Jobcenter: Wer wirft denn da mit Dreck?

RR. Langzeitarbeitslose sollen büßen, so will es der Zeitgeist. Entzieht sich jemand der Strafe, greift das Jobcenter ein. „Hartz-die-Rose-blüht“ diskutierte. Eine Glosse.

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Etwa ein Drittel der ca. 9.000 in Münster registrierten Langzeitleistungsbeziehenden oder Hilfebedürftigen, wie sie amtlich heißen, gehen einer vollen oder teilweisen Erwerbstätigkeit nach. In letzter Zeit häufen sich nun Klagen über Fälle, in denen

Wer wirft denn da mit Dreck? Foto Montage RR

das Jobcenter Kontakt zu den Arbeitgebern dieses Personenkreises aufgenommen hat und zwar, um Einkommensnachweise anzufordern. Unnötigerweise aufgenommen hat, lautet der Vorwurf, da nicht alle Arbeitgeber von dem Leistungsbezug ihrer Beschäftigten wussten und die Höhe des Einkommens auch auf anderem Weg nachgewiesen werden kann. Betroffen sind Minijobber, aber auch Aufstocker, die Hartz-Leistungen ergänzend zu einem regulären Arbeitsverhältnis beziehen. Die vermuteten Indiskretionen bilden seit einiger Zeit ein wiederkehrendes Thema in den verschiedenen Erwerbsloseninitiativen der Stadt und führten zu neuer Verärgerung über die Praktiken des Jobcenters. In der Begegnungsstätte Sprickmannstraße traf sich gestern die Initiative „Hartz-die-Rose-blüht“, um gemeinsam mit Interessierten und Unterstützern über das Thema zu diskutieren. Motto der Veranstaltung: Hartz verheimlichen oder nicht - ist das noch die Frage?

Der Wunsch, Hartz zu verheimlichen

Der Wunsch, den Bezug von Hartz-Leistungen zu verheimlichen, ist groß. Dies gilt ganz besonders für den Arbeitsplatz, sofern man denn überhaupt einen hat, darin waren sich alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer einig. Und das mit gutem Grund, wie Immi Kranewinkel, zuständig für das Organisatorische der Gruppe, in ihren einleitenden Bemerkungen betont. Jahre, womöglich Jahrzehnte vorbildlicher Tätigkeit seien wie ausgelöscht, sagte die 50-Jährige, wenn das Aus am Arbeitsmarkt kommt. Für andere gebe es gar nicht erst die Chance einer Bewährung.

Neben Geldmangel und dem Verkümmern von Fähigkeiten macht uns vor allem das soziale Abseits zu schaffen. Denn machen wir uns nichts vor: Den einen ist es ganz einfach peinlich, einem Hartz-IV-Empfänger zu begegnen, die anderen reagieren mit Gehässigkeit.“

Für viele sei der Minijob eine Notlösung, um wenigstens teilweise die Fassade des normalen Lebens aufrecht zu erhalten. Wenn der Arbeitgeber und die Kolleginnen und Kollegen am Arbeitsplatz von der staatlichen Unterstützung nichts erfahren sollen, würden Schutzwälle um das eigene Privatleben herum aufgebaut und Vorwände und Ausreden erfunden, um die Hartz-Misere zu verschleiern.

Ich war so froh, wenigstens diesen Minijob zu haben nach anderthalb Jahren Arbeitslosigkeit. Aber die Parfümerie, das ist ein exklusiver Laden, die hätten mich doch nie genommen, wenn von Hartz die Rede gewesen wäre,“ ergreift eine aufgebracht wirkende Frau namens Lilo sofort das Wort. „Die Leute denken doch gleich, man ist eine Proletin, die nichts gebacken kriegt. Ich habe so getan, als wäre ich durch meinen Partner versorgt, alle waren nett und zuvorkommend, es hat mir so gut getan. Dann ist es doch herausgekommen,“ seufzt die schwarz gekleidete Blondine mit einem feuchten Schimmer in den Augen.

Ihr Sitznachbar, ein bärtiger Mann namens Paul, tätschelt ihr ermunternd den Arm. Die anderen blicken teilnahmsvoll.

