Urbane Bricoleure – Nicht-Orte und Poesie

Graffiti Ein Deutungsversuch und kurzer historischer Abriss des Graffti-Stylewritings

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Eine Graffiti-Geschichtsschreibung könnte auch im alten Ägypten, antiken Griechenland oder bei den Römern in Pompeji beginnen. Das Wort Graffiti ist jedenfalls der italienische Plural von Graffito und leitet sich etymologisch aus dem griechischen Wort für schreiben ab. Das Bedürfnis eine Spur zu hinterlassen, indem man etwas irgendwo hinein kratzt oder schreibt, gab es jedenfalls schon immer. Auch in den Arrestzellen der Universitäten – den Karzern – lassen sich verschiedene Inschriften finden. Etwa die Inschrift Han XID, die einst Otto von Bismarck während seines Arrests in den Göttinger Karzer ritzte. Das Han stand in diesem Fall für eine Burschenschaft. Aber mit Burschenschaften hat das Phänomen um das dieser Text gehen soll, das Stylewriting-Graffiti, überhaupt nichts am Hut, dann schon eher mit den Griechen, beziehungsweise einem griechischstämmigen Botenjungen aus Manhattan, New York.

Sein Vorname war Dimitros und er hatte ein Faible dafür entwickelt sein Signalkürzel Taki 183, überall hinzukritzeln. Das Signalkürzel Taki 183 war ein Pseudonym und setzte sich aus der Verniedlichung seines Vornamens Dimitros und einer Zahlenfolge, stellvertretend für die Straße in der er lebte, die 183rd Street, zusammen. Da Taki als Botenjunge ständig im Big Apple unterwegs war, nutzte er seine Botengänge ebenso dafür, seine Signalkürzel überall anzubringen. Ob an U-Bahn- Stationen, Laternen oder Bänken – er kritzelte es überall hin. So kam es, dass ein Journalist der New York Times im Jahre 1971 auf das auftretende Phänomen aufmerksam wurde. Der Journalist sprach mit dem damals 17-Jährigen Taki, der erklärte, dass es sich beim Kritzeln um etwas handele, das er einfach machen müsse. Zwar waren als der besagte Artikel in der New York Times erschien, bereits andere Signalkürzel auf den Straßen New Yorks vertreten, doch Taki 183 war der mit Abstand am weitesten verbreitetste. Die Signalkürzel werden heute Tags genannt und Taki 183 wird als Pionier des Graffiti Stylewritings gehandelt.

Nachdem der Artikel erschien, kam der Stein richtig ins Rollen. Eine Kettenreaktion wurde ausgelöst. Unter den Jugendlichen avancierte die Praxis des Taggens zum Wettstreit. Der Leitgedanke, dass das Signalkürzel möglichst häufig im Stadtbild auftreten solle, wurde bald darum erweitert, ein möglichst schönes, ausgeklügeltes und einzigartiges Tag zu haben. Und dann dauerte es nicht lange bis die jungen Akteure ein Werkzeug entdeckten, dass bezüglich der Deckkraft wesentlich effizienter war, als die zuvor verwendeten Filzstifte und Permanent-Marker – die Sprühdose. Dem Protagonisten Superkool 223 wird es zugeschrieben, als erster eine U-Bahn von außen bemalt zu haben. Der Vorteil daran war, dass eine fahrende Bahn überall gesehen werden konnte und im gewissen Sinne eine mobile Leinwand darstellte. Innerhalb der weltweiten Graffiti- Szene gilt es bis heute als Königsdisziplin Züge zu besprühen.

Dass das Phänomen Graffiti in New York entstanden ist und die Protagonisten einer ethnischen Minderheit angehörten, lässt sich mit der Veränderung der Lebensbedingungen der Akteure erklären. Die USA bekamen als erste Nation den Transformationsprozess von einer industriellen zu einer postindustriellen Gesellschaft zu spüren. All dies führte dazu, dass große industrielle Ballungsräume einen wirtschaftlichen Niedergang erlebten, wodurch das Budget für Bildung und Ausbildung stark gekürzt wurde, was wiederum Jugendarbeitslosigkeit und Kriminalität hervorbrachte. Diejenigen die am stärksten von dieser Umwälzung betroffen waren, waren die ethnischen Minderheiten: die Hispanics und die Blacks. Allgemein wird Hip-Hop als ein genuin urbanes Phänomen verstanden, da die Jugendlichen, damals in New York, eine kulturelle Praxis entwickelten die die Schwierigkeiten ihrer Lebensumstände widerspiegelte. Graffiti gilt als Teildisziplin der Hip-Hop-Kultur, obgleich diverse Quellen belegen, dass es Graffiti bereits vor der Hip-Hop-Rahmung gab, gibt es zweifelsohne eine enge Verbindung zum Hip-Hop. Im gewissen Sinne stellte Hip-Hop eine aktionistische Gegenmaßnahme zur Drogenwelt dar. Beispielsweise trugen Breakdancer Ski- Brillen, um zu signalisieren, dass sie sich gegen Schnee schützen, wobei sie mit Schnee die Droge Kokain meinten. Dies mag insofern verwunderlich erscheinen, da heutzutage eine Vielzahl vonRap-Texten mit drogen-verherrlichenden Inhalten aufgeladen ist. Dieses Phänomen ist allerdings auf den Gangsta-Rap zurückzuführen, der den Ursprung in Los Angeles zum Ende der 1980er Jahre hat und sich anschließend weltweit ausbreitete. Ebenso global ausgebreitet hat sich allerdings das Graffiti, beziehungsweise das Stylewriting. Nach Deutschland wurde es durch die Filme Wild Style und Beatstreet importiert. Wild Style erschien 1983 und handelt davon, wie eine weiße fiktive Journalistin, stellvertretend für das Establishment, in die afroamerikanisch geprägte Hip-Hop- Kultur eindringt; wodurch die eigentlich unkommerzielle Kultur der Bronx ausgebeutet wird, da die Kunstszene samt Galeristen Wind von dem besagten Phänomen bekommen. Doch – das Entscheidende – der Film gibt einen Einblick in die Lebenswelten der Bronx, in der afroamerikanische Jugendliche mit Hip-Hop eine neue Ausdrucksweise gefunden haben. Interessant erscheint ebenfalls, dass Beat Street auch in der DDR ausgestrahlt wurde, weshalb auf beiden Seiten des geteilten Deutschlands eine Bewegung entstand: Der amerikanische Spielfilm konnte in der DDR aufgrund der Tatsache gezeigt werden, dass einerseits unterdrückte schwarze Jugendliche auf den kapitalistischen Straßen Amerikas sympathisch dargestellt wurden und andererseits, weil der Film von Harry Belafonte coproduziert wurde und dieser sozialistische Ideen vertrat. Als Parallele der ersten deutschen Graffiti-Generation und der, der USA, lassen sich die jeweiligen Migrationshintergründe der Aktivisten anführen: Während die erste Generation der Graffiti-Sprüher in den USA mehrheitlich afroamerikanischer Herkunft war, hatten in Deutschland viele Protagonisten einen türkischen oder kroatischen Migrationshintergrund. An dieser Stelle kann man beispielsweise auf den Aktivisten Odem verweisen. Er galt Anfang der 1990er Jahre als der bekannteste Sprüher Berlins und hatte einen kroatischen Migrationshintergrund. Insgesamt betrachtet, war es in den Anfangsjahren zwar nicht so, dass alle Aktivisten der Hip-Hop-Szene einen Migrationshintergrund hatten, doch Migranten waren in einer nicht zu unterschätzenden Zahl vorhanden, im Gegensatz zu anderen Jugendsubkulturen wie Punk oder Hardcore. Doch unabhängig vom Migrationshintergrund traf die Ästhetik und Formsprache von Graffiti im gewissen Sinne den Nerv von Jugendlichen. Dies wird deutlich sofern man den Blick auf diverse Streetwear-Labels richtet, die bis heute, die Formsprache von Graffiti aufgreifen. Ebenso könnte man eine Vielzahl von Musikvideoclips aufzählen. Doch seit dem die Graffiti im öffentlichen Raum auftreten, sorgen sie für Furore – häufig werden sie verachtet und als Vandalismus klassifiziert, ein anderes mal werden sie – sofern der Betrachter meine, dass es gut gemacht sei – gelobt und von illegalen Handlungen wie Gewalttaten abgegrenzt.
