtschaftlichen Materialumsatzes und Ressourcenverbrauchs gehen. In einer Kultur des „IMMER MEHR“ und „ALLES IMMER“ ist dies wiederum leider keine attraktive Botschaft. Eine zentrale – und vielleicht die schwierigste – Aufgabe ist deshalb, diese Botschaft attraktiv zu verpacken. Denn es ist schlicht Fakt: Urlaub in der Karibik, Wochenendtrips nach London, täglicher Fleischverzehr und jährlicher Kauf eines neuen Smartphones sind kein Menschenrecht. Ein solches Handeln ist – zumindest auf Basis gegenwärtiger Technologien – nicht für alle sieben Milliarden Erdenmenschen umsetzbar und vernichtet schon jetzt die Zukunftschancen gegenwärtiger und zukünftiger Generationen.

Eine neue Wirtschaftsordnung zu schaffen, die die Zerstörung der Biosphäre und eine Verschärfung der bereits existierende Kriege und Konflikte um die knapper werdenden Ressourcen eindämmen oder verhindern soll, bedeutet deshalb auch mehr als eine Umstellung auf erneuerbare Energien und eine „Dekarbonisierung“ der Wirtschaft. Denn Energie- und Materialeffizienz allein beseitigen nicht das Problem endlicher Ressourcen. Im Gegenteil: Unter dem herrschenden Wachstumszwang würde beispielsweise „maximale Energieeffizienz“, also „kostenlose“ Energie, den Ressourcenverbrauch und die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen erst recht noch befeuern und beschleunigen. Der Nachweis, dass eine absolute Entkopplung von Ressourcenverbrauch und Wirtschaftswachstum möglich ist, ist bis jetzt noch nicht erbracht. Daher ist „grünes Wachstum“ zwar prinzipiell wünschenswert und notwendig, reicht aber als alleiniges Ziel und Programm ohne grundlegenden Wandel des Wirtschaftens nicht aus.

Was heißt dies nun für mögliche politische Forderungen und Ziele? Dafür gilt es zunächst, einen weiteren Zusammenhang zu verstehen, den die herrschende Ideologie uns oft als „alternativlosen Sachzwang“ des globalen Wettbewerbs präsentiert. Denn praktisch wie sozialpsychologisch liegt hier vielleicht tatsächlich das zentrale Problem: In der aktuellen globalen, arbeitsteiligen Ökonomie nehmen die Bewohner des globalen Nordens die Gründe und Folgen wirtschaftlicher Handlungen aufgrund der zeitlichen und räumlichen Entkopplung nicht wahr, profitieren jedoch hauptsächlich von dieser Entwicklung. Ein Smartphone ist kein vom Himmel gefallener Monolith, und ein Schnitzel wächst nicht im Kühlregal. Könnten die Menschen die ökologischen Zerstörungen und sozialen Bedingungen der Smartphone-Produktion oder Massentierhaltung hingegen unmittelbar erfahren und spüren, gäbe es Coltanminen und gläserne Massenschlachtbetriebe inmitten unserer Städte, sähe unser Produktions- und Konsumverhalten wahrscheinlich anders aus.

Doch da der (deutsche) Konsument und Produzent von den Minen im Kongo, den Tierfabriken in Niedersachsen und der Abholzung der Tropenwälder bestenfalls nur aus den Medien weiß, sie jedoch nicht erlebt, verändert er sein Verhalten nicht, auch wenn es Bedingungen begründet und perpetuiert, die er ablehnt ( „Mind-Behaviour-Gap“). Auf Basis der realen Kosten der Dinge, die wir produzieren und konsumieren, wäre ein Großteil wesentlich teurer und würde in der Konsequenz deshalb weniger oder gar nicht produziert und/oder nachgefragt. Doch da die Rechnung für den Großteil dieser „externen Kosten“ im Falle der Ausbeutung und Zerstörung der Natur entweder erst in der Zukunft zu bezahlen ist oder da Herrschafts- und Gewaltstrukturen alle bereits gegenwärtig anfallenden Zerstörungskosten von Mensch und Natur wirksam unterdrücken, sind die meisten kurz- und langfristigen Folgekosten der Herstellung vieler Produkte nicht im Preis enthalten.

