Das Syndrom Milosevic

Putin und Milosevic Wer Milosevics Machtgier, seine Lügen, seine Kriege und seine Taktik verfolgt hat, wird in Putins Verhalten die Blaupause finden.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Jan Fleischhauer zitiert in einer Focus-Kolumne "Russlandfreunde, die von einem Putin I und einem Putin 2 sprächen". Putin 1 sei dabei der Deutschlandfreund, der davon geträumt habe, Russland einen geachteten Platz im Kreis der Völkergemeinschaft zu verschaffen. Putin 2 sei der ruchlose Diktator, der sich fremde Länder nehme wie andere Leute Glaskugeln.

Dies schreibt der ehemalige US-Botschafter im damals noch existierenden Jugoslawien, Warren Zimmermann, in seinem Buch "origins of a catastrophe" über Slobodan Milosevic: "Ich habe während meiner Botschaftermission von 1989 bis 1992 zahlreiche Gespräche mit Milosevic geführt und wurde nach Monaten zwiespältiger Eindrücke über den serbischen Polit-Titanen plötzlich von einer Erleuchtung heimgesucht. Anschließend kabelte ich "erleichtert" an Washington: Ich habe das Mysterium dieses Mannes endlich gelöst. Der Mann ist schizophren und besteht aus 2 Milosevics. Milosevic Nummer 1 ist ein Hardliner, autoritär, und bereit, mit Gewalt ein Großserbien zu erzwingen. Er ist apoplektisch mit Sinnesstörungen, hasst Westler und spricht nur serbisch. Der Milosevic II benimmt sich dagegen höflich, freundlich, kooperativ und versucht, eine vernünftige Lösung für die Probleme zu finden. Er ist ruhig, erinnert sich gerne an seine Besuche als Banker in New York und spricht in gutem Englisch. Das Einzige, was die beiden Charaktere verbinde, schreibt Zimmermann, sei die Aversion gegen Albaner und die Überzeugung, dass sich die Welt gegen Serbien verschworen habe. Milosevic I werde jedoch immer wieder die Oberhand gewinnen, so das Fazit des Botschafters.

Dass dies nicht die einzige Übereinstimmung zwischen Putin und Milosevic ist, zeigt sich schnell. Die 2 Charaktere gleichen sich in ihrer Psyche, ihrer Reaktion und ihrer Skrupellosigkeit wie eineiige Zwillinge:

Beide sind machtbesessen - und bereit, ihre Macht durch Attentate, Morde und Drohunge zu sichern. Wobei Milosevic auf brutale Waffengewalt oder fingierte Autounfälle baute, Putin dagegen seine Gegner vorzugsweise mit Giftanschlägen entsorgt.

Beide wollen ein Großreich beherrschen: Milosevic plante Großserbien - Putin träumt von einer Neuauflage des Sowjetimperiums. Gemeinsam ist beiden die Begründung für den dazu erforderlichen Armee-Einsatz: der Schutz der eigenen Minderheit. Milosevic behauptete, die Serben in Kroatien und Bosnien würden vom "Genozid" bedroht, Putin sieht das Überleben der russisch-stämmigen Einwohner der Ukraine in Gefahr.

Selbst in ihren Fehleinschätzungen liegen die beiden Diktatoren nahe beieinander. Milosevic war überzeugt, seinen Feldzug durch Kroatien und Bosnien dank einer gigantischen Armeemacht in 2-3 Wochen beenden zu können - Putin dachte nicht im Traum an erbitterten Widerstand der ukrainischen Armee und Bevölkerung.

Sanktionen der Internationalen Gemeinschaft hatten beide längst einkalkuliert. Weder Putin noch Milosevic waren naive Hinterwäldler sondern wussten dank ihrer Spionagenetze lange vor der Ankündigung von Sanktionen deren Ausmaß.

Milosevic hatte mit Hilfe seines Geheimdienstes, der Polizei, dem Zoll und serbischer Banken Milliarden Dollar in Zypern deponiert, von wo aus die Gelder laut Ermittlungen des Haager Kriegstribunals an mehr als 50 Länder weiterverteilt wurden. Waffen, Öl und Lebensmittel konnten so trotz Embargo weiter ins Land fließen.