Ich glaube, das Jobcenter hat unsere Chefin wegen einer Einkommensbescheinigung angeschrieben. Sagen wollte natürlich niemand was, woher sie es wussten. Aber alle wussten es plötzlich …“

Die dunkelhaarige Elena weiß von ähnlichen Erfahrungen zu berichten. Eigentlich hält die Sozialpädagogin nichts davon, Hartz zu verheimlichen, aber als sie, von Absagen frustriert, einen stundenweisen Honorarjob bei einem Archivdienst annahm, obwohl die Bezahlung zum Leben nicht reichte, erzählte sie ihrem Arbeitgeber vorsichtshalber nichts von ihrem Absturz in die Grundsicherung nach etlichen Jahren Projekttätigkeit in Einrichtungen für Jugendliche mit zusätzlichem Förderbedarf. Stattdessen gab sie an, sie betreue nebenbei selbstständig Probanden für wissenschaftliche Studien und suche nur nach einer finanziellen Ergänzung, was ihr trotz einer wenig anspruchsvollen Tätigkeit als Aktenaufbereiterin zu einem gewissen Ansehen verhalf.

Ein halbes Jahr ging alles gut. Dann änderte sich das Klima am Arbeitsplatz.

Plötzlich wurde in meinem Kollegenkreis ausfallend oft über Sozialschmarotzer geredet und dass es in Deutschland zu viele Leute gebe, die dem Staat auf der Tasche lägen. Zuerst dachte ich, ich bilde mir das ein“, berichtet die 42-Jährige lebhaft, „wenn ich mich an Gesprächen beteiligte, wurde entweder gar nicht geantwortet oder so getan, als hätte ich was Blödes gesagt, alles wurde kritisiert und in Frage gestellt, als würde man mich nicht mehr ernst nehmen. Als ich meinen Urlaub erwähnte, sagte eine Kollegin zu mir: Was? Du willst schon wieder verreisen? Kriegst du nicht Geld vom Staat? Es war furchtbar.“

Armut als Strafe

Wer die Grundsicherung für Arbeitssuchende beantragt, muss Auskunft über Vermögen und Einkünfte erteilen. Bezieht jemand ein teilweises Einkommen aus einer Erwerbstätigkeit, war es nach Einführung der Hartz-Gesetze zunächst üblich, eine vorgedruckte, vom Arbeitgeber ausgefüllte Einkommensbescheinigung vorzulegen - es musste also zwingend das Formular des Jobcenters verwendet werden, was bedeutete, dass der Arbeitgeber in jedem Fall von dem Leistungsbezug erfuhr. Gleiches galt für die Mietbescheinigung, für die ebenfalls ein Formular zum Einsatz kam, auf dem groß der Briefkopf des Jobcenters prangte.

Die Absicht war natürlich klar: Man wollte den Menschen möglichst viele Demütigungen zufügen in der Hoffnung, sie würden dann die Leistung nicht beantragen,“ hakt Claudia Csiszér von der Zeitschrift Sperre ein. „Dieser Umgang erinnert an die frühneuzeitliche Bettelpolitik, als Armut noch als Strafe Gottes galt und durch Zucht und Ordnung eingedämmt werden sollte.“

Die Schelte kommt gut an. Die Runde wirkt elektrisiert.

Schuld und Strafe, das ist die Lieblingsgeschichte der Deutschen,“ meldet sich der bärtige Paul, ein arbeitsloser Küchenhelfer, zu Wort. „Scheitern ist schon schlimm, aber schlimmer ist das ständige Treten nach Leuten, die sowieso schon am Boden liegen. Selbst wenn die Leute schon am Rande des Grabes stehen, wird noch darüber nachgedacht, ob man ihnen was Unverdientes wegnehmen kann. Waren wir eigentlich schon immer so kleingeistig?“

Münster wollte doch unbedingt Optionskommune sein,“ wirft der schmächtige Karel, der als langjähriger Korrekturleser nicht mehr unterkommt, mit grollender Stimme ein. „Beratung, Betreuung, alles aus einem Guss, sollte angeblich bessere Ergebnisse bringen. Alles Quatsch. In Wirklichkeit hat man gedacht, dass die Arbeitsagentur ganz einfach zu lasch ist und viel zu großzügig mit den Arbeitslosen umgeht. Man wollte dem faulen Gesocks mal richtig zeigen, wo 's lang geht, Daumenschrauben anlegen, bis das Blut rausspritzt, trietzen, bis die Schwarte kracht. Erst als die Stadt ein paarmal juristisch auf die Schnauze gefallen ist, hat man plötzlich auf menschenfreundlich gemacht, Respekt, Achtung, wir wollen helfen und so, fortschrittliches Menschenbild, totaler Blödsinn. Wenn die Gelegenheit da wäre, würde man auch heute noch die Arbeitslosen mit Schimpf und Schande aus der Stadt verjagen, da soll sich keiner was vormachen …“

Dem Ausbruch folgt ein kurzes Schweigen.

