Deutschland, kein Raum für Denker

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Wo sind sie bloß, die jungen deutschen Intellektuellen? Man hört nicht viel von ihnen in letzter Zeit, trotz Finanzkrise, empörter Jugend in Kontinentaleuropa, Plünderungen in England, Revolutionen in der arabischen Welt. Neue Krisen werden kommen, immer wieder, wir werden die Durchblick schaffenden Stimmen der Intellektuellen weiterhin brauchen. Aber das Land der Dichter und Denker macht es dem denkenden Nachwuchs gerade sehr schwer.

Ihr Problem beginnt heute als Existenzproblem. Welchen Platz räumen wir den nachwachsenden Intellektuellen denn ein? Etwa einen Arbeitsplatz? Die Zeit, als Hochschulabsolventen und andere Hochqualifizierte noch so gut wie sicher mit einem komfortabel dotierten, langfristigen Arbeitsvertrag rechnen konnten, ist vorbei. Einen Stuhl, von dem aus es sich in Ruhe denken lässt, weil er nicht wackelt, gibt es für immer weniger von ihnen. Viele Hochqualifizierte landen heute in atypischen Beschäftigungsverhältnissen, in Teilzeitarbeit, befristeter Anstellung, als Jobnomaden, andere machen sich gleich als Ein-Personen-Unternehmen selbständig. Der taxifahrende Germanist ist längst nicht mehr das einzige originelle Arbeitsmodell für Akademiker, erst recht kein Scheiternsmodell mehr. Die Juristin mit Lifestyle-Laden oder der Geo-Ingenieur, der projektweise auf Baustellen und parallel als Theaterbeleuchter arbeitet, sind neben tausend anderen Arten, Geld zu verdienen, hinzugekommen. Gerade die Selbständigen sind oft sehr zufrieden mit ihrer Erwerbsform, bedeutet sie doch ein Maß an Autonomie in der Arbeitsorganisation und der Bestimmung der Arbeitsinhalte, das sie als Weisungsempfänger in einem Unternehmen oder an einer Universität lange suchen müßten. Mit Recht begreifen sie ihren volatilen Status als Chance. Nur: Bleibt neben der Selbstverwirklichung, Selbstorganisation und möglicherweise Selbstausbeutung noch Raum, ein öffentlichkeitsrelevanter Intellektueller zu sein? Schwerlich. Wenn, dann mit viel Enthusiasmus, der sehr wahrscheinlich mit steigendem Existenzrisiko bezahlt wird, weil kein Geld in die Kasse kommt.

In diesem Sinne ist die erste Gefahr für die Intellektualität nicht die Alterung, sondern der Arbeitsmarkt, genauer gesagt: dessen rapider Wandel, den wir augenblicklich bezeugen können. Zeitungen haben einen guten Teil ihrer Journalisten entlassen, zu freien Mitarbeitern transformiert oder durch Volontäre ersetzt; an den Hochschulen sind neulich die ersten promovierten Ein-Euro-Jobber aufgetaucht; die ehemaligen Hauptlieferanten von Intellektualität, die Geisteswissenschaften, geraten in den Generalverdacht mangelnder Rentabilität und ducken sich lieber weg; Verlage werden unter zunehmendem ökonomischen Druck immer unbeweglicher, verschlanken Personal und Programm auf das wirtschaftlich Notwendige. Die neuen atypischen und selbständigen Beschäftigungen, die sich die Hochqualifizierten zum Teil selbst erschaffen, sind in der öffentlichen Wahrnehmung noch gar nicht angekommen. Die Politik ignoriert sie, blockiert sie sogar durch ein belastendes und intransparentes Abgabensystem, statt Steine aus dem Weg zu räumen. Der Arbeitsmarkt, kurz gesagt, stellt den Platz für zukünftige Intellektuelle mithin mehr und mehr zu, bis sie sich irgendwann nicht mehr rühren können.