Putins Oligarchen dürften sowohl privat als auch "im Dienste des Vaterlandes" ebenfalls Devisen und sonstige Notgroschen lange vor Beginn des Ukraine-Kriegs außer Landes deponiert haben.

Was beide nicht voraussahen: In der Armee befinden sich nicht ausschließlich willenlose Befehlsempfänger wie die Polit-Marionetten im Dunstkreis der Herschenden. Rekruten, die als Kanonenfutter an die Front geschickt wurden, weigerten sich, auf ihre Landsleute zu schießen oder waren nicht bereit, für die Abenteuer eines Milosevic oder Putin ihr Leben zu opfern. Die Moral sinkt, die Zahl der Deserteure muss verheimlicht werden. Disziplinlosigkeit nimmt überhand, - es wird geplündert, vergewaltigt, gemordet.

Grausamste Verbrechen werden geleugnet oder der Gegenseite zugeschrieben, welche "sich selbst bombardiert habe".

Erinnern wir uns noch an Vukovar, die kroatische Stadt an der Donau, welche 1991 von der jugoslawischen Armee in Schutt und Asche gebombt wurde? Anschließend waren 280 Kroaten auf ein Feld gekarrt, bestialisch erschossen und verscharrt worden. Als nach Entdecken des Massengrabs alles Leugnen zwecklos war, wurde das Massaker "Freischärlern" zugeschoben, welche angeblich nicht unter Kontrolle der Armee standen. Erinnern wir uns an das Dorf Racak im Kosovo, wo im Januar 1999 die Ermordung von etwa 40 albanischen Zivilisten offizieller Anlass für die folgende Nato-Bombardierung war oder die blutigen Granatangriffe auf den Marktplatz von Sarajewo mit Dutzenden von Toten? Stets wurde dies von serbischer Seite mit einem "Angriff des Gegners auf seine eigene Bevölkerung" begründet um damit die Serben zu diffamieren.

Die Geschichte wiederholt sich - diesmal in Butscha in der Ukraine. Wieder soll die Welt glauben, die eigene Armee verübe keine Frevel - der Gegner inszeniere die Kulisse und verteile die Toten wie Statisten in einem Film.

Sucht Putin einen Rückzug unter "Gesichtswahrung"? Was Milosevic betraf, so war diesem die Meinung des Westens bei seiner 180-Grad-Wende im Bosnienkrieg nur zweitrangig. Als er bemerkte, dass sich seine Ziele nicht im erstrebten Zeitfenster realisieren ließen, änderte er seine Pläne. Seine Statthalter in Kroatien und Bosnien erkilärte er zu Idioten und Kriegsfanatikern - er selbst kürte sich zum "Mann des Friedens". Nachdem die Internationale Gemeinschaft lange vor dem Friedensabkommen in Dayton (1995) den bosnischen Serben für das von ihnen eroberte Territorium den Begriff "Republik Srpska" zuerkannt hatte, bedurfte Milosevic keiner weiteren Konfrontation mehr mit dem Westen. Der Name "Republik" war der Grundstein für einen künftigen "Staat im Staate Bosnien" - ein Status, der den bosnischen Serben bis heute die Blockade wirtschaftlicher wie demokratischer Reformen in Bosnien ermöglicht. Milosevics ursprüngliches Ziel, der Anschluss dieses Teiles an Serbien ist aufgeschoben - aber in serbischem Kalkül bis heute nicht aufgehoben.

Und Putin? Ich könnte mir vorstellen, dass auch er angesichts der militärischen Rückschläge die Illussion einer Neuauflage der Sowjetunion oder gar des Warschauer Pakts zunächst verschoben - aber nicht abgeschrieben hat.

Seine Ukraine-Aktion, die in seinen Augen und gemäß russischer Propaganda ja kein Krieg sondern die humanitäre Rettung der Landsleute in einer feindlich gesinnten Ukraine sind, könnte er ohne Gesichtsverlust bei der eigenen Bevölkerung mit einer weitreichenden Autonomie für Donbass beenden. Als seinerzeit die von der EU eingesetzte "Badinter-Kommission" Kroatien vor der Anerkennung seiner Unabhüngigkeit umfangreiche Autonomierechte für die serbische Minderheit Kroatiens zur Auflage machte, sah dies u.a. die Wahl eigener politischer Führer vor, einer eigenen Polizei, eigenen Schulen sowie enge Beziehungen zum Mutterland Serbien vor.