Das ist vielleicht etwas krass,“ wendet dann die schmallippige Kathrin, während sie ihr Smartphone beiseite legt, mit kühler Miene ein. Über ihre verlorene Stelle in einer kleinen Textil-Werkstatt spricht sie, als wäre der Abschied gestern gewesen und nicht schon vor mehr als einem Jahr. „Ich war selber in der SPD, als das im Rat beschlossen wurde, wir haben da lange drüber diskutiert ….“

Also mein Jobcoach ist sehr nett, wirklich,“ wagt auch die alleinerziehende Steffi fast schüchtern klingend zu widersprechen. „Vielleicht kriege ich bald einen Teilzeit-Ausbildungsplatz ...“

Karel quittiert es mit einem Schulterzucken.

Dennoch habe sich diese vormoderne Pädagogik über die ursprüngliche Zielgruppe hinaus ganz generell als nützlich erwiesen, fährt Claudia Csiszér, als keine weiteren Wortmeldungen kommen, schließlich fort:

Die Deutschen sind keine Kämpfer, was ihre Rechte im Konflikt zwischen Arbeit und Kapital angeht. Sie ducken sich lieber weg statt offen zu protestieren. Wenn es der Wirtschaft gutgeht, dann geht es allen gut, das ist noch immer in den Köpfen drin.“

Diskriminierung oder Verfolgungswahn

Seit einer Lockerung der Bestimmungen vor einigen Jahren akzeptieren die Jobcenter inzwischen in aller Regel auch die Vorlage der monatlichen Gehaltsabrechnung zusammen mit einem Kontoauszug, aus dem der Zahlungseingang hervorgeht. Soll wegen etwaiger Unklarheiten ausdrücklich eine Bescheinigung des Arbeitgebers vorliegen, wird zunächst der oder die Leistungsberechtigte selber angesprochen und damit beauftragt, diese einzuholen, so dass man zur Not versuchen kann, sich mit dem Jobcenter zu einigen.

Zumindest weiß man jedoch, welche Informationen über die eigene Person beim Arbeitgeber vorhanden sind“, beschreibt Arnold Voskamp, der für das Sozialbüro des CUBA an der Veranstaltung teilnimmt, die gängige Praxis.

Dass das Jobcenter gewissermaßen hinter dem Rücken seiner „Kunden“ und ohne deren Wissen einen solchen Beleg auf eigene Faust einholt, ist eher selten und gilt nur in Fällen als gerechtfertigt, in denen ein Verdacht auf Leistungsmissbrauch besteht.

Gibt es also Hinweise darauf, dass in Münster verstärkt Einkommensnachweise angefordert werden oder leiden die Betroffenen ganz einfach aufgrund der ständigen Erfahrung von Diskriminierung an einer Form von Verfolgungswahn und suchen die Ursachen da, wo sie womöglich gar nicht liegen?

Auch dies sei nicht ganz ausgeschlossen, wie Arnold Voskamp einräumt. Als Berater erlebt er immer wieder, so seine Erklärung, dass Menschen auf die ihnen zugemutete Stigmatisierung hypersensibel reagierten und hinter jeder vielleicht harmlosen Bemerkung eine Anspielung witterten, eine Art Paranoia, die zu Misstrauen, Unsicherheit oder gar Feindseligkeit führe. Auch deshalb kapselten sich die Leute ab.

Manche öffnen nicht die Tür, versuchen keine Geräusche zu machen und gehen nicht ans Telefon, damit niemand merkt, dass sie tagsüber zu Hause sind. Bekanntschaften werden abgebrochen oder gar nicht erst aufgenommen, damit andere nicht erfahren, wie es um einen steht.“ Dabei hinterlasse der Hartz-Bezug ganz andere Spuren:

Wer immer nur ein Bier bestellt, während andere eine große Zeche machen, wer immer das gleiche ausgetretene Paar Schuhe trägt und selbst ein schrottreifes Fahrrad noch reparieren lässt, der fällt irgendwann auf, auch ohne dass ausdrücklich von Hartz die Rede ist. Mir hat mal jemand erzählt, dass er das Klopapier zweimal zu benutzen versucht, um zu sparen. Das sind so Verhaltensweisen, die exotisch wirken ...“

Für ihre Rolle als Arbeitssuchende sei das alles nicht günstig.

