Irgendwo hier muss sie doch sein, diese vermaledeite Grenze, die gerade Schlagzeilen macht. Aber wo genau? Am linken oder am rechten Rand der schmalen Straße, die sich durch die sanften Hügel zwischen Monaghan und Middletown schlängelt? Nirgendwo ein Strich auf dem Asphalt oder ein Hoheitszeichen. Tommy McKearney denkt eine Weile nach, dann erinnert er sich: „Sie kommt von dort übers Feld, biegt auf die Straße ein, wechselt dann die Seite, zieht sich den anderen Rand entlang und verschwindet drüben zwischen den Hecken.“ Etwa so müsse sie verlaufen, sagt das frühere Mitglied der Irisch-Republikanischen Armee (IRA). Fremde, die hier entlangfahren, merken nicht, dass sie von einem Land ins andere wechseln; aber Fremde verirren sich nur selten hierher. McKearney dagegen hat nach 1970 öfters den Weg genommen, um unbemerkt von Monaghan (in der Irischen Republik) Richtung Armagh und weiter in die nordirische Grafschaft Tyrone zu kommen, wo er vorzugsweise operierte.
Gewehre und Pistolen
„Die Briten wussten natürlich, dass wir hier unterwegs waren“, erzählt McKearney, der bereits in jungen Jahren IRA-Kommandant von South Tyrone war. Aber was hätten sie dagegen tun können? Das Gelände ist unübersichtlich: zahllose Hecken, Steinmauern, Zäune, eine Herde Rinder oder Schafe zwischen den Bäumen. „Sie haben einen Krater in die Straße gesprengt, doch zwei Tage später war ein provisorischer Umweg über die Wiese da drüben planiert.“ Von wem? „Von uns, den Bauern und den Schmugglern.“ McKearney wechselte in seiner aktiven Zeit als IRA-Kämpfer – er wurde 1977 gefasst und saß 16 Jahre in Haft – ständig über die Grenze, häufig im Westen bei Knockatallon, wo ein Hochmoor Deckung bot. „Wir nahmen selten den gleichen Weg, das war viel zu gefährlich.“
Und diese Grenze soll nun mit dem Brexit zur EU-Außengrenze werden, im Falle eines ungeregelten Ausstiegs mit Personenkontrollen und Zollstationen? Ein Ding der Unmöglichkeit. Das erkannten nordirische Polizisten schneller als britische Politiker. Schließlich hatten britische Militärs während der langen Jahre des bewaffneten Konflikts ihre Erfahrungen im „Banditenland“ gemacht, dem Grenzgebiet von South Armagh weiter im Osten. Damals hat man die Grenze mit Wachtürmen, Stacheldraht, Infrarotkameras und schwer bewaffneten Patrouillen zu kontrollieren versucht. Was nichts daran änderte, dass sich die Demarkationslinie in den 1980ern, als der Krieg in vollem Gange war, problemlos passieren ließ. Zwölfmal in zweieinhalb Stunden sei ihm das in seinem alten Toyota möglich gewesen, erzählt ein Lokalpolitiker der irisch-republikanischen Partei Sinn Féin vergnügt. Die „Besatzungsarmee“ habe sich im „Banditenland“ meist nur per Helikopter bewegt, alles andere sei zu riskant gewesen
Eine befestigte Grenze würde niemals akzeptiert, schon gar nicht von den Farmern, die ihr Vieh beidseits der imaginären Linie weiden lassen und staatliche Vorschriften nicht mögen. Das wissen alle nordirischen Politiker, das weiß auch die Regierung in Dublin. Und die in London?
Seit der irischen Teilung vor gut hundert Jahren verläuft die 499 Kilometer lange Grenze im Zickzack um die sechs nordirischen Grafschaften. 1921 musste sich die britische Kolonialmacht nach einem jahrelangen, von der IRA geführten Unabhängigkeitskampf aus dem Süden der irischen Insel zurückziehen, behielt aber den vorwiegend von protestantischen Siedlern bevölkerten Nordosten. Während in der neuen Republik im Süden eine von der katholischen Kirche dominierte, agrarisch-konservative Gesellschaft entstand, hatten im Nordosten probritische Unionisten das Sagen: Sie verteidigten mit dem Notstand, manipulierten Wahlkreisen und eklatanter Diskrimierung der irisch-nationalen, vorwiegend katholischen Minderheit den Verbund mit Britannien. Das änderte sich 1968, als Studenten der Queen’s University in Belfast die Gruppe People’s Democracy gründeten, aus der eine breite Bürgerbewegung hervorging. Deren Märsche und Sit-ins stießen sofort auf harsche Reaktionen der nordirischen Staatsgewalt und der Loyalisten, der bewaffneten Gruppen aus der unionistischen Arbeiterschaft. Vor allem die steckten Ende August 1969 in Westbelfast ganze Häuserzeilen in Brand, in denen nationalistische Lohnabhängige lebten. An die Flucht, die daraufhin in Richtung Süden einsetzte, kann sich Francie McGuigan noch gut erinnern. Die Verzweiflung habe Tausende ergriffen: „Wer verteidigt uns? Das war die entscheidende Frage damals“, sagt der heute 70-Jährige. Also bereiste er die ganze Insel, sammelte alte Gewehre und Pistolen ein, die man nach dem Unabhängigkeitskrieg (1919 – 1921) vergraben hatte, und richtete in der Republik ein Waffendepot ein, das die „Verteidiger der nationalistischen Community“ versorgte. Viele Freiwillige formierten sich bald zur IRA, die den Kampf gegen die Besatzungsmacht aufnahm und den nordirisch-unionistischen Staat zerschlagen wollte. Erst nach 30 Jahren sollte es mit dem Karfreitagsabkommen 1998 gelingen, dem Frieden wieder eine wirkliche Chance einzuräumen.