Sollte die Internationale Gemeinschaft diese Rechte auch in der Ukraine anwenden, ist allerdings zu befürchten, dass Donbass bald nur noch auf dem Papier der politischen Hoheitsgewalt Kiews unterstellt ist - tatsächlich aber bei gleichzeitiger Regierungsbeteiligung Konfliktsituationen mit Moskau vorprogrammiert wären.

Putin, so ist zu hören, wäre einer solchen Lösung nicht grundsätzlich abgeneigt. Einen Rückzug seiner Militärs würde er vermutlich damit begründen, .."nur dies sei von Beginn an sein Ziel gewesen".

Und die Krim? Vielleicht würde hier die ukrainische Führung zur Vermeidung weiteren Blutvergießens einem Referendum zustimmen, bei welchem die dortige Bevölkerung in 5-10 Jahren über ihre weitere Zugehörigkeit entscheiden könnte...

Joe Biden hat Europa verwirrt und die Amerikaner mit seiner Bemerkung "dieser Mann kann nicht an der Macht bleiben" begeistert. Prophezeiung oder war der Wunsch Vater des Gedankens?

Milosevic wurde im Jahr 2000 gestürzt, weil die Bevölkerung seine Machtgier durchschaut hatte, konfliktmüde war und einen besseren Lebensstandard erhoffte, - aber auch weil ihm Polizei und Armee im entscheidenden Augenblick die Gefolgschaft versagt und die Opposition nach 10-jähriger Unfähigkeit und Finanzierung durch den Westen ihre Methodik angepasst hatte: dem Geheimdienstchef, dem Armeechef und der Polizeiführung wurde vor dem Umsturz ihre "Übernahme in das neue Regime" zugesichert.

Auch Putins Gefolgsleute werden wohl das militärische Ukraine-Abentuer ihres Chefs als gescheitert oder zumindest unnötig beurteilen. Eine Revolte der Armee sollte man deshalb nicht völlig ausschließen - auch wenn Putin, wie einst auch Milosevic, mit einem Heer bis an die Zähne bewaffneter Leibgarden vorgesorgt hat.

Die Bevölkerung würde für Putin wohl erst zur Bedrohung werden, wenn der Lebensstandard auf Sowjet-NIveau abstürzt und jene, die Väterchen Putin wie einen Heiligen verehren, aus ihrem Traum erwachen.

Werden unsere Sanktionen für eine solche Ernüchterung ausreichend sein? Nun, wären wir kopfüber ins eiskalte Wasser eines Total-Embargos, auch für Gas, gesprungen - dann hätte dies vermutlich verhaltene Panik im Kreml ausgelöst. Nun hat Putin angesichts unserer "ausgewogenen Import-Reduzierung" ausreichend Zeit, neue Klientel für seine Rohstoffe, etwa in China oder Indien, zu finden.

So bleibt zu hoffen, dass die vollmundig verkündeten "schlimmsten Sanktionen aller Zeiten" nicht zum Bumerang für uns selbst werden.

Ein letzter Aspekt: Waffen!! Erinnern wir uns noch an den Bosnien-Krieg 1992-1995? Ein Waffenembargo, das auch den Bosniern das Recht verwehrte, sich gegen die Serben und die Übermacht der serbischen Armee - militärisch ausgestattet von der jugoslawischen Armee - zu verteidigen?

Die moralische Bankrotterklärung war damals im wesentlich von den "Serbenfreunden" Frankreich und Großbritannien verschuldet worden. Und jetzt? Mit Helmen haben wir uns blamiert. Nach der von Kanzler Scholz angekündigten Zeitenwende schachern wir weiter mit Zusagen, die dann in bürokratischen Genehmigungsverfahren ersticken oder realisiert werden, wenn die Umstände im Kriegsgebiet längst andere Waffen erfordern. Und während wir uns selbst stolz auf die Schultern klopfen schüttelt halb Europa über uns den Kopf - so lese ich es zumindest in den Medien. Einen wird es sicher freuen: Putin.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden