Die Runde da sie nichts voneinander wussten

Die Welt von Gestern Der Fotograf Kurt Kaindl hat die vergessenen Völker Europas aufgespürt

Es ist ein Bild wie ein Nekrolog: Nahe einer Friedhofsmauer baumeln acht Gießkannen an einer grauen Eisenstange. Vor den unzähligen Grabkreuzen im Hintergrund erscheinen ihre gesenkten Hälse wie eine Pietà aus Plastik und Altmetall. Ein morbides Stillleben. Weit hinten, wo die Fotografie schon ihre Tiefenschärfe verliert, erspäht man ein altes Paar. Heimlich und eng aneinandergeklammert schleicht es sich aus den Wahrnehmungszonen des Betrachters.

Österreichs Kreative hatten schon immer diesen Überschuss an Agonie im Blut. Der 1954 im oberösterreichischen Gmunden geborene Fotograf Kurt Kaindl verlängert mit Bildern wie diesem eine Traditionslinie, die von Kokoschka bis Alfred Kubin reicht. Mit seinem neuesten im Otto Müller Verlag erschienenem Fotobuch Die unbekannten Europäer hat er sich eines Sujets angenommen, dass der "melancholia austria" Tür und Tor offen hält. Zusammen mit dem Salzburger Schriftsteller Karl-Markus Gauß reiste Kaindl eineinhalb Jahre lang zu den längst vergessenen Volksgruppen Europas. Den Aromunen, Sepharden, Gottscheer, Arbereshe und Sorben. Nur fünf von gut fünfzig Ethnien, die in ihrer Fremdheit noch immer weiße Flecken auf der Landkarte der alten Welt bilden.

Kaindls Schwarz-Weiss-Aufnahmen bedienen sich der Mittel klassischer Sozialfotografie. Auf 120 Abbildungen gibt er Einblicke in den Alltag von Menschen, die um ihr nationales Überleben bangen müssen. Besonders die Sepharden von Sarajevo, eine jüdische Minderheit, die 1492 vor der Vertreibung Ferdinands von Spanien auf den Balkan floh, sind spätestens nach dem Bosnienkrieg vom Aussterben bedroht. Wo einst Sprachen und Namen lebendige Museen der europäischen Geschichte waren, da zeugen heute zerschossene Synagogen und verfallene Friedhöfe vom einstigen kulturellen Reichtum Europas.

Unprätentiös dokumentieren die Fotografien das Einerlei abseits von Klimbim und Folklore. Irgendwo in Kalabrien sitzt da eine Runde versprengter alter Männer um ein Denkmal des albanischen Nationalhelden Skanderberg herum. Dessen Niederlage im Kampf gegen die Osmanen brachte im 15. Jahrhundert Tausende Albaner an die Küste Süditaliens. Arbereshe nennen sich diese Männer selber, die in Sprache und Tradition zwar noch immer das Andenken an die einstige Heimat aufrecht erhalten, deren Erinnerungsreigen aber bereits weite Lücken geschlagen hat.

Kaindl und Gauß konservieren so die kleinen Gedächtnissplitter des europäischen Bewußtseins. "My history goes cemetery", erzählt fast resigniert ein alter Mann aus der jüdischen Gemeinde Sarajevos. Im Europa der Kernregionen hinterlassen solche Geschichten eine Art Jetlag. Nur wenige Stunden von Straßburg beginnt mit jedem Morgen die Welt von Gestern.

Kurt Kaindl: Die unbekannten Europäer. Otto Müller Verlag, Salzburg 2002, 144 S., 24 EUR

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