Einen Rückfall in alte Zeiten dürfe es nicht geben, das Karfreitagsabkommen müsse unbedingt Bestand haben, heißt es in Belfast wie in Dublin. Deshalb pochte die EU in den Brexit-Verhandlungen stets auf die Übergangsregelung des Backstop. Danach soll bis zum Abschluss eines neuen Handelsvertrags zwischen dem Vereinten Königreich und der EU das ganze Land in der Zollunion, Nordirland zusätzlich im Binnenmarkt bleiben. Doch können viele konservative Politiker in London nicht akzeptieren, auf absehbare Zeit weiter den EU-Handelsregeln unterworfen zu sein, während für Nordirland zusätzlich die EU-Personenfreizügigkeit gilt, wie sie im Karfreitagsvertrag festgelegt wurde.
Der Regierung in Dublin geht es indes nicht nur um den Erhalt des Abkommens von 1998. Sie fürchtet wirtschaftliche Brexit-Folgen, die erheblich sein könnten, wie der Ökonom Michael Taft von der gesamtirischen Gewerkschaft Siptu erläutert. „Wir müssen uns auf eine Ausnahmesituation einstellen, dabei ist die Krise, die es mit dem Finanzcrash 2009 gab, noch lange nicht überwunden.“ Die Republik Irland, die zuletzt ein Wirtschaftswachstum von sechs Prozent verbucht hat, werde in eine Rezession schlittern. „Besonders die grenznahen Regionen bekämen einen harten Brexit zu spüren“, glaubt Taft. „Rund ein Viertel aller Arbeitsplätze in den ohnehin strukturschwachen irischen Grafschaften Monaghan und Cavan hängen von grenzüberschreitendem Handel und Tourismus ab.“ Sollte es eine „harte Grenze“ geben, würde das allein im Fremdenverkehr in wenigen Monaten 10.000 Arbeitsplätze kosten. Bedroht ist auch der Agrarsektor auf beiden Seiten, denn gut ein Drittel der in Nordirland erzeugten Milch wird im Süden zu Butter und Käse verarbeitet. Etwa 400.000 Schafe werden jährlich aus Nordirland in irische Schlachthöfe gebracht, während wöchentlich 200 Tonnen Pilze aus der Republik über die Grenze nach Norden wechseln. Zwar habe die irische Regierung aus den Fehlern gelernt, die nach 2009 gemacht wurden, so Taft, und sei nicht mehr auf einen ausgeglichenen Haushalt fixiert, „aber erholt hat sich das Land noch lange nicht“. 40 Prozent der irischen Bevölkerung lebten an oder unter der Armutsgrenze.
Die in Nordirland starke rechtsklerikale Democratic Unionist Party (DUP) und ehemalige loyalistische Paramilitärs lehnen den Backstop kategorisch ab. Mit ihm würde die Grenze de facto in die Irische See zwischen Nordirland und Britannien verlegt. „Wenn der Backstop zeitlich begrenzt wäre, sagen wir auf fünf Jahre, würden wir vielleicht mit uns reden lassen“, sagen Jim Wilson und Rab Williamson in einem Belfaster Gemeindezentrum. Vor ihrem Büro überspannen Wimpelreihen mit kleinen Union Jacks die Straße, und an den Häusern rühmen Wandmalereien Heldentaten der Ulster Volunteer Force (UVF) und der Red-Hand-Kommandos, die jahrzehntelang zur Krone standen und Katholiken massakrierten. In den von hohen Mauern durchzogenen Belfaster Arbeiterquartieren weiß man immer, woran man ist.
Ein Gespenst geistert herum
Jim Wilson, der wegen seiner UVF-Mitgliedschaft längere Zeit in Haft saß, sagt unumwunden: „Der Backstop bindet uns an Irland, da wäre ja ein Verbleib in der EU noch besser.“ Damit werde man an die Republik im Süden ausgeliefert, sekundiert Williamson, der wie Wilson im Unterschied zur Mehrheit der nordirischen Bevölkerung für den Brexit votiert hat. Verbleibe Nordirland nicht trotzdem im Königreich? „Nur der Form nach“, lautet die Antwort, „faktisch wären wir Protestanten im eigenen Land Bürger zweiter Klasse.“ Man fühlt sich von den Konservativen in London verraten, denen – Umfragen zufolge – der Brexit wichtiger ist als Nordirland. „Diesen Politikern haben wir nie getraut, Theresa May nicht, schon gar nicht Boris Johnson. Wir können uns nur auf uns selbst verlassen“, sind sich Wilson und Williamson einig. „Von uns will niemand zurück in den Krieg – es sei denn, ein mögliches nordirisches Referendum würde knapp zugunsten einer Vereinigung mit der Republik ausgehen. Das nehmen wir nicht hin.“ Die Waffen dafür haben sie. Wie alle Paramilitärs händigten auch die Loyalisten nach dem Karfreitagabkommen nur einen Teil ihres Arsenals aus. Das Gespenst des bewaffneten Kampfes geistert herum.
„Eine Rückkehr in die alte Zeit ist ausgeschlossen“, meint der Ex-IRA-Mann Tommy McKearney. „Das würde die Bevölkerung nie akzeptieren, ohnehin sind Gruppen wie die New IRA von Polizei- und Geheimdienstspitzeln durchsetzt.“ Ein Wiederaufleben des bewaffneten Konflikts werde nur von jenen an die Wand gemalt, „die sich davon einen argumentativen Vorteil versprechen“, seien es die EU, die Regierung in London oder nordirische Parteien.
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