Schleierhaft bleiben vielen Betrachtern die Motivationen der Graffiti-Akteure, vor allem dann, wenn sie sich vergegenwärtigen, dass das Strafmaß keineswegs milde ist. Beispielsweise gibt es eine Sonderkommission, die es sich auf die Fahne geschrieben hat, die Identitäten der Sprüher Moses und Taps zu ermitteln, über deren Projekt 1000 Züge in 1000 Tagen eigens ein Bildband erschienen ist; sie gelten als internationale Topsprüher, niemand weiß, wie viele sich eigentlich hinter den Namen verbergen. Doch sofern man die Protagonisten selbst befragt, erklären sie, dass es ihnen um „fame“ ginge, darum das Pseudonym möglichst häufig im Stadtbild auftreten zu lassen – ähnlich wie es einst der griechischstämmige Botenjunge Taki 183 formulierte. Bei intensiverer Betrachtung lassen sich allerdings andere Beweggründe erkennen. Sofern man von Jugendsubkulturen spricht – als solche ließe sich auch die Graffiti-Kultur auffassen –, kommt man nicht umhin auf den Begriff Bricolage zu verweisen. Eigentlich geht das Wort Bricolage auf Claude Lévi-Strauss zurück und bedeutet die nicht vordefinierte Reorganisation von unmittelbar zur Verfügung stehenden Zeichen. Lévi-Strauss erklärte damit, dass sich das Denken und Handeln von Naturvölkern nicht von den westlichen Kulturen unterscheide. Etwas später griff allerdings Dick Hebidge von den Cultural Studies den Begriff in einem anderen Kontext auf, um die damals neu auftretende Punk-Subkultur zu deuten. Bei ihm erscheinen die Punks als Bricoleure, in dem sie – um das berühmteste Beispiel zu nennen – eine Sicherheitsnadel zu einem modischen Accessoire umfunktionierten und sie durch Jacken oder den Körper bohrten. Entscheidend war allerdings bei Hebidge, dass er dem Umdeutungsprozess etwas Aufrührerisches und Subversives zuschrieb. Zur Untermauerung seiner These griff er unter anderem auf den poststrukturalisten Ronald Barthes und den Semiotiker
Umberto Eco zurück. Er folgerte, dass es einen Kampf zwischen der Stammkultur, beziehungsweise der Hegemonie und den Subkulturakteuren gäbe. Dieser Machtkampf würde um die Deutungshoheit von Zeichen handeln – und die aus dem Kontext gerissene Sicherheitsnadel der Punks hätte das Gefüge des Zusammenlebens auf spektakuläre Art und Weise in Frage gestellt. Wenngleich diese Deutung auf den ersten Blick etwas abstrakt erscheinen mag, unzweifelhaft ist es so, dass sämtliche Jugendkulturen Bricolage-Techniken verwenden: Genau genommen sind sie die Meister dieses Metiers. Bezieht man den Bricolage-Effekt auf Graffiti, ergäbe sich folgendes: Nehmen wir das Beispiel eines Zuges, der Königsdisziplin des Graffiti. Aufgrund des Sprühprozesses, dem Auftragen von Lack auf das Metall, wird das Transportmittel zu einer fahrenden Leinwand umgedeutet. Und – richtet man den Blick aus etwas weiterer Entfernung auf die Stadt, lässt sich folgern, das sie zur Galerie umfunktioniert wird – zur Freiluftgalerie. Natürlich gibt es Deutungen und Erklärungsversuche aus verschiedenen Disziplinen darüber welchen Sinn eigentlich Graffiti habe und was die Akteure dazu bewegt. Einer der ersten der sich dem Thema widmete war der französische Medientheoretiker Jean Baudrillard, der sich bereits 1978 mit seinem Aufsatz „KOOL KILLER oder Der Aufstand der Zeichen“ auseinandersetzte. Er deutet das Auftreten von Graffiti dahingehend, dass die Graffiti-Sprüher, da sie mehrheitlich aus den Ghettos stammen, für die Herrschaft austauschbare anonyme Variablen seien, die durch Graffiti in anonymer Form auf das System zurück schlügen. Wenngleich einige Fehlannahmen und Kritikpunkte bei Baudrillard anzumerken wären, lieferte er eine Argumentationsbasis auf die bis heute zurückgegriffen werden kann. Allerdings bezieht sich Baudrillard auf die 1970er Jahre in New York. Doch wie lässt sich das Phänomen in Deutschland erklären, vor allem wenn man diejenigen Akteure betrachtet die heute aktiv sind? Im Vergleich zu den USA gab und gibt es in Deutschland weniger Jugendarbeitslosigkeit, der Übergang von einer industriellen- zu einer postindustriellen Stadt dürfte längst vollzogen worden seien. Mittlerweile kann man von der dritten oder gar vierten Graffiti-Generation sprechen und die Akteure haben sich, im Gegensatz zur ersten Generation, gänzlich von der Milieubindung gelöst. Innerhalb der Soziologie gilt es heutzutage als common Sense Subkulturen losgelöst von der Klassenlage zu betrachten. Doch unabhängig von der Milieubindung verhält es sich hierzulande tendenziell eher so, dass Kinder und Jugendliche einer ständigen Kontrolle durch diverse Institutionen ausgeliefert sind. Die Aufenthaltsorte für Jugendliche seien von Kontrollinstanzen ver-“funktionalisiert“ und ver-“institutionalisiert“, so folgert es die Soziologin Helga Zeiher. Verdeutlicht wird dies etwa dadurch, dass seit mehr als zehn Jahren eine zunehmende Privatisierung des öffentlichen Raumes stattfände. Beispielsweise seien Einkaufszentren, Bahnhöfe oder mobile Behausungen, Räume die keinerlei Identitätsbildung zu ließen – der Ethnologe Marc Augé definierte diese mono-funktional genutzten Räume als Nicht-Orte. Demnach lässt sich ein Zug, also eine mobile Behausung, als ein solcher Nicht-Ort auffassen. Das Transportmittel selbst, lässt keinerlei Identitätsbildung und historische Relation zu, lediglich die Corporate Identity des Unternehmens ist ablesbar.

