„Ich bin Hartz IV“ - Neue Image-Kampagne

RR. Die Stadt Münster geht neue Wege bei der Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit. Heute stellte das Jobcenter eine Plakataktion vor. Motto „Ich bin Hartz IV“. Eine Glosse

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Plakataktion Jobcenter Münster: "Ich bin Hartz IV". Foto JC/RR

Behördenleiter Ralf Bierstedt hatte zum Auftakt der Aktion ins Foyer des Stadthauses 2 geladen und stellte dort die großformatigen Plakate vor. Eine Handvoll Interessierter wohnte bei einem Glas Sekt ganz zeremoniell der Präsentation bei, darunter Vertreter der kommunalen Politik, von örtlichen Sozialverbänden und ehrenamtlichen Initiativen. Die Stadt Münster startet einen in Deutschland bislang einmaligen Modellversuch, durch eine Imagekampagne für mehr Beschäftigungsangebote für Langzeitarbeitslose zu werben und deren seit den Hartz-Reformen zunehmend lädierte Reputation zu verbessern.

Der schlechte Ruf der Leistungsempfängerinnen und -Empfänger ist ein wesentliches Hindernis für deren Integration in den Arbeitsmarkt,“ weiß Bierstedt in seiner kurzen Ansprache zu berichten. Viele Arbeitgeber nähmen per se keine Langzeitarbeitslosen, weil man ihnen die Beschäftigungsfähigkeit abspreche. „Unter den Langzeitarbeitslosen gibt es jedoch ein großes Potential von Menschen mit guter Ausbildung, darunter viele Ältere, die gerne noch eine Chance am Arbeitsmarkt hätten.“

Lädierte Reputation

Die Plakate zeigen Männer und Frauen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Herkunft, Menschen mit ernsten und solche mit lächelnden Mienen, die alle eins gemeinsam haben: Sie suchen nach einem beruflichen Neuanfang. Sie werben mit Slogans wie: „Ich bin Hartz IV und fit wie ein Turnschuh“, „Ich wünsche mir und meinen Kindern ein Leben nach Hartz IV“ oder „Seit 30 Tagen Hartz IV“ (Bild oben). Die Kampagne wurde vom Fachbereich Design der Fachhochschule Münster kostenlos kreiert, nur die Werbeflächen wurden von der Stadt aus Mitteln der Eingliederungsförderung angemietet. Ab kommender Woche sollen die Plakate überall in Münster zu sehen sein.

Bei den abgebildeten Personen handelt es sich ausschließlich um echte Langzeitarbeitlose und nicht etwa um Schauspieler oder Statisten, betont Jakob Schneider, Absolvent der Fachhochschule Münster, der im vergangenen Jahr bereits das Design des Hochschulfestivals „Neue Wände“ im Stadttheater mitgestaltet hat. Das Ganze habe riesigen Spaß gemacht und man hoffe auf ein positives Echo.

Die Betroffenen wurden natürlich über das Ziel der Aktion aufgeklärt und deren Zustimmung eingeholt,“ beeilt sich Behördenleiter Bierstedt zu versichern. „Niemand wird dadurch überrascht, dass er plötzlich sein eigenes Konterfei auf der Straße erblickt.“

Gerangel um Optionskommune

Doch ganz so einmütig, wie die Zusammenkunft im Stadthaus 2 suggerieren soll, kam die Aktion wohl doch nicht zustande. Sie geht auf einen Ratsbeschluss zurück, der noch im Vorfeld der Kommunalwahl getroffen wurde und über Monate Gegenstand eines heftigen politischen Gerangels war. Seit dem 1.1.2012 ist Münster Optionskommune, hat also ohne Mitwirkung der Arbeitsagentur die Trägerschaft für das Jobcenter übernommen. Die Idee, mittels eines Aktionstages zum Jahresanfang 2015 das 3-jährige Bestehen der Optionskommune zu feiern, war zunächst von der SPD ausgegangen, die bei dieser Gelegenheit verstärkt auf das Problem der Langzeitarbeitslosigkeit aufmerksam machen und auch Betroffene zu Wort kommen lassen wollte. Als die Linke auf den Plan aufsprang, sprang die SPD wieder ab, dafür fanden die Grünen die Idee plötzlich genial und wollten gar ein überparteiliches Bündnis gegen Langzeitarbeitslosigkeit schmieden. Die CDU war konsequent dagegen und die FDP entrüstete sich über „abstruse Vorstellungen“ und „rausgeschmissenes Geld“. „Das ist kalter Kaffee, damit können Sie keinen Hund hinter dem Ofen hervorlocken,“ kommentierte Carola Möllemann-Appelhoff seinerzeit den Vorstoß.

