Jörg Buttgereit ist eine Legende. Mit minimalem Budget und maximaler Kreativität sind dem Berliner Autorenfilmer Werke gelungen, die zum Beispiel Hot Love, Nekromantik oder Schramm heißen und Fans des abseitigeren Horrors weltweit seit einem Vierteljahrhundert ins Schwärmen bringen. Er war auch für die Special Effects der Ralf-König-Adaption Kondom des Grauens zuständig und führte Regie bei Episoden der kanadischen Serie Lexx – The Dark Zone. Mittlerweile produziert Buttgereit eher Hörspiele (Frankenstein in Hiroshima) und Comics (Captain Berlin: Der Angriff der 50-Meter-Ilse), arbeitet regelmäßig fürs Theater oder reist als Godzilla-Experte um die Welt. Sein autobiografisches Buch Nicht jugendfrei! Tagebuch aus West-Berlin
autobiografisches Buch Nicht jugendfrei! Tagebuch aus West-Berlin versetzt nun aber noch einmal zurück in jene Zeit, als Westberlin eine übersichtliche Insel war. Drastische Darstellungen von Körperlichkeit und Gewalt riefen den Jugendschutz auf den Plan – und noch nicht die Social-Media-Gemeinde.Triggerwarnungen gab es allerdings schon damals. So warnte schon Buttgereits Dokumentarfilm Corpse Fucking Art von 1992, einige der folgenden Szenen könnten als „grob anstößig“ wahrgenommen werden. Man solle sie Minderjährigen nicht zeigen. Dazu ertönt eine sanfte Klaviermusik, die eine ähnlich zarte Spannung aufbaut, wie sie auch von dem genialen Cover des neu erschienenen Buchs ausgeht: Das titelgebende Prädikat „Nicht jugendfrei!“ ziert ein Schwarz-Weiß-Foto, auf dem der 1963 geborene kleine Jörg mit einem jungen Tiger posiert. (Apropos: Auch hier werden bereits im nächsten Absatz potenziell anstößige Dinge zur Sprache kommen, das Weiterlesen geschieht also auf eigene Gefahr.)Den reich bebilderten Hardcover-Band auf Reisen mitzunehmen und in Regionalbahnen zu lesen, erschien mir, dem Autor dieser Zeilen, zunächst unbedenklich. Die Kapitel über Buttgereits eher so mittelgute Kindheit, mit Ablenkungen bei Taekwondo und Hardrock, führen bald in das Reich des Kinos – wie es mal war, als Filme noch Sindbads siebente Reise hießen, aber auch Hexen – geschändet und zu Tode gequält. Mit 16 sah Buttgereit John Waters Pink Flamingos (laut Untertitel „Eine Übung in schlechtem Geschmack“), und ihm war klar: „Ich will ein deutscher Waters werden.“ Diese vergnügt nostalgische Schilderung einer Kinoleidenschaft passt in die Gegenwart. Auf der Fahrt durch Thüringen starrt mein junger Sitznachbar gebannt auf sein Smartphone: Dort flieht Neve Campbell vor der maskierten Gestalt aus Scream. „Ich kann nur die Trailer sehen“, erklärt er, „aber super Filme.“ Im Buch fragt sich Buttgereit derweil: „Aua, ist das echt?“, als bei einem Konzert von Throbbing Gristle einem Mann ein Hoden herausgeschnitten wird. Auch das ist nur ein Film, projiziert auf die Bühne, aber seine Wirkung ist beträchtlich.„Wie soll man auf diese filmische Breitseite angemessen reagieren, ohne Gebrauchsanweisung?“, fragt der Schreiber und antwortet sich selbst: „Empörung? Nein! Dann würde man sich ja geschlagen geben!