Doch die Handlung der Graffiti-Sprüher wandelt diese Nicht-Orte zu Leinwänden um und füllt sie mit Sinn, so folgert es die Kulturanthropologin Silke Andris. In etwas weiter gefasster Rahmung, lässt sich ableiten, dass Graffiti eine Kritik an der zunehmenden Überwachung und Privatisierung darstellt. Die Wirkung und Wahrnehmung, die ein Graffiti bei einem Betrachter erzeugen kann, beziehungsweise einem Betrachter der sich darauf einlässt, kann eine solche Botschaft übertragen. Bezieht man das Beispiel des zufälligen Betrachters, auf einen Zug, so sieht der Rezipient „etwas das sein kann, obwohl es nicht sein darf“, nach der Formulierung des Dokumentarfilmers Robert Kaltenhäuser, der seine Worte darum ergänzt, dass sich das Graffiti dem Betrachter hineinplatzend offenbare wie „utopische Poesie“. Letztlich, unterm Strich, könnte man folgern, das Graffiti ein Mechanismus ist, der gegen die zunehmende Privatisierung und Ver- Institutionalisierung des öffentlichen Raumes ankämpft. Dies kann man sich in Erinnerung rufen, sofern man auf Graffiti stößt – der kulturellen Praxis, die einst von einem griechischstämmigen Botenjungen aus New York erfunden wurde und bis heute den öffentlichen Raum ziert.


Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Raffael Siegert

Geboren 1982, verheiratet. Studium der Kulturanthropologie und Wirtschafts- und Sozialgeschichte in Göttingen. Seit 2011 journalistisch tätig.

Raffael Siegert