Ziel müsste deshalb sowohl eine Internalisierung von Kosten als auch eine Re-Regionalisierung der Wirtschaft sein, soweit das sinnvoll und möglich ist. Gerade lokale soziale Gruppen – ein Dorf, eine Stadt, eine Region oder ein Land -, sind durch die voranschreitende globale Vernetzung und die daraus resultierenden immer komplexer werdenden globalen Interdependenzen und die Macht transnationaler Konzerne ihrer Handlungsmacht zu einem Großteil bereits strukturell beraubt. Diese Handlungsfähigkeit gilt es zurück zu gewinnen und verstärkt dezentrale und regionale (Infra-)Strukturen zu etablieren. Diese könnten aus sich selbst heraus unter Beachtung der Gründe und Folgen der Herstellung produzieren und würden politische Gestaltung ermöglichen, statt dem globalen Wettbewerbsimperativ transnationaler Konzerne unterworfen zu sein. Dabei geht es letztendlich um Autonomie, Verantwortung und globale Gerechtigkeit – also gleiche Lebenschancen für alle, auch mit Blick auf zukünftige Generationen.

…in einem geeinten Europa

Eine Stärkung regionaler Wirtschaftskreisläufe und lokaler Infra- und Entscheidungsstrukturen heißt wiederum nicht, dass es für die Europäer gleichzeitig nicht auch um eine fortgesetzte Integration des Kontinents gehen muss. Ein geeintes, föderales Europa ist für alle europäischen Staaten die einzige Hoffnung, in einer multipolaren Welt mit Machtblöcken wie China, Russland und den USA überhaupt Autonomie und Souveränität bewahren zu können. In einem Raum, der kulturell und geographisch so verschieden und (noch) so reich ist wie Europa, müsste darum das dringende Ziel sein, eine gemeinsame und weitestgehend autarke Ökonomie zu schaffen, die zum Beispiel auf als toxisch anerkannte Einfuhren solche hohen Zölle erhebt, dass es in anderen Teilen der Welt zu Anpassungseffekten im Sinne ökologischer und sozialer Standards kommt.

Bedingung und Ziel einer solchen Transformation, die sowohl individuelle Freiheit wie auch politische regionale, nationale und europäische Autonomie etablieren und bewahren will, müsste außerdem eine Demokratisierung von Unternehmen und Banken sein, also eine grundlegende Veränderung von Eigentums- und Entscheidungsstrukturen in Unternehmen („Stakeholder Value“ statt „Shareholder Value“). Übergeordnetes Ziel müsste dabei – wie in der Gemeinwohlökonomie von Christian Felber ausführlich durchdacht und formuliert – eine Verpflichtung von Staat und Wirtschaft auf das Gemeinwohl sein. In dieser ist das entscheidende Kriterium für wirtschaftlichen Erfolg nicht mehr die Finanzbilanz, sondern die Gemeinwohlbilanz eines Unternehmens.

Reform der Demokratie

Ebenso dringend erforderlich und wohl zentraler Ausgangspunkt einer politischen Gegenbewegung zum Status Quo ist eine Debatte darüber, wie das politische System selbst demokratisiert werden kann. Der belgische Historiker David Van Reybrouck hat hierzu im Jahr 2016 ein lesenswertes Buch vorgelegt mit dem Titel „Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist“. Van Reybrouck erinnert uns darin an die völlig in Vergessenheit geratene Tatsache, dass in den Ursprüngen der Demokratie in Athen – und später in den Stadtrepubliken von Venedig und Florenz – das Losverfahren ein entscheidendes Mittel zur Besetzung politischer Ämter war.

Anstelle einer nur durch Wahlen bestimmten Legislative plädiert Van Reybrouck für ein „birepräsentatives System“, in dem sowohl gewählte Volksvertreter als auch geloste Volksvertreter die Legislative bilden. Die ausgelosten Volksvertreter müssten sich dann nicht in „parteipolitischem Gezerre, Wahlspielchen, Medienschlachten und legislativem Gefeilsche verlieren“, sondern könnten sich „ausschließlich dem Gemeinwohl widmen.“ Van Reybrouck schreibt:

„Der Gebrauch des Loses ist kein Wundermittel, kein perfektes Rezept, genauso wenig wie Wahlen es je waren, aber es kann eine Reihe von Übeln des heutigen Systems beseitigen. Auslosung ist nicht irrational, sie ist arational: ein bewusst neutrales Verfahren, mit dem politische Chancen gerecht verteilt werden und Unfrieden vermieden wird. Das Risiko von Korruption wird kleiner, das Wahlfieber sinkt, die Aufmerksamkeit für das Gemeinwohl nimmt zu. Ausgeloste Bürger haben vielleicht nicht die Expertise von Berufspolitikern, aber sie haben etwas anderes: Freiheit. Sie brauchen schließlich nicht gewählt oder wiedergewählt zu werden. (…) Gewählte Bürger (unsere Politiker) werden dann nicht nur von kommerziellen und sozialen Medien gehetzt, sondern wissen sich durch ein zweites Gremium flankiert, für das Wahlfieber und Einschaltquoten vollkommen irrelevant sind, (…) ein Gremium von Bürgern, mit denen man buchstäblich reden kann – nicht weil sie besser wären als der Rest, sondern weil die Umstände das Beste aus ihnen herausholen.“

Praktische Experimente hierzu waren äußerst erfolgreich, beispielsweise in Kanada, Island und Irland. Van Reybrouck liefert außerdem einen gelungenen Überblick zu den detaillierten Konzepten des amerikanischen Forschers Terril Bouricius und des deutschen Politikwissenschaftlers Hubertus Buchstein.

Modelle direkter Demokratie und Resonanz

Eine Reform der Demokratie, die den Bürgern Verantwortung für politische Prozesse und Entscheidungen überträgt – über Modelle direkter Demokratie wäre dabei ebenfalls zu diskutieren – , würde in jedem Fall das gesellschaftliche Klima gewaltig beleben. Dann könnten sich die individualisierten Subjekte (wieder) als Teil einer Gemeinschaft begreifen und durch die Erfahrung der Wirksamkeit und Verantwortung ihres Seins als zoon politicon sich als solches überhaupt erst wieder wahrnehmen und spüren. Wie Hartmut Rosa in seinem jüngsten Werk ausführlich analysiert, ginge es dabei um eine Verschiebung im Spannungsfeld von Entfremdung und Resonanz: hin zu einer Wirtschaftsweise und Demokratie, die Kooperation, Teilhabe und Solidarität statt Wettbewerb, Ausgrenzung und Angst fördert, die Selbstwirksamkeit und Sinn erfahrbar macht, statt Ohnmacht und Entfremdung zu erzeugen. Das wäre auch eine wirkliche Antwort auf die zunehmende Spaltung der Gesellschaft und die rechten Profiteure von Ängsten und Unzufriedenheit.

Grundsätzlich gilt es, das weit verbreitete Narrativ zu durchbrechen, dass die Analyse der destruktiven Folgen unserer Wirtschaftsweise zwar richtig sei, es aber keine „realistischen“ Alternativen gäbe. „There is no alternative“ ist eine vollkommen apolitische, sich selbst entmündigende Haltung, die ein System verteidigt und perpetuiert, das nicht zukunftsfähig ist. Alternative Gesellschaftsentwürfe sind deshalb dringend notwendig – und sie existieren! Aufgabe müsste es deshalb sein, die Diskurse zu einer Postwachstumsökonomie oder Gemeinwohlökonomie endlich aus den Nischen heraus ins Zentrum der Debatte zu bringen. Oder anders gesagt: Es ginge um die Rückeroberung eines rein auf Technik, Ökonomie und ihre scheinbaren Sachzwänge fixierten gesellschaftlichen Diskurses hin zu der eigentlichen politischen Kernfrage: Was ist ein gutes Leben?

