Solidarität, das verlorene Versprechen der Demokratie

Corona Politik im Ausnahmezustand

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Das zweite Buch des italienischen Philosophen Giorgio Agamben aus dem bekannten Werk Homo sacer heißt Ausnahmezustand. Politik in Zeiten der Pandemie funktioniert nicht mehr nach “normalem” Regierungshandeln. Es ist der Ausnahmezustand, der den neuen Grundsatz der Gouvernementalität auszeichnet, das neue Gesetz schlechthin. Egal, ob der Ausnahmezustand formal-rechtlich noch besteht oder nicht, nur wir, wir als Gesellschaft können den politischen Ausnahmezustand beenden, und das nur durch die Impfung.

Bei der nun diskutierten Impfpflicht handelt es um ein Motivbündel: Es geht um Solidarität, mit dem Krankenhauspersonal, das seit zwei Jahren an der Belastungsgrenze arbeitet, mit all jenen, die durch die Pandemie betroffen sind, diejenigen die Angehörige verloren haben, deren Trauer unbeschreiblich ist. Mit allen anderen in unserer Gesellschaft, insbesondere denen, die besonders vulnerabel sind: Menschen mit Vorerkrankungen, die besonders schwer an dem Virus erkranken, wenn sie sich infizieren, Wohnungslose, die nicht den Schutz einer Wohnung haben und so mangels ausreichend Hygiene und Abstand dem Virus noch massiver ausgesetzt sind.

Wir schützen uns durch die Impfung natürlich auch selbst. Die Frage ist schon lange nicht mehr: “Lasse ich mich impfen oder nicht?” Die Frage ist: “Lasse ich mich impfen oder infiziere ich mich mit Corona?”

Die Einführung einer Impflicht sollte uns nicht über das staatliche Versagen hinwegtäuschen, das ihre Wurzeln in den Einsparungen im Gesundheitswesen, Privatisierungen sowie veralteter Technik zur Nachverfolgung der Infektionen hat. Eine Mischung aus neoliberalem Zeitgeist und fehlender Modernisierung des Staates.

Ich habe jedoch das Gefühl, dass unsere Gesellschaft in der Pandemie seit einiger Weile abgestumpft ist. Wir sehen nun seit zwei Jahren jeden Tag die Zahlen der neuen Infizierten des Virus in den Zeitungen und im Fernsehen, doch sie interessieren uns nicht mehr, sie berühren uns nicht mehr.

Westliche liberale Demokratien leiden an einem Mangel an Solidarität. Unsere Freiheitsrechte sind uns viel wert und das auch zu Recht. Sie sind verbrieft in unseren Verfassungen. Sie stehen über allem. Doch wie sieht es eigentlich mit Gleichheit und Solidarität aus? “Liberté, égalité, fraternité” hieß es noch in der Französischen Revolution. Aktuell scheint nur noch liberté zu gelten. In der deutschen Pandemie-Politik ist das Grundprinzip der Freiheit maßgebend. Dass das Virus die Bürger ungleich trifft, wird fast vollkommen ausgeblendet. In ihrem extremsten Ausmaß sind dort die Obdachlosen auf der einen Seite, diejenigen in den armen Ländern, die garm keinen Zugang zu Impfstoffen haben, auf der anderen eine akademische Oberschicht, die wenn nicht gemütlich, so doch einigermaßen entspannt im Heimischen ihre Arbeit verrichten kann oder verrichten lässt. Corona ist auch eine Spaltung von arm und reich. Wann werden die Patente der Impfstoffe endlich freigegeben?

Es klingt ein wenig paradox, dass die Einführung einer neuen staatsbürgerlichen Pflicht sich gegen das Virus zu impfen, den Weg zurück zu mehr Freiheit ebnet. Wir sollten jedoch als liberale Demokraten nicht bloß auf unsere Freiheitsrechte pochen. Wenn wir wirklich Demokraten sein wollen, sollten wir uns fragen, wie wir dem Prinzip der Solidarität Ausdruck verleihen können, und sei es nur durch eine Spritze in den Arm. Die Pandemie, den Ausnahmezustand beenden, können nur wir selbst, zusammen — Impfpflicht hin oder her.

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