Israel, Palästina und Deutschland: Menschenfeindlichkeit und Doppelmoral

Nahostkonflikt Der Israel-Palästina-Konflikt konfrontiert uns alle als Menschen. In Deutschland ist die Mischung aus historischer Verantwortung und Verteidigung der Menschenrechte besonders kompliziert.

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Als ob die Lage mit der Besatzung und dem Krieg Russlands in der Ukraine nicht schwer genug zu ertragen wäre, explodiert ein neuer Krieg in Nahost zwischen Israel und der Hamas. Dieser Krieg ist nicht nur grausam, da er immer weitere Opfer fordert, sondern auch komplex, weil er uns alle als Menschen herausfordert, das zu zeigen, was aus der Geschichte gelernt worden ist. In Deutschland ist diese Situation besonders kompliziert, denn „die historische Verantwortung Deutschlands“, wie Angela Merkel schon 2008 sagte, „ist Teil der [deutschen] Staatsräson“ und erfordert eine spezielle Beachtung der Lage Israels. Diese in historischer Perspektive verständliche Position, die heute von Olaf Scholz wiederholt wird, erklärt teilweise den Zugang der deutschen Regierung, wenn nicht sogar der politischen Kultur im Lande zum Konflikt. Damit ist jedoch nicht alles gelöst: Das Thema der historischen Verantwortung Deutschlands gewinnt in diesem Fall an Bedeutung und wird zugleich besonders problematisch.

Erster Akt – Israel

Die letzten, dramatischen Ereignisse sind allgemein bekannt und überall berichtet worden: Am Samstag, den 7. Oktober, wurde die Welt erschüttert vom brutalen Angriff der extremistischen Gruppierung Hamas auf die Menschen in Israel. Wie die Menschenrechtsorganisation Amnesty International beschreibt, wurden Hunderte Menschen von Hamas-Kämpfer*innen „wahllos und vorsätzlich auf grausame Weise getötet“.[1] Über die Tausenden Raketen hinaus, die aus dem Gazastreifen nach Israel geschossen wurden, sind das Eindringen von bewaffneten Kämpfer*innen in israelisches Staatsgebiet und die gezielte Ermordung von Zivilist*innen besonders erschütternd. Laut dem humanitären Völkerrecht dürfen Zivilist*innen nicht angegriffen werden, sodass die Tötung, Folter, Entführung und Vergewaltigung von Zivilpersonen in Israel Kriegsverbrechen darstellen. Der Tatbestand von Kriegsverbrechen durch die Hamas ist, wie Amnesty International ebenfalls dokumentiert hat, bereits in der Vergangenheit zu finden[2] – wenn auch nicht in diesem grausamen Umfang.

Hier in Deutschland ist die Erschütterung verständlicherweise groß. Die Bundesregierung durch Kanzler Olaf Scholz und die Außenministerin Annalena Baerbock verurteilten den Angriff der Hamas am gleichen Tage mit klaren Worten: Deutschland „verurteilt diese Angriffe der Hamas und steht an Israels Seite“ (Scholz). „Ich verurteile die terroristischen Angriffe aus Gaza gegen Israel aufs Schärfste. Gewalt und Raketen gegen Unschuldige müssen sofort aufhören. Israel hat unsere volle Solidarität und das völkerrechtlich verbriefte Recht, sich gegen Terror zu verteidigen.“ (Baerbock) Auf den wichtigsten deutschen Nachrichtenportalen wird erst vom Terror berichtet und gleich danach über vermeintlich äquivalente Szenarios wie dem 11. September (Zeit) bzw. Pearl Harbor (Spiegel) in den USA geschrieben.

Einige Tage nach dem Attentat steht die Rede von den Details dieses Angriffes auf der Tagesordnung, und zwar mit einer ausführlichen Rekonstruktion der Abläufe. Videos werden veröffentlicht, es werden Expert*innen und Politiker*innen zu Talkshows eingeladen und alle diskutieren über die Hamas und die palästinensischen Extremist*innen. Fragen nach einer tiefgründigen Erklärung werden nicht vermisst, sondern als Zeichen einer regelrechten Rechtfertigung betrachtet – als ob Erklärung und Rechtfertigung ein und dasselbe wären. Und es ist klar und m. E. auch richtig: Nichts rechtfertigt, was am 7. Oktober passiert ist. An dieser Stelle wird höchstens über Antisemitismus gesprochen. Eine Veranstaltung in Neukölln (Berlin) mit 50 Besucher*innen wird besonders thematisiert, da sich dort viele Leute versammelt haben, die mit palästinensischen Fahnen den Angriff der Hamas feiern. Eine klare Schande für die Republik, die ebenso zur Frage nach der Gleichgültigkeit der Bevölkerung gegenüber Verbrechen gegen die Menschlichkeit führt. Anstatt solche Demos genau zu überwachen, um gegebenenfalls einzugreifen, reagierte die Polizei darauf mit einem Verbot palästinafreundlicher Kundgebungen – wegen der Vermutung, dass dabei neue antisemitische Parolen skandiert würden.