In einer wohlhabenden Stadt wie Münster ist es nicht einfach, offensiv mit der eigenen Hartz IV-Geschichte umzugehen. Die Menschen ziehen sich in ihre Nischen zurück, da sie gesellschaftlich ganz unten sind. Und sie erleben täglich, wie sehr es auffällt, wenn jemand bei den üblichen Konsumausgaben nicht mithalten kann. Arbeit finden aber vor allem diejenigen, die Leute kennen und selbstbewusst auf die eigenen Fähigkeiten vertrauen,“ erläutert Professor Dieter Hoffmeister vom Sozialwissenschaftlichen Institut der Uni Münster, der nach Bierstedt das Wort ergreift, die Sicht des Wissenschaftlers. Er hat sich seit Jahren mit der Armutsentwicklung in Münster beschäftigt und eine Reihe von Publikationen zu dem Thema vorgelegt.

Ratsbeschluss wegen stagnierender Zahlen

Dass am Ende ein Beschluss für eine Plakataktion zustande kam, liegt auch an der seit Jahren stagnierenden Zahl von ca. 9.000 „Langzeitleistungsbeziehern“ in Münster. Die Problemgruppen: Ältere, junge Leute ohne Ausbildung, Menschen mit Migrationshintergrund und Alleinerziehende sind seit langem bekannt, doch gibt es bisher nicht die regionalspezifischen Rezepte, nicht das Zusammenspiel lokaler Akteure, nicht die passgenaue Vernetzung, die der kommunalen Betreuung die besseren Ergebnisse beschert hätten, obwohl genau dies der Sinn des Modells Optionskommune war, weshalb das SGB II für diese eigens die sogenannte „Experimentierklausel“ enthält. Eine Ausbildungsinitiative für junge Leute hat einige Erfolge gebracht, man bemüht sich verstärkt Alleinerziehende durch Betreuungsangebote zu unterstützen und der neu organisierte Arbeitgeber-Service versucht sich im Aufbau einer Jobbörse, alles bewährte Maßnahmen, aber doch eher ausgetretene Pfade.

Ansonsten hat das Jobcenter sich längst aus der eigentlichen Arbeitsberatung zurückgezogen; die Jobcoaches sind von ihrer pädagogischen Mission durchdrungen, und was der Mensch nicht mehr leisten kann, wird in Form der sogenannten „ABC-Messung“ an den Computer delegiert: Eine Mischung aus Verhaltens- und Berufsforschungstest, nicht allzu tiefschürfend, generiert ein überschaubares Handlungsfeld statt verworrener Sehnsüchte. Projekte wie der soziale Arbeitsmarkt dümpeln seit Jahren vor sich hin, da als Anbieter ausschließlich soziale Träger in Frage kommen, was vor allem den Wohlfahrtskreislauf in Gang hält. Die freie Wirtschaft winkt von vornherein ab, sie kann mit Leuten, denen das Schild „Minderleister“ um den Hals hängt, nichts anfangen. Jedenfalls nicht, so lange sie für deren Arbeit bezahlen soll. Statt Experimentierfreude herrscht bestenfalls das emsige Bestreben, die eigene innere Organisation zu optimieren.

Doppelter Perspektivwechsel

Und die Politik?

Sie wiederholt gebetsmühlenartig, dass es vor allem Geringqualifizierte sind, die die Grundsicherung für Arbeitssuchende beziehen. Nein, es liegt nicht am Arbeitsmarkt, nicht am Hartz-System und nicht an der Tätigkeit der Jobcenter oder deren Verwandlung in pädagogisch-therapeutische Anstalten zur Beseitigung von "Vermittlungshemmnissen“. Es liegt daran, dass es zu viele gestörte, minderbemittelte oder unwillige Personen gibt, „Couch Potatoes“ eben, so die jahrelange Rhetorik. Bei dieser Art von „Marketing“ wundert es nicht, dass Langzeitarbeitslose zu Ladenhütern werden. Über 40 % sollen lt. Statistik Geringqualifizierte sein. Und was erfahren wir damit über die restlichen 60 %? Auch die Optionskommune Münster ist an ihrem lokalpatriotisch überhöhten Anspruch gescheitert, die Behörde im Stadthaus 2 eine Mischung aus Festung und Krake, in der sich die Mitarbeiter verkriechen und eine von Amts wegen verordnete Kleinkariertheit pflegen. Zehn Jahre nach Einführung der Hartz-Reformen folgt die Debatte dem immer gleichen Ritual: Die einen klagen, die anderen mauern. Dazwischen wird tröpfchenweise Mitleid gespendet.

