Offener Brief: Wer sind wir - und wenn ja, wie viele?

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Lieber Richard David Precht,

mit sehr viel Freude – auch, wenn dieses Wort bei diesem Thema kaum angebracht ist – habe ich Ihren Essay „Feigheit vor dem Volk“ im Spiegel zum Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr gelesen. Ich kann Ihnen nur vollkommen zustimmen, wenn Sie dort schreiben, dass „ein Aufstand der Intellektuellen dieses Landes gegen den Dammbruch (geboten wäre). Geboten wäre ein Appell, gestützt durch die Mehrheit der Bevölkerung, der unserer Regierung Mut machte, nicht weiterhin sinnlos Milliarden zu verschleudern und Soldaten in den Tod zu schicken“.

Ja, dies alles wäre geboten. Gegen die von Ihnen so benannte „parteiüberreifende Koalition des schlechten Gewissens“, die nun in Tat die Absicht zu hegen scheint, „den Krieg aus dem Wahlkampf herauszuhalten“, wäre zudem eine andere, partei- und gesellschaftsübergreifende Koalition dringend geboten. Eine Koalition der fragenden Bürgerinnen und Bürger, die diesen Wahlkampf dazu nutzen könnten, sämtliche für den Bundestag antretenden Kandidaten mit ihren Fragen über Sinn und Zweck dieses Krieges zu bedrängen, statt sich von diesen selbst mit „Verdummungsvokabeln“ bedrängen zu lassen.

Wenn dies kein Krieg sein soll, was ist dann überhaupt noch ein Krieg? Wie sieht denn überhaupt ein militärischer Sieg dieser „Krisenfallmaßnahme in Übersee“ oder dieses „Stabilisierungseinsatzes“ aus? Wie lange soll „es“ denn noch dauern? Was ist denn aus all den Zielen des Staats-, Polizei- und Justizaufbaus, der Entwaffnung, der wirtschaftlichen Entwicklung und Armutsbekämpfung, der Bekämpfung des Drogenanbaus und der Korruption eigentlich geworden? Stimmt es wirklich, dass allein im letzten Jahr 20.000 „Aufständische“ von der NATO getötet wurden?Wie viele sind es denn eigentlich noch und wer sind sie überhaupt? Warum heißt eigentlich der terminus technicus der NATO „Aufständische“, während hier nur von „Taliban“ die Rede ist? Kann denn diese „Regierung“, zu deren Unterstützung die Bundeswehr allein ein Mandat hat, überhaupt als solche bezeichnet werden?

Nun, ich trete selber zur Wahl des Deutschen Bundestags an. Das könnte sich im Übrigen als ein Widerspruch erweisen. Denn nach dem Grundgesetz dürfte der deutsche Bundestag im Kriegsfall gar nicht aufgelöst werden.Darum ja auch dieser Krieg gegen die Sprache, die „private Semantik“ und die „Begriffswolken“. Nach Spinoza, für mich der erste wirklich überzeugte Demokrat unserer Kultur- und Geistesgeschichte, ist der Zweck des Staatslebens überhaupt „Frieden, Freiheit und Sicherheit des Lebens“. Und nichts von alledem, wie wir es nach all den Jahren wissen, wird in Afghanistan hergestellt oder gar bei uns „verteidigt“. Er schrieb auch, dass „Krieg nur um des Friedens willen begonnen werden (soll) in dem Sinne, dass nach seinem Ende alle Waffengewalt aufhört“. Und wie weit ist der auf Dauer gestellte Nicht-Frieden, in den diese Republik getrieben wird, davon entfernt!

Ich bin im Übrigen nicht der Meinung Martin Walsers, „dass der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan moralisch unerträglich geworden ist.“ „Moral“ ist eine Frage normativer Setzungen, die kulturell relativ sind, letztlich immer eine Frage von „Gut“ und „Böse“. Es ist hingegen noch viel schlimmer.Dieser Krieg ist ein ethisches Desaster. Er höhlt objektive völkerrechtliche und demokratische Prinzipien aus, er widerspricht logischen und vernünftigen Schlüssen. Damit droht er sich eben doch zu einer rein moralischen Frage zu verkehren, zu einer Frage von „Gut“ gegen „Böse“, zur Glaubensfrage. Dies ist immer der kürzeste Weg zur Dehumanisierung des jeweils „Anderen“. Weil wir Deutschen dies einmal wussten, haben wir im Übrigen viele wichtige und richtige Prinzipien in unser Grundgesetz geschrieben.

Um mit Nietzsche zu sprechen: „’Jenseits von Gut und Böse’... Dies heißt zumindest nicht ‚Jenseits von Gut und Schlecht’“. Dieser Krieg ist daher zumindest schlecht. Er zersetzt die Demokratie, aus historischer Einsicht entstandene Regeln unseres Grundgesetzes und das Völkerrecht, unserer Unterscheidungsfähigkeit von Krieg und Frieden, von innerer und äußerer Sicherheit, von Polizei und Militär. Es ist alles noch viel schlimmer, als es die moralische Empfindung allein wahrzunehmen vermag: hier wird schleichend ein Begriff von „Sicherheit“ und „Verteidigung“ und damit auch ein neuer Staatszweck eingeführt, bei dem das Militär und der Krieg, der nicht mehr so genannt werden darf, immer Bestandteil staatlichen Handelns ist – tendenziell dauerhaft und überall.

Wir bomben nicht die Menschenrechte und den Frieden in Afghanistan herbei. Wir zerschmeißen damit nur deren Grundlagen bei uns. Und wenn die Bevölkerung dies mit übergroßer Mehrheit ablehnt,gibt es hier strenggenommen auch gar kein „Wir“. Und darum wünsche ich Ihnen bei Ihrem „Aufstand der Intellektuellen“ viel Erfolg und Kraft. Meine Unterstützung haben Sie. Denn wieder einmal sind wir an einem Punkt, wo wir mit John Locke anklagen könnten, “dass jeder Ammenaberglaube den Charakter einer unumstößlichen Wahrheit annimmt, solange man ihn nur lange genug verkündigt.“ Es ist eben das Wesen der Demokratie, dass wir alle eine Wahl haben. Dafür, dass Sie darauf beharrt und mit rationalen Argumenten einige Dinge klargestellt haben, möchte ich Ihnen danken. Denn von der Frage, wer wir sind und wenn ja, wie viele, scheint mittlerweile viel für uns und unsere Zukunft abzuhängen.

Herzlichst
Ihr Robert Zion
Gelsenkirchen, im August 2009

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Geschrieben von

Robert Zion

Gruenen-Politiker, Publizist

Robert Zion

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