Große Handlungsspielräume

Dem medialen Dauerfeuer von Schreckensmeldungen gilt es Geschichten entgegenzusetzen, die Mut machen, die von der praktischen Machbarkeit eines anderen Wirtschaftens und einer anderen Kultur und Gesellschaft erzählen, die anregen und inspirieren. Hingegen bewirkt die Dauerbeschallung mit schlechten Nachrichten, dass zu viele resignieren, gelähmt mit den Achseln zucken und in der sich selbst entmündigenden fatalistischen Haltung verharren, die rhetorisch gefragt lautet: „Was kann man schon tun?“ (Nichts.) Das Gegenteil ist richtig: Wohl noch keine Generation hatte jemals solch große Handlungsspielräume wie jene in den (noch) freiheitlichen Rechtsstaaten des globalen Nordens. Wer immer nur die Schuld auf das „System“ und die „Sachzwänge“ des „globalen Wettbewerbs“ schiebt, entledigt sich schlicht der Verantwortung für das eigene Handeln.

Projekte und Initiativen, die ihre Verantwortung ernst nehmen und sich für eine auf Gemeinwohl, Resilienz, Suffizienz und Subsistenz zielende Neuordnung des Wirtschaftens einsetzen, gibt es bereits viele. Auch in Wissenschaft und Technik zeigen unzählige Beispiele, dass schon heute eine ressourcenschonende, gerechtere Welt möglich wäre. Dass diese Alternativen nicht in wirksamem Maßstab Wirklichkeit sind, hat mit politischer und ökonomischer Macht zu tun. Eine echte Demokratisierung von Staat und Wirtschaft ist deshalb Grundbedingung für eine Politik, die sich tatsächlich am Gemeinwohl und nicht an Kapitalrenditen im globalen Profitmaximierungswettbewerb orientiert.

Es ist Zeit (liebe SPD und BRD) für eine zweite Aufklärung. Es ist Zeit, Ideen wirksam werden zu lassen, die über eine Weltsicht hinausgehen, die für den Menschen vor seiner Verrottung nichts weiter vorsieht, als möglichst ausreichend Apps downzuloaden, Mobilfunkverträge abzuschließen, Kartoffelchips zu konsumieren und Geländewagen zu fahren – der Mensch als Abwrackprämie des Kapitalismus. Noch ist Europa neben den USA die größte Wirtschaftsmacht der Welt. Noch leben wir in Europa in weitestgehend freiheitlichen Rechtsstaaten und in nie gekanntem materiellen Wohlstand. Wenn nicht wir jetzt, wer soll wann dann einen Schritt in eine freiheitliche, enkeltaugliche, gerechtere, sozial-ökologische Moderne machen?

Dieser Text erschien zuerst bei Rubikon. Er ist unter einer Creative Commons-Lizenz (4.0 International: Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen) lizensiert. Unter Einhaltung der Lizenzbedingungen dürfen Sie ihn verbreiten und vervielfältigen.

Philipp von Becker lebt als freier Autor und Filmemacher in Berlin. Sein Buch "Der neue Glaube an die Unsterblichkeit. Transhumanismus, Biotechnik und digitaler Kapitalismus" befasst sich mit den technischen Silicon Valley-Utopien und dem gesellschaftlich-ökonomischen Wandel durch die Digitalisierung. In seinem jüngsten Dokumentarfilm "Fukushima und die Mopsfledermaus" wirft er einen (wachstums-)kritischen Blick auf die Energiewende in Deutschland.

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