#MeToo im Mittelalter

Film Ridley Scott erzählt in „The Last Duel“ einen mehr als 600 Jahre alten Justizfall – mit Parallelen zur Gegenwart
Ausgabe 41/2021

Es beginnt am 29. Dezember 1386, in einer Pariser Kampfarena, unweit der Kathedrale Notre-Dame. In den „Umkleiden“ ringen der Ritter Jean de Carrouges (Matt Damon) und der Knappe Jacques Le Gris (Adam Driver) mit ihren umständlich anzuziehenden, mindestens so belastenden wie schützenden Rüstungen. Sie stehen vor dem letzten in Frankreich gerichtlich angeordneten Duell, von dem Ridley Scott in seinem neuen Film The Last Duel erzählt.

Die früheren Freunde und Kriegskameraden waren zuerst aneinandergeraten, weil Le Gris sich vom Grafen Pierre d’Alençon (Ben Affleck) ein Stück Land hatte schenken lassen, das fest zugesagter Bestandteil der Mitgift von Carrouges’ Frau Marguerite (Jodie Comer) gewesen war. Der Betrogene erstattete Anzeige, was ihm lediglich ein Hofverbot beim Grafen einbrachte. Zögerlich versöhnte er sich nach einiger Zeit wieder mit Le Gris. Doch ein paar Feldzüge später, es ist die Zeit des Hundertjährigen Krieges, kam Carrouges als frisch geschlagener „Sir Jean“ aus Schottland zurück und erfuhr von Marguerite, dass sie von Le Gris vergewaltigt worden sei.

Gemäß dem Stand der Emanzipation um 1380 gilt eine Vergewaltigung nicht als Verbrechen an der Frau, wohl aber als Verstoß gegen die Eigentumsrechte ihres Mannes. Und in Eigentumsfragen zeigt sich Carrouges einmal mehr kampfbereit. Le Gris streitet ab. Der König höchstselbst gestattet das geforderte Duell. Wobei die schwangere Marguerite als Letzte erfährt, welche Konsequenzen das für sie haben könnte: Wenn ihr Gatte verliert, gilt das als Gottesurteil. Sie wäre somit der Lüge überführt und würde bei lebendigem Leib verbrannt.

Was wie ein mittelalterliches Schauermärchen klingt, hat sich tatsächlich so zugetragen. Jedoch galt im ausgehenden 14. Jahrhundert die Praxis des Duells als umstrittenes Auslaufmodell. Entsprechend entwerfen Ridley Scott und sein AutorInnen-Team Matt Damon, Ben Affleck und Nicole Holofcener das vielschichtige Porträt eines in sich zerrissenen Patriarchats, in dem sich wandelnde Rituale und Werte zu Widersprüchen und unversöhnlichen Konflikten führen.

Tratschen als soziales Medium

Die Frage der Ehre wird nicht nur mit dem Erringen und Verteidigen von Macht und Titeln beantwortet, sondern auch mit so etwas wie emotionaler Intelligenz. Wenn etwa der leicht tumbe Analphabet Carrouges (den Matt Damon geradezu herzzerreißend spielt) seiner Frau befiehlt, den Friedensschluss zwischen ihm und Le Gris mit einem Kuss zu besiegeln, dann wirkt das vor allem ungebildet. Gleich darauf unterhalten sich die eher zurückhaltende Marguerite und der geschmeidige Macho Le Gris über ihre Lieblingsbücher und zitieren aus der aktuellen deutschen Literatur, als wären sie auf einer Dinnerparty: leicht affektiert – und auf Deutsch.

Parallelen zur Gegenwart lassen sich auch in Carrouges’ Taktik, die Vergewaltigung Marguerites nicht sofort offiziell zur Anzeige zu bringen, finden. Als zu gering empfindet er die Chancen, Gehör zu finden. Stattdessen setzt er auf die Macht eines sozialen Mediums: Er bittet seine Getreuen, zu tratschen. Von Mund zu Mund soll Le Gris’ Tat verbreitet werden, um so den Druck auf den zuständigen Grafen zu erhöhen. Dieser mittelalterliche Vorläufer einer MeToo-Kampagne geht auf. Solche und kaum zu zählende weitere Details, die vor allem männliche Schwächen, Unsicherheiten und Abgründe beiläufig miterzählen, dürften auf das Konto von Nicole Holofcener gehen. Die Autorin und Regisseurin zählt seit den frühen 1990ern zu den spannendsten Chronistinnen der New Yorker Mittelschicht und höheren Gesellschaft. Ihr Ton mischt sich vortrefflich mit der deftigen Schlachtplatte voller schreiender, blutender Männer und Saltos schlagender Rosse, die Ridley Scott hier einmal mehr so opulent wie ungeschönt in Szene setzt.

Nicht minder wirkungsvoll geriet auch die Struktur des Films. Drei Kapitel zeichnen die Vorgeschichte des Duells aus den verschiedenen Perspektiven nach. Den Anfang macht Carrouges, der sich als rechtschaffener Patriot, großer Feldherr und fürsorglicher Ehemann versteht. Le Gris fühlt sich Jean in allen Belangen überlegen und durch den formellen Kuss Marguerites mit Vorsatz entflammt. Marguerite demaskiert schließlich beide Männer als Symptome toxischer Männlichkeit, mit oft tragikomischen, aber eben auch katastrophalen Folgen. Welche der drei Sichtweisen der Wahrheit am nächsten kommt, ob Le Gris zu Recht beschuldigt wurde, gilt in Frankreich bis heute als umstritten.

Der Film endet, das ist nicht zu viel verraten, mit der Perspektive der Zuschauenden, im doppelten Sinne. Carrouges und Le Gris bearbeiten sich vor Publikum mit Lanzen, Äxten und Dolchen. Scheint die Lage entschieden, brüllt es „Töte ihn!“ von den Rängen. Als sich das Blatt wendet, wird der eben noch Unterlegene bejubelt. Der Mensch ist gern auf der Seite der Gewinner, hieße die nicht wirklich überraschende letzte Moral des Films, wenn es da nicht noch einen allerletzten Auftritt gäbe, mit einem geheimnisvollen, vieldeutigen Blick Richtung Kamera. Er würde das aufklärerische Ansinnen des Films konterkarieren, gäbe es vorher, in den Beschriftungen der einzelnen Kapitel, nicht einen kleinen, entscheidenden Unterschied. Wieder ist es ein Detail, das deutlich macht, auf wessen Seite der Geschichte The Last Duel steht.

Info

The Last Duel Ridley Scott USA/Großbritannien 2021, 152 Minuten

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