Kriminelle Aktionen bei der Letzten Generation und den Bauern?

Klimawandel Protest Demokratie Sind die Proteste der Letzten Generation zu Recht so unpopulär? Oder lassen sich ziviler Ungehorsam ebenso rechtfertigen wie Bahnstreiks und Bauernproteste? EIN ZWISCHENFAZIT ZUM STRATEGIEWECHSEL DER KLIMAAKTIVISTEN

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Das Grundrecht auf Freiheit der Person darf nur ausnahmsweise eingeschränkt werden, z.B. durch Demonstrationen oder Streiks. Das Verständnis für derartige Einschränkungen ist zu Beginn des Jahres 2024 eindeutig verteilt: Beeinträchtigungen durch Bahnstreiks hält immerhin noch ungefähr die Hälfte der Deutschen für berechtigt, für die Bauernproteste hat sogar eine Mehrheit Verständnis, die Aktionen der letzten Generation dagegen werden von einer überwältigenden Mehrheit abgelehnt.

Das ist umso erstaunlicher, als Bahnstreiks weitaus gravierender sind, weitaus mehr Menschen nötigen ihre Mobilität einzuschränken. Das Recht zu streiken würde dennoch niemand in Frage stellen, obwohl damit „nur“ für partikulare Eigeninteressen einer bestimmten Gruppe gekämpft wird.

Dies gilt auch für Bauernproteste: Sie setzen sich ebenfalls für die (finanziellen) Interessen einer relativ kleinen Gruppe ein. Zwar kann der Erhalt eines einheimischen Bauernstandes grundsätzlich für die Allgemeinheit von Vorteil sein. Allerdings können dabei bäuerliche Interessen auch mit wichtigen gesellschaftlichen Anliegen bzw. Werten und Normen in Konflikt geraten wie Biodiversität, Schutz des Grundwassers, Tierwohl und insbesondere die Bekämpfung des Klimawandels. Dies gilt auch für fragwürdige Aggressionen und Gewalt, die sich bei den Bauernprotesten am Rande zeigen. Die grundsätzliche Berechtigung bäuerlicher Proteste steht dennoch ebenfalls außer Frage.

Warum aber gilt dies nicht für die Aktionen der „Letzten Generation“? Warum sind sie so unpopulär und werden sogar als die Taten von Extremisten, Kriminellen oder Terroristen diffamiert?

Teilt doch eine überwältigende Mehrheit der Europäer*innen eigentlich die Ziele der „Klimakleber“. Laut Umfragen ist für die meisten der Klimaschutz sogar ein Menschheits-Anliegen.

Setzen sich die „Klimaaktivisten“ also nicht selbstlos für ein universales Anliegen ein anstatt „nur“ für partikulare Eigeninteressen?

Kommt ihr idealistisches Engagement nicht gerade darin zum Ausdruck, dass sie sogar ihre Eigeninteressen zugunsten des Gemeinwohls aufs Spiel setzen. Riskieren sie es doch, sich nicht nur populistischer Polemik und Aggression auszusetzen, sondern sogar pauschaler Kriminalisierung, finanzieller Einbußen oder Präventivhaft.

Wie wohlfeil ist es dagegen sich in den Komfortzonen des populistischen Mainstreams einzurichten und die „Klimakleber“ aus sicherer Distanz nur zu beschimpfen. Diese dagegen wagen etwas für unser Menschheitsanliegen, und zwar gegen den Konformitätsdruck der ablehnenden öffentlichen Meinung. Gerade gegen vorherrschende Ressentiments, die nicht nur die Boulevardpresse befeuert, erkämpfen sich so auch in Demokratien couragierte Menschen Freiheitsräume. Iring Fetscher kann daher zu Recht betonen: „Ohne Menschen, die der Zivilcourage fähig sind, geht aber die Freiheit zugrunde.“ (Iring Fetscher: Ermutigung zur Zivilcourage)

Offensichtlich lassen sich bei den Klimaaktivisten genau die außergewöhnlichen Persönlichkeitsmerkmale erkennen, die zur Zivilcourage befähigen, wie sie sich bereits beim alttestamentlichen Propheten Amos finden und Thoreau, Gandhi oder M.L. King praktizieren:

  • moralische Ansprüche bzw. Forderungen des Gewissens, die sich nicht verdrängen lassen;
  • Fähigkeiten, Missstände zu erkennen und zu bewerten;
  • Mut bzw. Courage, sich zu engagieren für humane Ideale (Bekämpfung des Klimawandels) und sich dabei selbstbewusst gegen den Konformitätsdruck bzw. Widerstand des Mainstreams und der Machthaber bzw. Judikativen zu behaupten.

Können sie demnach zu Recht als Extremisten oder Terroristen beschimpft werden? Sind sie mit ihren Aktionen im Gegensatz zu Bahnstreiks oder Bauernprotesten staatzersetzend, verfassungs- oder demokratiefeindlich?

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Keineswegs! Stellen sie sich doch den Strafen und erkennen damit die entsprechenden staatlichen Behörden an. Außerdem appellieren sie mit ihren Aktionen an die Verfassungsorgane unserer Demokratie, an ihre gewählten Vertreter und bestätigen sie so.

Ziviler Ungehorsam setzt sich sogar für unsere demokratische Staatsform ein und versucht sie zu verbessern, indem er Missstände anprangert. Dazu gehört beispielsweise die Kritik am Klimaschutzgesetz von 2019. Dass es in Teilen nur unzureichend den Klimawandel bekämpft und darum verfassungswidrig sei, bestätigt das Bundesverfassungsgericht 2021. Es orientiert sich dabei auch am Artikel 20a des Grundgesetzes: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.“ Zu Recht setzen sich demnach die Klimaaktivisten mit ihrer Klage und Aktionen für die Einhaltung der Verfassung ein und fordern dies auch von unseren Volksvertretern, also der Regierung und legislativen Mehrheit.

