Der Firnis der Zivilisation

Moral Ethische Prinzipien schlechtzureden, führt schneller in die Barbarei, als man denkt. Ein kleines Exempel kann hilfreich sein
Ausgabe 29/2018
Europa hat lange eine Politik des Ertrinkenlassens betrieben und betreibt sie wieder – auch wenn es das niemals offen sagen würde
Europa hat lange eine Politik des Ertrinkenlassens betrieben und betreibt sie wieder – auch wenn es das niemals offen sagen würde

Foto: Pau Barrena/AFP/Getty Images

Es ist noch keine zwei Wochen her, da stellte Wolfgang Luef im SZ-Magazin erschüttert fest: „Es gibt plötzlich zwei Meinungen darüber, ob man Menschen, die in Lebensgefahr sind, retten oder lieber sterben lassen soll.“ Und fügte hinzu: „Das ist der erste Schritt in die Barbarei.“ Es spricht viel für die Annahme, dass man dann schon mit beiden Beinen drinsteckt.

Als wollte sie jeden Verdacht bestätigen, titelte die Zeit vergangene Woche dröhnend auf Seite Drei: „Oder soll man es lassen?“, illustriert mit der Rettungsoperation einer NGO. Darüber wurde dann in zwei Texten ein Pro und Contra veranstaltet. Bildsprache und Titelung wirkten in ihrer pseudoprovokativen Tabubruchhaftigkeit wie ein Höhepunkt der Verrohungsdiskurse. Dass man Menschen absichtlich ertrinken lassen soll, das vertrat dann letztlich auch die Autorin des Contra-Textes, Mariam Lau, nicht.

Aber man kennt den Trick schon. Nicht nur private Rettungsoperationen, auch die Seenotrettungsprogramme der früheren italienischen Regierung wurden ja als „Beihilfe zur Schlepperei“ schlechtgeredet; sie würden die Menschen „ermutigen“, auf die wackeligen Kähne zu steigen, sie wären ein „Pull“-Faktor. Da musste man nicht mehr extra dazusagen, was Menschen im Gegensatz entmutigen würde – nämlich ausreichend viele ertrinken zu lassen, bis sich das herumspricht. Europa hat lange eine Politik des Ertrinkenlassens betrieben und betreibt sie jetzt wieder – auch wenn man das im Kreise der EU-Innenminister niemals völlig offen sagen würde.

Wer dagegen das Wort ergreift oder meint, dass die Rettung von Menschen ein zivilisatorisches Minimum ist, der wird schnell als Moralist verdammt. Es gibt mittlerweile Kreise, in denen der Begriff der Moral faktisch nur mehr als Schimpfwort vorkommt. Und diese Kreise ziehen sich längst dahin, wo früher die Mitte war. Besonders beliebt neuerdings: der Vorwurf des „Hypermoralismus“.

Was in den Köpfen jener vorgeht, die gerne für „Realismus“ und gegen „Hypermoralismus“ argumentieren, konnte man im Zeit-Text von Mariam Lau dann doch ziemlich genau feststellen. Nämlich recht viel unsortiertes Zeug. Zunächst postulierte die Autorin, dass Menschen in Seenot natürlich gerettet werden müssten, dies aber Sache der Staaten sei. Leider ignorierte sie, dass die Staaten eben genau dieser Aufgabe nicht nachkommen, sonst gäbe es ja keine Tausenden Ertrunkenen und keine NGO-Seenotrettung. Über die Menschenrechtsaktivisten formuliert sie unübertrefflich: „Ihr Verständnis von Menschenrechten ist absolut kompromisslos.“ Diese Formulierung lässt einen wirklich ratlos zurück. Was wäre denn ein nicht kompromissloses Verständnis von Menschenrechten? Nur jeden Zweiten ertrinken lassen? Nicht foltern, außer es spricht viel dafür? Sie sagt es uns nicht. Aber wir können es uns denken.

Die Freunde der Amoral halten sich für schneidig und ernst, weil sie kalt und ohne moralische Verzärteltheit die Tatsachen würdigen. Eine der Tatsachen ist zweifelsohne, da haben sie auch recht: In einer komplexen Welt gibt es Zielkonflikte und deren großen Vetter, das moralische Dilemma. Beispielsweise: Eine universalistische Moral verlangt von uns, alle zu retten, aber konkrete Gesellschaften haben auch Grenzen der Aufnahmefähigkeit. Ein Zielkonflikt. Macht man die Grenzen so weit auf, dass es am Ende sogar unsere Demokratien zerreißt? Man kann das ein moralisches Dilemma nennen. Die Fürsprecher des eiskalten Realismus sehen überall Zielkonflikte und moralische Dilemmata, sodass sie meinen, man müsse ethische Prinzipien weit nach hinten stellen und Realpolitik nach vorne.

Beispielsweise: dass der Versuch, illegal einzuwandern, nicht belohnt werden dürfe. Damit meinen sie, dass Menschen, wenngleich man sie vielleicht rettet, wieder dorthin zurückgebracht werden sollen, wo sie herkamen. Was sie da nicht so gerne dazusagen: dass die Menschen folglich in die libyschen Folter- und Vergewaltigungslager gebracht werden sollen, zurück in die Versklavung. Komisch, dass die Freunde der kalten Amoral das dann doch nicht so offen sagen.

Zielkonflikte gibt es, und es nützt nichts, sie zu ignorieren, klar. Aber meist bekommt man sie durch kluge Abwägung, Beachtung ethischer Prinzipien und die Suche nach Detaillösungen bearbeitet. Als in den USA die Sklaverei abgeschafft wurde, da haben bestimmt genug Schlaumeier gegen den Hypermoralismus gewettert, der damals noch Humanismus hieß, und kühl zu bedenken gegeben, dass die Abschaffung der Sklaverei moralisch vielleicht geboten sei, aber viel zu viele gefährliche Nebenfolgen hätte. Die Schwarzen seien ja ganz anders als „Wir“ und könnten frei doch gar kein Leben führen, meist würden sie gar keine Jobs finden und verhungern. Sie würden sich, einmal frei, sofort zusammenrotten und die Welt in Stücke schlagen. Zudem würden die Sklavenhalter pleitegehen, weshalb der Wohlstand sinken würde, und dann seien alle zusammen ärmer, und davon hätte wohl doch niemand etwas. Kurzum: Die Abschaffung der Sklaverei sei viel zu riskant, man möge um Gottes willen nicht den weltfremden Ideen der naiven Gutmenschen folgen.

Das kleine Exempel zeigt: Man sollte sich im Zweifel mehr von der Moral leiten lassen und weniger von den neunmalklugen Einwänden derer, die sie schlechtreden.

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