Für die 39-jährige Doris stellte sich das Problem der Geheimhaltung von einer anderen Seite aus dar. Die Buchhalterin hatte einen Freund, ein Beamter beim Zoll, mit dem sie zusammenziehen wollte, als Hartz dazwischen kam. Weil die Zusage für eine neue Stelle nicht eingehalten wurde, flog sie aus dem ALG I raus und bezog für kurze Zeit die Grundsicherung. Nebenbei putzte und kellnerte sie in einem Minijob, da ihre Wohnung zu teuer war und nicht voll übernommen wurde. Als sie die neue Situation bei Obsttorte mit Schlagsahne im Familienkreis ihres Freundes schilderte, löste die Mitteilung erschrockenes Schweigen, dann gequälten Zuspruch aus. Hinterher machte ihr Freund ihr eine wütende Szene.

Ob ich mich nicht schäme, sowas rum zu erzählen, sagte er zu mir. Danach wirkten seine Angehörigen immer irgendwie blockiert mir gegenüber, obwohl ich ziemlich schnell eine neue Stelle fand, wo ich auch heute noch beschäftigt bin. Kurz darauf trennte sich mein Freund von mir. Er hat diesen Schock nicht verkraftet.“

Enttäuschung schwingt in ihrer Stimme mit, die sie mit betonter Heiterkeit zu überspielen versucht.

Wie schnell das geht. Er selber hat mir nie irgendwelche Hilfe angeboten.“

Für sich selber sprechen

Der Versammlungsraum liegt im Erdgeschoss, mit einer breiten Glasfront zur Straße. Ein spartanischer Ort, wie so viele dieser Art, lose gruppierte Tische und Stühle wie in einer einfachen Kantine, ein paar Flaschen Mineralwasser und Gläser stehen bereit. Es ist früher Abend, eine falsche Sonne zaubert aus einem unwetterblauen Himmel ein paar letzte Strahlen hervor, bald wird jemand das Licht einschalten. Vor der Fensterfront gehen vereinzelt Passanten vorbei, manche schauen mit einem Anflug von Neugierde hinein, wissen vielleicht, dass sich hier die treffen, die gesellschaftlich tot sind, Zombies, die nicht mehr respektabel sind und deren Existenzberechtigung in Frage steht.

Drinnen sitzt man abgeschirmt.

Die Anwesenden, um die 20 Personen, haben sich im Viereck gruppiert, mehr Frauen als Männer sind erschienen, alle wirken konzentriert, manche fast angespannt. Lilo, die schwarz gekleidete Blondine, hat vielleicht schon Enkelkinder, denen sie gern etwas zusteckt. Von Elena, hübsch und graziös, kann man sich kaum vorstellen, wie sie hier landen konnte. Paul wirkt für heutige Verhältnisse ein wenig zu phlegmatisch und Karel dürfte ein Mensch mit Hang zur Tiefsinnigkeit, wahrscheinlich ein ordnungsliebender Grübler sein. Man wundert sich, woher er die sprachliche Eloquenz nimmt, mit der er hin und wieder auftrumpft. Immi gibt sich rührig, um alles und jeden besorgt, die umsichtig nachsichtige Truppenmutter. Steffi? Pausbäckig, großbusig, modische Brille mit schwarzem Rand, nuckelt lässig an ihrem Coffee-to-go und scheint eigentlich ganz zufrieden zu sein.Wenn sie nicht gerade auf dem Seziertisch diverser Planungs-, Förderungs, Evaluierungs- und Begutachtungsmaßnahmen des Jobcenters liegen, wirken sie alle erstaunlich normal, ganz und gar durchschnittlich, genau die Leute, die man tagtäglich in Büros, Betrieben, Ämtern und Behörden, auf den Straßen und in den Geschäften trifft. Ein Hauch von Bedrückung, von Schwermut, aber auch Euphorie liegt im Raum. Für die Anwesenden geht es um viel, es geht um sie, um ihr Anliegen, um den Versuch, sich zu solidarisieren, zu organisieren und der Vereinzelung etwas entgegen zu setzen. Es geht um Aufbruch und Ausbruch und vor allem darum, endlich wieder für sich selber zu sprechen …

Aus der Zeit gefallene Pädagogik …

Welche Sozialleistungen der Staat gewährt, ist letztlich eine Frage der Übereinkunft, also der sozialen Kultur. Die kann man natürlich beeinflussen und in die gewünschte Richtung lenken, ein Prozess, an dem auch die Medien beteiligt sind. Einer erwünschten Zielsetzung werde dann schnell ein pseudo-moralisches, legitimatorisches Mäntelchen umgehängt, eine andere verteufelt, nimmt Claudia Csiszér den Faden wieder auf.

Niemand wird es den Beziehern von Kindergeld, Wohngeld, Bafög oder Elterngeld verübeln, dass sie staatliche Unterstützung in Anspruch nehmen, obwohl manche Begünstigte aufgrund ihres Alters dem Staat noch kaum Einnahmen in die Sozialkassen beschert haben. Niemand rechnet nach, wer Fördergelder, Subventionen oder Beihilfen in Anspruch nimmt.“ Dagegen sei die Unterstützung von Menschen, die sich nicht Zeit ihres Erwerbslebens auf dem Arbeitsmarkt behaupten könnten, mit Giftpfeilen gespickt.

Wer Hartz IV bezieht, soll wenigstens in Sack und Asche gehen, so will es zweifellos eine Mehrheit der Deutschen. Und so wird es auch in den Jobcentern erwartet. Ein selbstbewusstes Auftreten erregt daher schnell Anstoß und ein Langzeitarbeitsloser, der gute Laune verströmt, ach alles super, das Leben ist schön, ist völlig unmöglich, geradezu ein Affront gegenüber der Gesellschaft, die ihn finanziell unterstützt.“

Auch die sich zunehmend nur noch über Arbeitserfüllung definierende Gesellschaft sei in eine Art Paranoia verfallen. Die einen, die mit der halbwegs gelungenen Erwerbsbiografie, gönnten denen, deren ökonomische Tüchtigkeit nicht so vorbildlich sei, das Schwarze unter den Nägeln nicht mehr.

Die Arbeitslosen büßen auch dafür, dass die Arbeitenden sich zunehmend ausgenutzt fühlen und echte gesellschaftliche Aufstiegsperspektiven fehlen. Jedenfalls für die, die nicht schon von Haus aus begünstigt sind. Was kann oder soll Mann, Frau in einem langen Erwerbsleben heute noch erreichen? Arbeitslosigkeit vermeiden, das Geld für irgendwelchen Plunder zum Fenster rauswerfen und am Ende eine Mini-Rente. Na toll …“

Rattattatta und alles weg ...

Es ist diese aus der Zeit gefallene Pädagogik, die Menschen verändert und erhebliches Leiden verursacht, glaubt Immi Kranewinkel, die ihre neue Rolle sichtlich genießt. Wie sonst könne es sein, dass vorher friedfertige Leute plötzlich voller Hass seien, wenn die Rede auf das Jobcenter komme. Die Menschen zeigten keinerlei Dankbarkeit, was man eigentlich erwarten dürfte, da der Staat sie, wenn nicht großzügig, so doch einigermaßen zuverlässig versorgt. Das Gegenteil sei der Fall.

Manchmal erzählen mir Leute, sie möchten am liebsten das ganze Jobcenter killen: rattattatta und alles weg“, gesteht die umgeschulte Bürokauffrau eine Spur verlegen. „Natürlich nicht wirklich“, setzt sie hastig hinzu, „aber es spielt sich doch etwas in der Fantasie ab und man fragt sich, wie kann eine Behörde solche Gefühle hervorrufen.“ Zum Glück passiere ja selten wirklich was, aber immerhin patrouilliert auch im Jobcenter Münster inzwischen ein privater Sicherheitsdienst. Das müsse doch eine Ursache haben.

Hartz ist wie eine eigene Welt, über die wir mit anderen nicht sprechen können. Man bleibt entweder ganz unter sich oder man hat immerzu das Gefühl zu lügen. Man lügt und lügt und lügt. Das trennt unheimlich, dieses Gefühl sich ständig verstellen, anderen was vormachen zu müssen. Und immer hat man das Gefühl, die anderen wissen, dass man lügt. Es ist furchtbar quälend ...“

Er persönlich halte Offenheit zwar für besser, ergänzt Arnold Voskamp, aber weniges falle Menschen so schwer, wie liebgewonnene Vorurteile zu revidieren. Laut Statistik hat jeder vierte Deutsche seit Bestehen der jetzigen Form der Grundsicherung wenigstens einmal selber Bekanntschaft mit Hartz IV gemacht, d.h. eigentlich müsste jeder in seinem Umfeld jemanden haben, der davon betroffen ist.

