der Freitag: Frau Labelle, Sie haben Ihre Web-Comic-Reihe „Assigned Male“, die sich mit der Diskriminierung und den Rechten von Transpersonen auseinandersetzt, vor anderthalb Jahren begonnen. Mittlerweile haben Sie 40.000 Facebook-Follower und Ihre Arbeit wird von Ihrer Community finanziert. Wie haben Sie das geschafft?
Sophie Labelle: Ich war selber überrascht, dass es so gut läuft. Weil die Leserschaft so schnell gewachsen ist, musste ich mich zeichnerisch schnell weiterentwickeln und zusehen, dass ich anspruchsvollere, aber auch unterhaltsame Designs hinbekomme.
Warum haben Sie die Comic-Reihe überhaupt gestartet?
Vor allem weil ich das Gefühl hatte, dass wir als Aktivisten einfach mehr Instrumente brauchen. Transpersonen müssen oft Aufklärungsarbeit in ihrem Umfeld leisten, sogar wenn sie noch nicht erwachsen sind. Für mich war es auch ein Gang zurück zu den Wurzeln, denn ich zeichne schon seit meiner Kindheit Comics. Ich hatte nur eine Phase zwischendurch, in der ich mich auf andere Dinge konzentriert habe.
Die Hauptfigur der meisten Ihrer Comics ist die zwölfjährige Stephie. Wollen Sie vor allem Kinder und Jugendliche erreichen?
Die Comics sind eigentlich für alle gemacht, aber laut der Daten von Google Analytics sind die meisten meiner Leser zwischen 12 und 23 Jahre alt, wobei alle noch jüngeren Leser statistisch gar nicht erfasst werden.
Was meinen Sie, warum sind Ihre Comics so erfolgreich bei jungen Menschen?
Ich kann mich erinnern, dass ich selbst als Kind Stunden damit verbracht habe, in der Biblio-thek Bücher abzugrasen auf der Suche nach Figuren, die mir ähneln. Nicht-heteronormative oder Transjugendliche sind in Schulbüchern oder Kindersendungen überhaupt nicht repräsentiert. Das macht sie unsichtbar, und das ist auch gewollt. Es wird als größter Erfolg für Transkinder betrachtet, wenn niemand in der Klasse weiß, dass sie trans sind. Das führt dazu, dass die Kinder denken, sie seien die Einzigen, die so sind. Selbst wenn sie die Möglichkeit bekommen, ihre Umwandlung früh zu beginnen. Sie fühlen sich trotzdem sehr einsam. Ich habe in Schulen gearbeitet, in denen es mehrere Transkinder gab, aber sie wussten überhaupt nichts voneinander – einfach weil sie niemandem etwas erzählt haben. Deshalb ist Repräsentation eine so wichtige Frage: Sie macht die Menschen sichtbar und gibt ihnen die Möglichkeit, ihre Existenz so anzunehmen, wie sie sind. Mit meinen Comics versuche ich, einen kleinen Teil dazu beizutragen.
Zur Person
Sophie Labelle ist 27 Jahre alt und selbst eine Transperson. Ihre Transition, ihre Wandlung vom Jungen zum Mädchen, vollzog sie als Teenager. Sie lebt heute in Montreal, Kanada und ist mit der Comic-Serie Assigned Male bekannt geworden
Bekommen Sie denn auch direkte Reaktionen von Kindern?
Oh ja, viele. Ich bekomme Fan-Zeichnungen von meinen Figuren von Fünf-, Sechsjährigen, obwohl der Comic ziemlich kompliziert ist. Selbst wenn die Kinder nicht alles verstehen, verfolgen sie ihn und freuen sich, dass es ihn gibt.
Was sind die schönsten, was die schlimmsten Reaktionen?
Die schönsten sind, wenn Leute mir schreiben, dass sie aufgrund meiner Comics den Mut hatten, sich zu outen. Und die schlimmsten sind Morddrohungen.
Bekommen Sie die oft?
Wöchentlich. Es gibt Hass-Webseiten nur für mich. Wenn Sie mich googlen, finden Sie einige davon. Da habe ich länger nicht drauf geschaut, aber da wird täglich etwas gegen mich gepostet.
Wie gehen Sie damit um? Haben Sie bestimmte Strategien?
Ich versuche einfach, nicht daran zu denken. Ich habe am Anfang viele schlaflose Nächte deshalb gehabt – und natürlich hatte ich auch Angst, aber dann habe ich es geschafft, damit umzugehen. Ich bekomme ja auch viel Unterstützung, weil die Leute wissen, was passiert, wenn du eine sichtbare Transperson bist. Ich versuche, etwas Positives aus den Drohungen zu ziehen, indem ich sie als zusätzlichen Grund für meine Arbeit betrachte.
Sie machen deshalb also erst recht weiter.
Ja, es kostet sehr viel Anstrengung, sich zu wehren, und wenn das dann alles umsonst wäre, wäre das ja sehr unbefriedigend.