Dem will die Kampagne jetzt entgegentreten und einen doppelten Perspektivwechsel herbeiführen: Sie will zum einen den Bürgerinnen und Bürgern der Stadt Betroffene als Menschen von nebenan vorstellen und diesen zum anderen Mut machen, offen und ungeschminkt mit ihrer Situation umzugehen, um Vorurteile abzubauen.

Keine Wunder erwartet

Ob sich unter die Gästeschar im Foyer des Stadthauses 2 ein paar Langzeitarbeitslose eingeschlichen haben, kann nicht ausgeschlossen werden, outen wird sich hier sicher niemand. Einige Besucher, die auf dem Weg in die Tiefe des Gebäudes das Foyer durchqueren, huschen hastig vorbei, als wollten sie nicht gesehen werden. Amtsleiter Bierstedt betont denn auch, dass man keine Wunder erwarte. Natürlich wird sich niemand von Stund an um diese Klientel reißen, aber man verspricht sich doch einen kleinen Schub bei der Vermittlung, erklärt er geduldig im anschließenden Smalltalk mit der lokalen politischen Klasse. Es gehe darum, ein Klima des Wohlwollens und des Verständnisses zu schaffen; Resonanz und Feedback werde man später bewerten.

Wenn Sie einem Kind ständig sagen, dass es für alles zu dumm und zu blöd ist oder glauben, dass man Schulprobleme durch ständiges Bestrafen beseitigen kann, werden Sie bald feststellen, dass das Kind nicht besser lernt sondern sich immer weniger anstrengt,“ erklärt Petra Seyfferth, sozialpolitische Sprecherin der SPD, ganz pädagogisch ihre Sicht der Dinge.

Positive Diskriminierung ist wichtig für Langzeitarbeitslose“, pflichtet ihr Martin Scholz von der Linken ein wenig grimmig blickend bei. "Es wäre natürlich besser gewesen, das Kind nicht erst in den Brunnen fallen zu lassen ...“

Wir müssen den Langzeitarbeitslosen wieder ein Gefühl von Normalität geben, das ist das Beste, was wir für sie tun können,“ wagt Professor Hoffmeister einen letzten Appell.

Bierstedt nickt, doch ist ihm das Unbehagen ins Gesicht geschrieben. Ob ihm die Kampagne wirklich ein Anliegen ist, darf bezweifelt werden.

Am Ende läuft alles schnell auseinander, auch anderen Unterstützern der Aktion scheint ein wenig mulmig zumute zu sein, fast als habe man Angst vor der eigenen Courage. Ist die Kampagne für Münster nicht doch zu innovativ, macht man sich gar lächerlich? Kann man es wirklich wagen, sich zum Sprachrohr dieser Geächteten zu machen? Oder passt es nicht besser zur bisherigen Linie, den Schritt in Richtung Null-Euro-Jobs zu gehen, wie im SPD-regierten Hamburg angestrebt? Sozialdezernent Thomas Paal hat in der ersten Sitzung des Sozialausschusses nach der Sommerpause am vergangenen Mittwoch schon mal eine „Andeutung“ gemacht, man werde sich im nächsten Jahr wohl zusammensetzen müssen, um über neue Maßnahmen nachzudenken. Also erst die Plakatkampagne und dann die Null-Euro-Jobs für Münster?

Für die Fortsetzung der Aktion werden noch weitere Langzeitarbeitslose gesucht, da die aktuellen Motive in einigen Wochen gegen neue ausgetauscht werden sollen. Auch eigene Wünsche können in die Gestaltung eingebracht werden, wie Jakob Schneider versichert. Interessierte melden sich unter der Tel.-Nr. (0251) 60918300 bei der Stadt Münster oder wenden sich an ihren Jobcoach.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Ribanna Rubens

oder Tote dürfen länger schlafen.

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