Kurz vor der Abstimmung über den Verbleib seines Landes in der EU gab der britische Justizstaatssekretär Michael Gove eine Pressekonferenz. Was er dazu sage, dass die meisten britischen Wirtschaftsexperten vom Brexit abraten, wurde Gove gefragt. Seine Antwort war eine Gegenfrage: „Was sagen Sie dazu, dass der weit überwiegende Teil der britischen Gesellschaft von Experten die Nase gestrichen voll hat?“
Die Nase voll hat offenbar auch Peter Strohschneider. Er ist der Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), der wichtigsten, von Bund und Ländern finanzierten Institution zur Förderung der Wissenschaft mit einem Etat von knapp drei Milliarden Euro jährlich. Für Strohschneider zeigen sich in Äußerungen wie der von Gove die dramatischen Folgen einer beängstigenden Wissenschaftsfeindlichkeit in Politik und Gesellschaft. Oder neutraler formuliert: Die Kosten einer hoch spezialisierten Wissenschaftsentwicklung nehmen zu. Strohschneider gab dem Blog Wissenschaft kommuniziert ein langes Interview, das es wert ist, diskutiert zu werden, denn was er fordert, ist radikaler, als es seine Formel von der „Vergesellschaftlichung der Wissenschaft“ vermuten lässt. Dabei ist seine Argumentation bestechend:
Fragwürdige Autonomie
1. Mit der modernen Forschungsuniversität wird das Wissen autonom, es entstehen die Disziplinen: Ab etwa 1800 – vor allem auch an der 1810 begründeten Universität im Herzen Berlins – beobachten Forscher eng umgrenzte Gegenstände ihres Fachs. Sie produzieren Wissen, das als gesicherte Erkenntnis zirkuliert und von anderen Teilbereichen der Gesellschaft verwendet werden kann. Dafür erhalten sie Anerkennung und Alimentierung. Doch der als „Autonomie“ verbuchte Gewinn wird anderweit wieder einkassiert: Wissenschaft benötigt immer größere Voraussetzungen – nicht nur finanziell, sondern auch rechtlich, technisch und sozial. Die wissenschaftliche Praxis wird dagegen immer kleinteiliger: Forscher entwickeln Problemstellungen und Fachvokabeln, die als „Sprachpanzer“ wahrgenommen werden; zuletzt im Germanistik-Bashing des ausgebildeten Germanisten Martin Doerry im Spiegel. Eine steigende Zahl von Experten diskutiert Probleme, deren Relevanz von Laien kaum mehr nachvollzogen werden kann, der Elitismus der Wissenschaft steigt, die „Autonomietoleranz“ der Gesellschaft sinkt. Sprich: Von Experten hat man gestrichen die Nase voll.
2. Neue, nicht staatliche Akteure treten auf den Plan. Die fünf großen Konzerne aus dem Silicon Valley oder die Gates-Stiftung, die 15 Milliarden US-Dollar für die Beseitigung von Infektionskrankheiten in Afrika ausgibt – das Fünffache des Jahresbudgets der Deutschen Forschungsgemeinschaft –, bestimmen, worüber geforscht wird.
3. Mit den populistischen politischen Strömungen wird Wissenschaftsfeindlichkeit normal. Das Lügen im öffentlichen Raum wird als zulässiges Handeln mit dem Hinweis „alternative Fakten“ entproblematisiert. In den „Echokammern der sozialen Netzwerke“ (Strohschneider) reagiert man auf eine sprunghaft wachsende Komplexität unserer Welt – auch sie ja ein Resultat moderner Wissenschaft – mit rigiden Komplexitätsreduktionen. Das neue Schlagwort lautet: „Irritationsvermeidung“. Man nimmt nur wahr, was den eigenen Erwartungen entspricht. Diese Kulturen der Irritationsvermeidung negieren den grundlegenden Impuls intellektueller Tätigkeit und wissenschaftlicher Neugierde: „Nur wer sich irritieren lässt durch die Welt und durch das, was andere über die Welt wissen, kann etwas Neues erfahren.“
Sympathisch ist nun, dass der umfassend gebildete und mediävistisch spezialisierte DFG-Präsident nicht nur die Probleme benennt, sondern auch eine gewisse Ratlosigkeit eingesteht und vor Scheinlösungen warnt: „Je höher der Legitimations- und Finanzdruck wird, je weniger Autonomietoleranz die Gesellschaft der Wissenschaft einräumt, umso naheliegender ist es für die Wissenschaft, diesen Rechtfertigungszwängen durch Verheißungen gerecht zu werden. Wir geben mehr Verheißungen ab, als wir halten können, die wiederum veranlassen die Gesellschaft, von der Wissenschaft noch mehr zu verlangen, worauf wir mit neuen Verheißungen reagieren. Das sind Spiralen, aus denen wir irgendwie herauskommen müssen. Irgendwie sage ich, weil ich nicht weiß, wie wir da als System insgesamt herauskommen können.“
Immerhin, wer vom „wir als System“ redet, weiß zuerst einmal eins: dass er drinnen und nicht draußen ist – wie zahlreiche Wissenschaftler, die sich in befristeten Arbeitsverhältnissen jahrelang über Wasser halten, bevor sie mit dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz aus dem System gekickt werden. Nicht nur der gerade veröffentlichte Bundesbericht wissenschaftlicher Nachwuchs 2017 liefert hier die deprimierenden Fakten, von den prekären Verhältnissen der modernen Wissenschaft weiß auch die Literatur ein Lied zu singen. Schon 2012 erzählte Christoph Heins Roman Weiskerns Nachlass von einem 59-jährigen Philologen, seit 15 Jahren Dozent mit halber Stelle an einem kulturwissenschaftlichen Institut.