Vor 14 Monaten haben Sie mit dem Crowdfunding für Ihre Arbeit angefangen – seit dem Sommer können Sie von den Einnahmen leben. Wie geht das?
Es gibt spezielle Seiten im Netz, auf denen man Künstler unterstützen kann. Das ist meine Haupteinnahmequelle. Aber ich halte auch Vorträge und gebe Workshops. Ich glaube, meine Follower hängen mehr an meiner Arbeit als andere Comic-Fan-Gruppen an ihren Comics, weil es kaum Medien von Transmenschen für Transmenschen gibt. Die Leute reagieren deshalb ganz anders auf meine Arbeit, da steckt ja auch kein großer Verlag oder eine Industrie dahinter, sondern nur ich. Dass ich vom Zeichnen leben kann, weil die Leute bereit sind, mich dafür zu bezahlen, ist einfach wunderbar. Ich fühle mich wirklich sehr privilegiert, so ein Publikum zu haben.
Ihre Community hat es jetzt sogar ermöglicht, einen Ihrer Comics ins Deutsche – und dann auch in andere Sprachen – zu übersetzen.
Ich wurde von verschiedenen Leuten in Europa zu Vorträgen eingeladen und habe deshalb eine Tournee gestartet. Die Übersetzungen waren ein Ergebnis dieser Tour. In Deutschland habe ich ziemlich viele Fans, daher lag zunächst eine deutsche Übersetzung nahe – und jetzt kommen eben auch andere Sprachen dazu.
Haben die Leute, die Sie eingeladen haben, auch die Übersetzung organisiert?
Das war eine Gemeinschaftsarbeit. Zu der deutschen Übersetzung hat zum Beispiel der Berliner Künstler Yori Gagarim viel beigetragen. Wir haben Facebook-Gruppen, auf denen alle Comic-Seiten zu sehen sind. Die Übersetzungsvorschläge werden dann einfach in die Kommentarleiste geschrieben, so dass alle sie sehen und darüber diskutieren können.
Also eine Crowd-Übersetzung ...
Ja, wobei ich nicht möchte, dass die Leute sich überanstrengen, denn am Ende ist es unbezahlte Arbeit. Und ich bekomme dann die Anerkennung dafür, auch wenn ich alle Unterstützer erwähne.
Warum haben Sie gerade den Comic „Das Schulprojekt“ zur Übersetzung ausgewählt?
Er war aktuell, und ich hatte viel positive Resonanz darauf bekommen. Die Hauptfigur trifft da einen Jungen, sie werden gezwungen, für ein Projekt zusammenzuarbeiten, und er ist zwar lernwillig, aber sehr ungeschickt. Die meisten Leute wollen Transmenschen ja nicht absichtlich wehtun. Es passiert aber durch Unbedachtheit. Ich glaube, die Geschichte hat den Leuten gefallen, weil sie das zeigt.
Wie viele Eigenschaften teilen Sie mit Ihrer Hauptfigur Stephie? Haben Sie Ähnliches erlebt?
Als ich ein Teenager war, war das noch eine andere Zeit, ein anderer Kontext. Meine Eltern waren nicht so verständnisvoll wie Stephies, und ich hatte andere Schwierigkeiten. Aber unsere Persönlichkeiten sind ähnlich.
Es gibt diese Stelle im Comic, an der Stephie sagt: „Dem Cis-Sexismus ist es egal, wie alt ich bin.“ Als Cis-Mann oder Cis-Frau gilt derjenige, dessen Geschlechtsidentität mit seinem biologischen Geschlecht übereinstimmt. Stephie redet da doch sehr erwachsen, es klingt sehr genderdiskurs-erprobt. Glauben Sie wirklich, eine Zwölfjährige würde so sprechen?
Also ich war als Kind sehr stark von der einschlägigen Literatur beeinflusst, und aus meiner Arbeit mit Transjugendlichen weiß ich, dass die Gesellschaft sie zwingt, sehr viel schneller erwachsen zu werden als andere Kinder. Das gilt aber eigentlich für alle Minderheiten. Die Kinder müssen sehr viel auf dem Schirm haben, um sich selbst zu schützen. Und das wollte ich darstellen.
Wie würde denn eine ideale Gesellschaft Kinder in Bezug auf ihr Geschlecht behandeln?
Je mehr man über die Geschichte von Geschlecht und Sexualität liest, desto mehr erkennt man, wie sehr alles miteinander zusammenhängt. Es ist kein Zufall, dass wir vor allem seit der zweiten industriellen Revolution Psychologen und Psychiater haben, die uns sagen, wie wir unsere Sexualität leben sollen, um diese „Ökonomie der Körper“ zu schaffen, wie Michel Foucault es nennt. Am Ende geht es um Kapitalismus und Patriarchat. Was Kinder anbelangt, würde ich sagen, dass sie vor allem einen sicheren Raum brauchen, in dem sie sich so frei wie möglich ausdrücken können, damit sie Selbstvertrauen gewinnen.
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