Zweiter Akt – Palästina

Das Problem an dieser Situation ist, dass sich das Verbrechen nicht bloß auf die Hamas und die palästinensischen Extremist*innen beschränkt – die Sache ist ein wenig komplizierter als das. Unter dem Vorwand des Überlebens seines Staates hat Israel schon seit Dekaden das palästinensische Gebiet umfassend besetzt, was in ein Apartheid-System gemündet ist. Der 2022 erschienene Bericht von derselben Amnesty International „Israel’s Apartheid against Palestinians: Cruel System of Domination and Crime against Humanity“ kommt beispielsweise zu dem Schluss, dass die „umfangreichen Beschlagnahmungen von palästinensischem Land und Eigentum, die rechtswidrigen Tötungen, Zwangsumsiedlungen, drastischen Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und die Verweigerung der Nationalität und der Staatsbürgerschaft für Palästinenser*innen Bestandteile eines Systems sind, das nach internationalem Recht Apartheid darstellt“. So ein System wird „durch Menschenrechtsverletzungen aufrechterhalten, die nach Einschätzung von Amnesty International den Tatbestand der Apartheid als Verbrechen gegen die Menschlichkeit erfüllen“.[3] „Ob sie im Gazastreifen, in Ostjerusalem, in Hebron oder in Israel selbst leben, Palästinenser*innen werden als separate und nachrangige Gruppe behandelt und systematisch ihrer Rechte beraubt“, so Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International.

Anders als bei der zu Recht zu spürenden Erschütterung im Lande bezüglich des Angriffes der Hamas hat dieses von Israel über die jüngere Vergangenheit hinweg stets aufrechterhaltene Verbrechen gegen die Menschlichkeit kaum Berücksichtigung gefunden. Die Parole von der deutschen Staatsräson („Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson.“ - wie Kanzler Scholz jetzt erneut betont hat) hat sich sogar als Ausrede erwiesen, um jede Kritik an Israel zu vermeiden.. Der Zentralrat der Juden in Deutschland hat letztes Jahr den zitierten Bericht von Amnesty International als „antisemitisch“ bezeichnet.[4] So behauptet der Kanzler Scholz seinerseits: „Ich will ausdrücklich […] sagen, dass ich mir das Wort Apartheid nicht zu eigen mache und dass ich das nicht für richtig halte für die Beschreibung der Situation.“ Das Auswärtige Amt hat sich ebenfalls ablehnend geäußert: „Begriffe wie Apartheid ebenso wie eine einseitige Fokussierung der Kritik auf Israel lehnen wir ab.“ Die Verwendung der Berichte von Amnesty International über z. B. die Besatzung und den Krieg Russlands in der Ukraine spricht aber gegen ein grundlegendes Misstrauen der Bundesregierung an der Seriosität dieser Menschenrechtsorganisation und mehr für einen opportunistischen Gebrauch ihrer Berichte.

Letzteres steht im Einklang mit der gegenwärtigen Reaktion der Bundesregierung auf den aktuellen Verlauf des Krieges in Nahost. Gefangen in einer missverstandenen Staatsräson hat die Regierung bisher nicht nur keine Worte zur Deeskalation ausgesprochen, sondern über die Möglichkeit einer Waffenlieferung diskutiert. Unter dem Motto „Israel darf sich verteidigen“ legitimiert die Bundesregierung nicht bloß den Angriff auf militärische Ziele, sondern auch auf die Zivilbevölkerung. Dabei sei daran erinnert, dass der Gazastreifen eine extrem hohe Bevölkerungsdichte von 5328 Einwohner pro km² hat und dass dort 40 % der Bevölkerung, d. h. 1 Million Kinder, unter 14 Jahre alt sind. Kein Wort über solche Menschen, kein Wort über die Isolation (ohne Wasser, ohne Strom, ohne Lebensmittel), kein Wort darüber, dass der israelische Verteidigungsminister die Menschen im Gazastreifen als „Tiere“ bezeichnet, oder dazu, was die israelische Ministerin May Golan im Fernsehen sagt: „Gaza ist mir egal, es ist mir im wahrsten Sinne des Wortes egal. Sie können rausgehen und im Meer schwimmen …“. Benjamin Netanjahu veröffentlicht ein Video mit Dutzenden Bomben, die in der Mitte Gazastreifen explodieren und Hunderte Zivilist*innen (darunter Kindern und Frauen) töten, und dennoch regt das niemanden auf. Alles lässt sich nach dem Angriff der Hamas als bloßer Verteidigungsakt begründen.