Selbst wenn die Chancen für Intellektuellennachwuchs größer wären beziehungsweise dieser seine Möglichkeiten besser nutzen würde: Woher soll er in Zukunft kommen, der Nachwuchs, der seine Möglichkeiten auch auszufüllen wüsste? Der Umbau der Universitäten, so traurig das ist, entwickelt sich immer weiter zur zweiten Gefahr für die Intellektualität. Intellektualität heißt, neben vielen anderen Fähigkeiten, auch: Antennen für das Wesentliche seiner Zeit zu haben; Themen zu erahnen, noch bevor die Medien sie zu Aktualitäten machen; Zusammenhänge zu erkennen; Gründe und Untergründe zu sehen; Perspektiven zu wechseln. Um sich solche Fähigkeiten anzueignen, bedarf es vor allem zweier Dinge: Zeit und Offenheit. Beides kann das Hochschulstudium der Bologna-Ära nicht liefern. Im Gegenteil.

Zeit haben Bachelorstudierende nicht mehr. Sie müssen Punkte machen. Die erste Frage in jedem Seminar ist heute: „Wie viele Creditpoints bekomme ich dafür?“ Wer seinen Laufzettel nicht innerhalb von drei Jahren voll hat, muss um seinen Prüfungserfolg und seinen späteren Arbeitsplatz zittern. Existentieller Druck ersetzt substanzielles Interesse, denn um Inhalte kann es nicht mehr gehen. Bulimie-Learning füllt Tage und Semester: schnell gelernt und zur Klausur noch schneller wieder von sich gegeben, damit Platz ist für den nächsten Stoff. Ende nach sechs Semestern ohne einen Blick in andere Fächer, ohne Innehalten, ohne disziplinäre Selbstreflexion, von Auslandssemestern oder außerfachlicher Berufserfahrung gar nicht zu reden. Stattdessen Engführung und Beschleunigung.

Die Offenheit für andere als die aktuell notwendigen Inhalte, für den Perspektivenwechsel, für den Blick auf Zusammenhänge, bleibt völlig auf der Strecke. Das Bachelorverfahren verstärkt hier nur eine Schwäche, an der die Universitäten schon lange kranken: Trotz aller Lippenbekenntnisse zur „Interdisziplinarität“ hat es für eine echte, die Grenzen der Fachbereiche überwindende, im besten Sinne transdisziplinäre Forschung und Lehre nur ganz selten einmal gereicht. Man kapriziert sich nach wie vor lieber auf Spezialwissen, statt sich den Unwägbarkeiten auszusetzen, die ein Schritt auf das Grundstück des Nachbarn – geschweige denn auf das angrenzende freie Feld – bedeuten würden. Gelehrtheit mag man so erreichen, für Intellektualität bräuchte es dagegen mehr Mut.

Den Mut zum Intellektuellen hätten viele von denen, die auch das Zeug dazu haben. Wer kann es ihnen aber verdenken, wenn sie andere Wege einschlagen? Die Universitäten sperren die nötige Bildung zunehmend aus und begnügen sich mit Verengung und Irrelevanz. Die Fähigkeiten, die eine Intellektuelle oder ein Intellektueller braucht, werden rar in den Curricula und studentischen Lebensläufen. Ebenso auf dem Arbeitsmarkt, der in Zukunft wahrscheinlich ein noch schlüpfrigeres Pflaster für Denker werden wird. Wo also wäre denn der Ort, an dem Denker ihre Intellektualität entwickeln könnten? All die Fähigkeiten, die ihren unverstellten Raum brauchen, Raum, um sie sich anzueignen, Raum, um sie ins Leben zu setzen. Noch gibt es ihn, aber er schrumpft.

Ach ja, die vielbeklagten Denker! Denken würden sie ja. Fragt sich nur: wo?

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Geschrieben von

Peter Plöger

Wir brauchen nicht mehr Glück, wir brauchen mehr Sinn.

Peter Plöger

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