Aber fragen Sie mal herum, Bekannte, Arbeitskollegen, das durchschnittliche gesellschaftliche Mittelfeld. Da meldet sich keiner. Niemand will irgendeine persönliche Erfahrung mit dem Phänomen eingestehen. Es könnte was an einem hängenbleiben.“

"Danach wurde ich ständig angemacht und halb gehässig, halb mitleidig behandelt. Du kannst ja morgens lange schlafen oder so ähnlich, damit tat sich eine Kollegin besonders hervor“, erinnert sich Lilo mit vor Aufregung und Anspannung hochrotem Gesicht. „Anfangs hoffte ich noch, es würde vergehen, aber es verging nicht. Plötzlich sollte ich nicht mehr allein im Laden sein, nicht mal für kurze Augenblicke in der Mittagspause, was so auffällig geregelt wurde, dass ich es auf jeden Fall merken musste. Als würde ich mal eben schnell mit der Kasse durchbrennen. Die spinnen doch alle ….“

Sie tippt sich an die Stirn.

Ihr zunächst auf ein Jahr befristeter Job wurde nicht verlängert, obwohl das vorher so abgesprochen war und sie habe auch nicht nachgefragt. Nach einem Jahr ist sie sang- und klanglos gegangen.

Dabei hat mir diese Scheißfirma nicht mal Urlaub und Lohnfortzahlung bezahlt, obwohl das doch rechtlich vorgeschrieben ist. Es ist alles so gemein ...“ Fast kommen ihr die Tränen.

Indiskretionen

Das Jobcenter hat bereits erklären lassen, man halte sich an die gesetzlichen Vorschriften. Weitere Angaben machte die Behörde nicht. Dennoch berichten Betroffene immer wieder, dass sich trotz größter Vorsicht das Wissen um Harz-IV auf geheimnisvolle Weise in ihrem Umfeld zu verbreiten scheint.

Kathrin war viele Jahre in einem Arbeitskreis der SPD zur Sozialpolitik engagiert, bevor sie selbst die Grundsicherung bezog. Mitglied der Partei ist die 54-Jährige seit über 30 Jahren. Die Arbeit als Textilgestalterin war ihr Traumjob. Jetzt bleibt ihr vielleicht noch die Auswahl zwischen Callcenter und Putzen - oder eben dauerhaft Jobcenter.

Ich kann kaum noch glauben, wie ahnungslos ich war, wenn es um Hartz IV ging“, sagt sie heute. Sie hatte sich einige Male heftig aufgeregt, als im Arbeitskreis über die Umschichtung von Eingliederungsmitteln in den Verwaltungshaushalt oder über die Einführung der ABC-Messung zur Erstellung von Eignungsprofilen gesprochen wurde. Dass sie selber die Grundsicherung bezog, wusste niemand. Glaubte sie jedenfalls ….

Petra, unsere Vorsitzende, sprach über Langzeitarbeitslose, als wären es Labormäuse, an denen man dieses oder jenes „Instrument“ ausprobieren kann. Sie hat öfters mit dem Leiter des Jobcenters telefoniert und diese Messung aus Jux selber durchgeführt. In der Sitzung wurde über die Ergebnisse gelacht und gekichert, als wäre das eine Art Idiotentest, alles furchtbar lustig. Ich hab' mich richtig beleidigt gefühlt und sie ziemlich scharf angepfiffen ...“

Als Kathrin plötzlich nicht mehr eingeladen wurde, fragte sie per Mail bei der Vorsitzenden nach. Ein Versehen, schrieb diese zurück, und sie werde wieder in den Verteiler aufgenommen. Doch es kam keine Einladung mehr. Eine andere Genossin verriet ihr dann unter der Hand, sie habe etwas munkeln gehört, von wegen Kathrins Verhalten würde als unsachlich empfunden und sie sei wohl zu persönlich betroffen.

Keine Ahnung, wie sie davon erfahren haben. Die Ratsleute haben doch alle gute Kontakte in die Verwaltung und in dem Arbeitskreis saß eine Frau, die beim Jobcenter beschäftigt ist. Zuerst wollte ich darauf bestehen weiter mitzuarbeiten, aber ich hab' mich einfach nicht getraut. Wer bin ich, wenn ich Hartz-IV beziehe.“

Ein waidwunder Blick streift die Runde. Die Fassungslosigkeit über die Zerstörung ihrer beruflichen Identität scheint ihr fast peinlich zu sein.

Die SPD wolle mit den Folgen ihrer früheren Politik nichts mehr zu tun haben, es sei ihr lästig, das merke man überall in der Partei, konstatiert sie mit einem Unterton von Bitterkeit. Wer nicht auf einen sicheren Job verweisen kann, habe dort sowieso nichts zu melden. Sie überlegt, ob sie austreten soll, hängt aber an den paar Pöstchen, die ihr noch geblieben sind.