Der Philosoph Robin Celikates geht sogar noch weiter, wenn er auf die Bürgerrechtsbewegungen hinweist und betont: Viele „der demokratischen Errungenschaften, die wir heute für gegeben halten, seien erst durch zivilen Ungehorsam erreicht worden“. (https://www.deutschlandfunk.de/philosoph-zu-extinction-rebellion-robin-celikates-100.html)

Bekanntlich sind aber nun in Bayern gegen die Letzte Generation wegen des Anfangsverdachts einer kriminellen Vereinigung Maßnahmen eingeleitet worden. Das ist zumindest umstritten, ganz abgesehen von dem dilettantisch erscheinenden, unhaltbaren Vorgehen der Generalstaatsanwaltschaft und dem Amtsgericht München beim Umgang mit der Webseite der Klimaaktivisten am 28.05.2023. Wurden sie dort doch kurzeitig als „kriminelle Vereinigung“ vorverurteilt.

Aber sind sie das tatsächlich? Sind Straftaten ihr vordringliches Ziel wie bei den Hells Angels oder der Mafia? Nur dann gelten sie als kriminelle Organisation, nicht aber, wenn die möglicherweise strafbaren Aktionen wie Sitzblockaden nur von untergeordneter Bedeutung sind, sie also nur im Dienste des eigentlichen Anliegens, dem Klimaschutz stehen. Und stellen ihre Aktionen tatsächlich eine „erhebliche Gefährdung“ der öffentlichen Sicherheit dar, wie es das Münchner Landgericht vermutlich ganz im Sinne der bayrischen Stammtische unterstellt? Oder stören bzw. „nerven“ sie nicht vielmehr nur auf relativ friedliche Weise und öffentlichkeitswirksam? Genau das ist nämlich ein Ziel von Protestformen oder Streiks: den normalen Betrieb öffentlichkeitswirksam zu stören, zu unterbrechen, zum Innehalten und Nachdenken zu zwingen und so auf Missstände oder Ungerechtigkeiten aufmerksam zu machen. Unbemerkte Sitzblockaden auf der Zufahrt zur eigenen Garage hätten daher ihren Zweck ebenso verfehlt wie störungsfreie Bauernproteste auf dem eigenen Acker oder versteckte Lokführerstreiks in der Freizeit im Modellbahn-Keller.

Überhaupt kann beim umstrittenen strafrechtlichen Umgang mit den Aktionen der Letzten Generation der Eindruck entstehen, dass gerade in Bayern häufig kleinlich Straftatbestände isoliert vom Gesamtzusammenhang geahndet werden. Und steht dabei nicht einmal mehr die öffentliche Ordnung im Vordergrund, deren Störung nicht zu dulden ist? Wer es zudem noch wagt, die Vorfahrt der Autos anzutasten, muss mit harten Sanktionen rechnen.

Aber sollte eine angemessene Rechtsprechung nicht vielmehr den Kontext berücksichtigen? Also das fast unumstrittene Menschheits-Anliegen der Klimaaktivisten? Und kommt in der Diskussion nicht auch das Grundrecht der Versammlungsfreiheit zu kurz? So gesteht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dessen Urteile auch für die nationale Rechtsprechung von Belang sind, dieses Recht auch nicht angemeldeten Sitzblockaden zu. Ihnen sei nämlich keineswegs grundsätzlich der friedliche Charakter abzusprechen, auch wenn dabei Dritte absichtlich behindert werden. Der Rechtsexperte Fin-Jasper Langmak fordert daher zu Recht, „eine Rückbesinnung auf die menschenrechtliche Dimension der Proteste kann und sollte ein Korrektiv für allzu ausgeartete Kriminalisierungs- bzw. Selbstjustizfantasien darstellen.“ (https://verfassungsblog.de/die-letzte-generation-die-emrk-und-das-strafrecht/)

Zwar herrscht also offensichtlich Konsens über die Berechtigung des Klimaschutzes, dem übergeordneten Ziel der Letzten Generation. Selbst ihre Aktionen lassen sich juristisch rechtfertigen, auch wenn sie umstritten bleiben. Und sollte das selbstlose Engagement und die Zivilcourage des zivilen Ungehorsams uns nicht mindestens ebenso viel Respekt abnötigen wie die partikularen Eigeninteressen der Lokführer oder Bauern?

Dennoch lässt sich bei alledem darüber streiten, ob die Klebeaktionen bzw. Straßenblockaden tatsächlich immer geglückt waren. Auch die Aktionen gegen Kunstwerke können unverständlich bleiben oder sogar kontraproduktiv sein. Wollen sie doch auf den drohenden Klimawandel hinweisen und Nachlässigkeiten bzw. Versäumnisse entlarven. Wenn diese Aktionen aber immer unpopulärer werden, können sowohl Politiker als auch die meisten ihrer Wähler mit dem Ärger über die „Letzte Generation“ von eigenen Versäumnissen ablenken.

Die Aktivisten scheinen dies nun selbst erkannt zu haben, verabschieden sich von „Klebe-Straßen-Blockaden“ und versuchen einen Neuansatz. Dieser Strategiewechsel erscheint sinnvoll, überfällig und führt hoffentlich zu noch effektiveren Aktionen für einen Klimaschutz, der leider nichts von seiner überlebenswichtigen Dringlichkeit verloren hat.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Reinhard Salomon

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