Ohne Chancen auf Aufstieg und Aufmerksamkeit krebst dieser Rüdiger Stolzenburg durch den universitären Sumpf. Und muss sich durch seinen Institutsdirektor belehren lassen, dass auf so etwas wie Solidarität unter den Angehörigen der Alma Mater nicht zu rechnen sei: Jeder sei sich selbst der Nächste. Die Universität müsse sparen und werde das Institut ersatzlos streichen, wenn die Bewerberzahlen sinken. Summa summarum zerstört wird die Wissenschaft nicht nur durch „alternative Fakten“ und Hyperspezialisierung, sondern auch durch miserable Arbeitsbedingungen in ihren Insitutionen.
Was tun? Zurecht erklärt der DFG-Präsident, dass gegen die immensen Ausgaben privater Wissenschaftsförderer nichts spreche. Ebenso nachvollziehbar sind seine Hinweise auf die Konsequenzen. Wenn etwa PayPal-Erfinder Elon Musk seine nicht unbeträchtlichen Einkünfte in das Raumfahrtunternehmen SpaceX investiert, um den Mars erreichen und kolonisieren zu können, formieren sich Steuerungskräfte der Wissenschaft, die jenseits demokratischer Willensbildungsprozesse und legitimer Verfahren operieren.
Hinweise in der Belletristik
Andererseits lässt sich durchaus fragen, von welchen Interessen die Entscheidungen der Wissenschaftspolitik hierzulande abhängen. Wer schon einmal einen Antrag auf Projektförderung durch die DFG gestellt und die Mühlen dieses demokratisch legitimierten Gremiums in Anspruch genommen hat, weiß um die Unwägbarkeiten dieser Prozeduren. Auch deshalb wurde vorgeschlagen, einen Teil der DFG-Gelder einfach zu verlosen, sodass auch Außenseiter oder no names eine Chance haben.
Schließlich: Der Begriff der „Irritationsvermeidung“ ist zweifellos ein Coup, man versteht sofort, was gemeint ist. Doch wie stärkt man umgekehrt den Willen zur Irritation? Was würde eine entsprechende „Irritationstoleranz“ bedeuten? Hinweise dafür bietet auch in diesem Fall die schöne Literatur. Michel Houellebecq hat schon in seinem 1998 veröffentlichten Roman Elementarteilchen vorgeführt, wie zwei Halbbrüder die Selbstverwirklichungsimperative der westlichen Gesellschaft erfahren und der Molekularbiologe Michel jegliche emotionale Bindung verliert – was ihn befähigt, eine Menschenrasse zu entwickeln, die dem permanenten Konkurrenzkampf um Sex und Gut durch geschlechtslose Unsterblichkeit enthoben ist.
Noch weiter geht er in seinem Roman Unterwerfung, der am Beispiel des Literaturwissenschaftlers François nicht nur von der Krise der französischen Demokratie und dem Sieg eines fundamentalen Islams mit Theokratie, Scharia und Polygamie erzählt. Er zeigt vielmehr die Auflösungserscheinungen unserer westlichen Gesellschaft, die den autoritären Sicherheitsversprechen der traditions- und religionsbezogenen Gemeinschaft nicht viel entgegenzusetzen haben – und die den Wissenschaftler François gedanklich mit einer Konversion spielen lassen. Denn Religion rettet nachhaltig vor Irritationen – aber genau das scheint nun nicht der Trost, den die Wissenschaft jetzt braucht.
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