Es heißt, wir wären politisch inaktiv, dabei will uns ganz einfach keine Partei haben, außer der Linken vielleicht“, redet sich Immi Kranewinkel in Rage. „Sobald jemand weiß, dass du Hartz IV beziehst, kannst du nirgendwo mehr mitreden, geschweige denn dich für ein Amt bewerben. Klar, wenn es darum geht, bei Wahlen anonym das Kreuzchen zu machen, dann stinken auch unsere Kreuzchen nicht, aber so dämlich sind wir denn doch nicht …“

Zweierlei Maß ....

Solange man in alle Töpfe einzahlt, ist man dem Staat gut genug, aber wehe, man kann nicht mehr gemolken werden“, klagt Lilo in einer neuen Aufwallung von Entrüstung. Sie selber hat nach der Parfümerie keinen neuen Job mehr gesucht, sie halte das nicht aus, sagt sie, diese ständige Gehässigkeit, die sich um einen herum verbreite.

Man steht sich sowieso besser, wenn man nebenbei Putzen geht. Dann stimmt es so notdürftig.“

Mit Schwarzarbeit wäre ich vorsichtig,“ meldet sich Ulrich, ein bulliger Typ, dessen Einkommen als Fahrer für die Familie nicht reicht, eine Spur besserwisserisch zu Wort. „Am Ende ist die ganze Unterstützung futsch.“

Lilo wehrt sich heftig. Sie mache das nicht, betont sie, aber sie kenne ganz viele, die es so machten und die sähen das als „Notwehr“ an. Ihr werde jeder Fehler vorgehalten, aber dass ihr Arbeitgeber ihr den gesetzlich vorgeschriebenen Urlaub nicht bezahlt hat, darüber rede niemand. Und diese Praxis sei weit verbreitet. Da werde derart mit zweierlei Maß gemessen, dass sie sich zu nichts mehr verpflichtet fühlt.

Ich nehme jetzt, was mir zusteht, und der Rest geht mir am Arsch vorbei“, begründet sie ihre neue Einstellung. „Das sind doch alles Schweine ...“ Die Stimme versagt ihr vor Zorn.

Waren wir uns nicht einig, dass wir endlich aus dieser Opfer- und Klageecke raus wollten,“ mahnt Paul leicht ungeduldig an. „Für andere ist das bloß Gejammere, das interessiert wirklich keine Sau, wir machen uns damit bloß klein, wie Bittsteller.“

Ich dachte, wir wollten uns politisch mehr einbringen, mal selber was auf die Beine stellen“, schließt sich Kathrin voller Eifer an. „Also einen Beirat für Arbeitslose im Rat der Stadt, so nach dem Muster von Senioren- und Integrationsrat, das fände ich toll. Das würde sich doch lohnen, dafür zu kämpfen …“

Oder ein Hartz-Theater …“, fällt Elena ein.

Auch die Jobcenter haben inzwischen dazugelernt“, versucht Arnold Voskamp zu schlichten. „Anscheinend begreifen die Verantwortlichen allmählich, dass das schlechte Ansehen ihrer Klientel am Ende auf sie zurückfällt.“

Ich war fast 30 Jahre berufstätig und hatte Erspartes für die Altersvorsorge. Das ist alles weg. Ständig wird über irgendwelche Demonstrationen gegen Ausgrenzung gefaselt, ich kann es nicht mehr hören. Bloß uns vergessen sie, bloß wir sind nicht gemeint, alles Lüge, alles Betrug. Ich würde auch Hitler wählen, wenn ich dann endlich was zu sagen hätte“, ereifert sich Lilo höhnisch.

Jetzt hör aber auf, jetzt ist es aber gut, das wollen wir hier nicht hören,“ fallen ihr fast gleichzeitig mehrere Anwesende ins Wort.

Andere schweigen schockiert. Oder weil sie insgeheim das Gleiche denken?

„Also mein Jobcoach ist wirklich sehr nett, sie will ...“, setzt Steffi ein weiteres Mal an.

Ich scheiß' auf deinen Jobcoach. Und überhaupt, wie kann man in deinem Alter arbeitslos sein?“ kanzelt Lilo sie gereizt ab.

„Lassen Sie Ihre schlechte Laune nicht an mir aus," schnappt Steffi bissig zurück.

Jetzt geht’s los, die Solidarität der Frauen ...“, wirft Karel grinsend dazwischen

„Sind wir nicht alle per du?", flüstert Elena ihm zu.

Ich bitte doch nicht laut zu werden,“ versucht Immi Kranewinkel nachdrücklich und mit ernster Miene das aufkommende Unbehagen zu beschwichtigen. „Wirklich, bei allem Verständnis, aber ein paar Regeln müssen wir schon beachten, bei allem Verständnis ....“

Das Schweigen ist jetzt komplett.