Dritter Akt – Deutschland und der Kampf gegen die Menschenfeindlichkeit

Aus Letzterem lässt sich nur eines ableiten, nämlich: die Empörung über jedwede Menschenrechtsverletzung, ob nun in Israel, Palästina, der Ukraine, Russland, Venezuela, China, Nicaragua oder wo auch immer. Doch an dieser Stelle hat Deutschland so seine Probleme, dieses Prinzip ohne Wenn und Aber zu respektieren. Am 20. Juli 2014, inmitten eines Angriffs Israels im Gazastreifen, bei dem Hunderte Menschen umgebracht wurden, wurde in Deutschland des Attentats von Claus Schenk Graf von Stauffenberg auf Hitler gedacht. Bei der Gelegenheit rief der damalige Bundespräsident Joachim Gauck zum Kampf für die Demokratie auf und behauptete – in Erinnerung an die Nazizeit –, dass wir alle „eine Wahl zwischen Handeln und Untätigkeit, auch zwischen Reden und Schweigen [haben]“. [5] Kein Wort zum Konflikt im Gazastreifen. Fast 10 Jahre später rief Olaf Scholz dazu auf: „Nie wegschauen […)]! Es ist unsere Pflicht, Antisemitismus hart zu bekämpfen.“ Kein Wort aber zu den Palästinenser*innen, die durch das großflächige Bombardement getötet wurden – auch nicht zur Besatzungsstruktur.

Zu Recht liest man hier und da, dass die Apartheid gegen Palästina niemals eine Rechtfertigung für einen solch grausamen Terrorangriff sein kann. Und diesen Standpunkt teile ich! Nichts rechtfertigt einen Angriff auf Zivilist*innen. Aber warum liest man keinen Vorwurf gegen die menschenfeindliche Reaktion des israelischen Staates auf die Bevölkerung im Gazastreifen? Wieso sollte der Angriff auf die Zivilist*innen dort gerechtfertigt sein? Am 19. Oktober 2022 sagte Ursula von der Leyen zum Russland-Ukraine-Krieg: „Angriffe auf zivile Infrastrukturen – mit der klaren Absicht, Männer, Frauen und Kinder von Wasser, Strom und Heizung abzuschneiden – sind reine Terrorakte. […] Das sind Kriegsverbrechen.“[6] Und die Blockade gegen Palästina? Menschenfeindlichkeit darf niemals gerechtfertigt sein. Das ist nicht umsonst der Grund, wieso der aktuelle Bombenangriff Israels – jetzt sogar laut Human Rights Watch mit verbotenen Phosphorbomben – und die vermutliche Bodenoffensive in Gazastreifen keine Rechtfertigung finden dürfen, auch nicht unter dem Vorwand der Staatsräson oder der legitimen Verteidigung Israels gegen militärische Angriffe und Stützpunkte der Hamas. Die grundlegende Kritik an der Apartheid darf, wie sich im Editorial der israelischen Zeitung Haaretz vom 8. Oktober lesen lässt, auch nicht einfach nur als ›antisemitisch‹ kategorisiert werden. Dies ist nämlich ein schwerwiegender Vorwurf, der durch solch eine leichtfertige Anwendung schnell banalisiert werden und dementsprechend an Bedeutung verlieren kann.

Anhand des Letzteren kann man feststellen, dass Deutschland vor einem unaufgelösten (aber nicht unauflösbaren) Dilemma steht: Wenn Deutschland jede Möglichkeit der Unparteilichkeit bzw. einer gerechten Beobachtung zugunsten seiner Beziehungen zu Israel ausschlägt und dabei sogar den Berichten von Menschenrechtsorganisationen willkürlich widerspricht, läuft es große Gefahr – nämlich das aus der Geschichte Gelernte wieder zu verlernen, und zwar die Überzeugung, dass alle – das sind Deutsche genauso wie Israelis, Palästinenser*innen, Russ*innen, Ukrainer*innen, Chilen*innen, US-Amerikaner*innen usw. – gleichwertig sind und ihre Menschenrechte überall verteidigt werden müssen. Hält Deutschland an der Verteidigung Israels ohne Wenn und Aber fest, ohne dies zu berücksichtigen und gegebenenfalls zu kritisieren, dann wird es sicherlich in Zukunft erneut mit den Problemen des Schweigens konfrontiert sein. Letzteres erfordert nicht, auf der Seite Palästinas zu stehen, doch wenigstens das Verbrechen gegen die Menschlichkeit – egal wer Opfer und Täter*innen sind – auszusprechen. Das heißt: kein Wegschauen, kein Schweigen, sondern Hinsehen, Aussprechen und Handeln, und zwar für die ganze Menschheit.

[1] https://www.amnesty.de/informieren/aktuell/israel-gaza-zivilbevoelkerung-zahlt-preis-fuer-gewaltsame-angriffe

[2] https://www.amnesty.de/informieren/amnesty-report/palaestina-2022

[3] https://www.amnesty.ch/de/laender/naher-osten-nordafrika/israel-besetzte-gebiete/dok/2022/verbrechen-gegen-die-menschlichkeit

[4] https://www.zentralratderjuden.de/aktuelle-meldung/artikel/news/presseerklaerung-zum-israel-bericht-von-amnesty-international/

[5] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/hitler-attentat-vom-20-juli-1944-a-982021.html

[6] https://www.n-tv.de/ticker/Von-der-Leyen-bezeichnet-juengste-russische-Angriffe-als-Kriegsverbrechen-article23660235.html

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Rafael Alvear M.

Postdoktorand in Soziologe -- Neues Buch: "Soziologie ohne Mensch? Umrisse einer soziologischen Anthropologie" (Transcript Verlag, 2020)

Rafael Alvear M.

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