“ Das kann man als Kommentar zur gegenwärtig oftmals auftrumpfenden Empfindsamkeit lesen – allerdings ist Buttgereit niemand, der anderen vorschreiben würde, was sie zu tun oder zu lassen hätten. Entsprechend schützt er (noch ein genialer Kniff) seine Erinnerungen vor retrospektiver Reflexion, indem er sie eben als Tagebuch gestaltet. So ist man beim Lesen mittendrin in all dem schönen Wahnsinn der Westberliner Punkszene, aus der nicht nur Bands wie Mutter und Die Ärzte erwachsen, sondern eben auch Buttgereits erste Filme, zum Beispiel Blutige Exzesse im Führerbunker. Und zu seinem Kurzfilm Mein Papi, in dem er seinen zum Sadismus neigenden Vater – ohne dessen Zustimmung – in Unterwäsche bloßstellte, bleibt dann auch kaum mehr zu sagen, als dass es an dieser „Papiploitation“ (O-Ton Buttgereit) damals durchaus Kritik gab.Vom Schwelgen im GrauenAls in Bayern eine Schulklasse das Zugabteil stürmt, luge ich vor jedem Umblättern automatisch voller Vorsicht auf die nächste Buchseite. Ich will hier keine Teenager mit Nekromantik-Bildern konfrontieren, wo eine Fontäne aus einem täuschend echten Penis spritzt oder die speziell veranlagte Heldin ihrem Bettgefährten den Kopf absägt.Die Klasse aber führt mit der Lehrerin ein Gespräch über Autounfälle. Tragische Geschichten aus dem Umfeld werden ausgetauscht. Betroffenheit klingt aus den Worten, aber auch Faszination, erst recht, als der Themenkreis sich auf Momente ausweitet, die „voll krass“ waren, obwohl sie „nur beinahe zum Unfall“ wurden. Ganz im Sinne Buttgereits scheint ein gewisses Schwelgen im Grauen für den Umgang mit tödlichen Gefahren immer noch ein naheliegender Weg zu sein.Vergangener Horror zeigt sich auch bei meinem Zwischenstopp im Kunstmuseum Basel. Plötzlich stehe ich da vor Hans Holbeins Leichnam Christi im Grabe. Dessen Augen starren ins Nichts, das Kinn ragt phallisch empor. Auf Pieter Bruegels Triumph des Todes grinst ein Skelett mit Krone, ein Vorläufer von Buttgereits Todesking (darin verursacht eine Kinderzeichnung eine Reihe von Selbstmorden). Nebenan lässt Hans Baldung Grien den Tod an junge Frauen heran, mit Schadenfreude, Lüsternheit und Beamtenstrenge – da kann man kaum anders, als Buttgereits Nekromantik-Filmen auch einen emanzipatorischen Charakter zuzuschreiben: Dort drehen die Frauen den Spieß um und bemächtigen sich des Todes, selbstbewusst und lustvoll.Solcherlei Theorie wird man in Nicht jugendfrei! kaum finden. Auch die Frage, inwieweit Splatter-Filme an Berechtigung verloren haben, seit reale Hinrichtungsvideos per Mausklick verfügbar sind, muss man sich selbst stellen. Buttgereit widmet sich eher dem Praktischen. So schildert er ausführlich, wie seine Filme ab 1991 in den Fokus der Staatsanwaltschaft gerieten und teilweise als „gewaltverherrlichend“ indiziert wurden. Dagegen werden zahlreiche Werkstattberichte (wie erschafft man ein glaubwürdiges „eingeschleimtes Plastikskelett beim Liebesspiel“?) zur inspirierenden Feier künstlerischer Freiheit und erzeugen (zumindest bei mir) auch den postpubertären Stolz des Eingeweihten.Der Weg zum nächsten Zug führt für mich durch eine weitere Bahnhofsbuchhandlung. Dort fällt ein zwei Meter hoher Verkaufsständer ins Auge. Dessen Fächer sind voll von „True Crime“-Magazinen mit Titeln wie Blutrausch. Ob jemals ein Staatsanwalt in dieser kommerziellen Realitätsverwertung auch „Gewaltverherrlichung“ sehen würde? Von einer einschlägigen großen Wochenzeitung schauen bekannte Gesichter (Juli Zeh und Daniel Kehlmann) hinter aufgeschlagenen Schmökern empor. „Welches Buch haben Sie gerade entdeckt?“, möchte der Titel wissen. Ich fühle die Schwere von Nicht jugendfrei! in meinem Beutel und muss angesichts der Harmlosigkeit dieser Frage grinsen. Wenn die wüssten …Placeholder infobox-1