Auch Lilo schweigt mit gesenktem Blick. Wirklich überzeugt wirkt sie nicht. …

Wie ist das eigentlich mit dem Mindestlohn?“, versucht Paul das Thema zu wechseln. „Überall steht, Langzeitarbeitslose bekommen keinen gesetzlichen Mindestlohn, so als wäre das gar nicht erlaubt ...“

Es müsste heißen, sie haben die ersten sechs Monate lang keinen Anspruch darauf, aber jeder Arbeitgeber kann natürlich freiwillig den Mindestlohn zahlen“, gibt Arnold Voskamp Auskunft.

Silvia, die sich bisher noch nicht gemeldet hat, hebt entschlossen den Finger. „Und wie weiß mein Arbeitgeber überhaupt davon, ich meine, gibt es irgendein Gesetz, das mich zwingt, meinem Arbeitgeber zu sagen, dass ich Hartz IV kriege? Was ist, wenn ich das nicht angebe und es kommt später raus? Kann er dann im Nachhinein sagen, er hätte mir nur 5 Euro Stundenlohn bezahlt, wenn er es gewusst hätte und den Rest will er jetzt zurück?“, fragt sie mit forscher Stimme.

Verhaltenes Lächeln in der Runde, die Atmosphäre entspannt sich.

Man ist nicht verpflichtet, Transferleistungen bei der Einstellung anzugeben. Das ist zumindest die Position der Arbeitsagentur, soviel ich weiß. Aber die Gewerkschaften klagen auch über viele unklare Punkte, da liegt noch einiges im Argen“, beantwortet Arnold Voskamp die Frage.

Na das kann ja heiter werden“, spottet Paul.

Der Wind des Zeitgeistes ...

Fast drei Stunden sind vergangen. Die Mineralwasserflaschen sind leer getrunken, der Coffee-to-go-Becher liegt zerknüllt herum, eine gewisse Erschlaffung macht sich breit. Viele, vor allem die, die schweigsam geblieben sind, haben einen Ausdruck von Verstörung auf dem Gesicht, als wüssten sie nicht, was sie falsch gemacht haben und wofür sie bestraft werden. Draußen ist es dunkel geworden.

Immi Kranewinkel schließt die Veranstaltung: „Wir haben uns nichts vorzuwerfen und wir wollen uns nicht länger mit Dreck bewerfen lassen“, fasst sie die Diskussion zusammen. Nicken, Räuspern. Okay, damit sind alle einverstanden.

Stühle werden gerückt, Jacken und Schals ergriffen, Flaschen und Gläser in die kleine Küche getragen, man geht auseinander. Lilo stürmt ohne Abschiedsgruß als Erste hinaus. Andere blicken ihr halb mitleidig, halb besorgt hinterher, schütteln den Kopf.

Wie wird diese Epoche einmal im kulturellen Gedächtnis des Landes in 20, 30 oder 40 Jahren dastehen? Werden dann die Beschäftigten von den Jobcentern in einer Umwertung der Perspektive rückwirkend die Bösen sein und die heute Arbeitssuchenden von einer Orgie medialer Betroffenheit begleitet an Runden Tischen öffentlich ihre Wunden lecken? Vielleicht auf eine späte Entschädigung oder wenigstens etwas Genugtuung hoffend? Sind wir noch die humane Gesellschaft, für die wir uns halten, die wunderbare Demokratie, in der das Volk staatliches Handeln kontrolliert oder ist uns die Macht über entscheidende Bereiche längst entglitten? Falls wir sie je hatten. Dürfen wir womöglich nur noch da mitbestimmen, wo es die Mächtigen ohnehin nicht stört, da, wo sie uns die Demokratie als Spielwiese überlassen? Findet unter der noch immer glänzenden Oberfläche unseres Landes ein Prozess schleichender Verarmung und Entrechtung statt, wie so viele behaupten, oder geht der Drang nach Überfluss ins Maßlose? Und sind wir von einer Mischung aus scheinbar übermächtigen Verhältnissen und subtiler Meinungsmache so benebelt, dass wir bloß noch das wollen, was wir sollen, damit die Machtmaschine so läuft, wie es einigen wenigen nützt?

In 30, 40 Jahren werden wir die Antworten in den Geschichtsbüchern nachlesen können. Vielleicht jedenfalls, wir wollen es hoffen. Heute blüht die Rose in ihren schönsten Farben. Sie blüht und blüht und blüht …

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Ribanna Rubens

oder Tote dürfen länger schlafen.

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