Der Islamische Staat und wir

Militäreinsätze Wir sind nicht das Reich des Guten, auch wenn wir dies propagieren. Wie stark ist unser Anteil an der Gewalt. Mahnung zur Selbstkritik und zum Verzicht auf Bombenabwürfe.

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Die Berichterstattung über den so genannten "Islamischen Staat" erinnert mehr und mehr an Star Wars: Unter dem Ansturm des Bösen schmieden die Guten ein Bündnis, um die Mächte der Finsternis aus der Welt bzw. dem Universum zu vertreiben. Diese Sichtweise ist zwar – angesichts der Angst, die die Terroraktionen des IS auslösen – einerseits verständlich. Andererseits kommt uns so die Fähigkeit einer differenzierteren Sichtweise der Bedrohung abhanden. Ohne diese scheint es aber unmöglich, der komplexen Probleme Herr zu werden. Deshalb sollen im Folgenden unter verschiedenen Aspekten die diversen Schattierungen des IS beleuchtet werden. Dabei geht es insbesondere darum, die dualistische Betrachtungsweise des Konflikts aufzubrechen und die Verflechtung des Phänomens "IS" mit der westlichen Kultur und Geschichte aufzuzeigen.

1. Entstehung des IS. Der "Islamische Staat" wird zumeist in einem Atemzug mit "islamistischem Terror" genannt. Außerdem wird der Kampf gegen den IS in der Regel als Teil des Syrien-Konflikts betrachtet – was sich daraus erklärt, dass der IS die Schwächung des Assad-Regimes genutzt hat, um große Teile des syrischen Hoheitsgebiets unter seine Kontrolle zu bringen. Übersehen wird dabei jedoch, dass der IS aus dem Widerstand irakischer Sunniten gegen die Machtübernahme der Schiiten in ihrem Land hervorgegangen ist. Eine wichtige militärische Stütze sind ehemalige Offiziere des Regimes Saddam Husseins, die sich durch den amerikanischen Einmarsch im Irak gleich doppelt deklassiert fühlten: Zum einen hatten sie ihre hohe gesellschaftliche Stellung und soziale Sicherheit eingebüßt; zum anderen hatten bei den von den USA initiierten Übergangswahlen schiitische Politiker die Mehrheit erlangt. Die Sunniten, unter Saddam Hussein in einer staatstragenden Rolle, fühlten sich nun von den zuvor unterdrückten Schiiten an den Rand gedrängt. Dies führte auf Seiten der Sunniten zu Radikalisierungstendenzen, die sich ebenso aus der Ablehnung der amerikanischen Besatzung wie aus der religiösen Gegnerschaft zu der schiitisch dominierten Übergangsregierung speisten.

Die Entstehung des IS lässt sich damit unmittelbar auf die amerikanische Invasion des Irak zurückführen. Er ist gewissermaßen eine Art Stiefkind der amerikanischen Hegemonialpolitik.

2. Bündnispartner. Klar ist, dass der IS ohne Unterstützung von außen nicht über die militärischen Mittel verfügen könnte, die er für die Ausweitung und Absicherung seiner Macht benötigt. Angesichts der allgemeinen Ächtung des IS würde es derzeit allerdings kein Land der Welt wagen, sich offen zu einer Unterstützung des IS zu bekennen. Bei der Frage, woher diese Unterstützung kommt, ist man daher auf Indizien angewiesen.

Ein erster Ansatzpunkt hierfür ist die Ideologie des IS, also die fundamentalistisch-wahhabitische Auslegung des Islams. Diese Spur führt nach Saudi-Arabien, wo der Islam ebenfalls wahhabitisch geprägt ist. Ein weiterer Ansatzpunkt ergibt sich aus einem Blick auf die regionalen Interessensphären und funktioniert nach dem Muster: "Der Feind meines Feindes ist mein Freund." Diese Spur führt in die Türkei, die davon profitieren würde, wenn die im Inland bekämpften Kurden auch in den angrenzenden Ländern geschwächt werden. In der Tat stimmt die Hysterie, mit der Präsident Erdoğan auf Medienberichte über türkische Waffenlieferungen an den IS reagiert hat, misstrauisch. Denn warum müsste man Journalisten des Geheimnisverrats bezichtigen und ihnen Gefängnisstrafen androhen, wenn die von ihnen erhobenen Vorwürfe gegenstandslos wären?

Nun kann andererseits Saudi-Arabien als regionale Hegemonialmacht und als Erdölförderland weder ein Interesse an einer Destabilisierung der Region noch an einer Konfrontation mit den Hauptabnehmerländern des geförderten Rohstoffs haben. Und die Türkei ist als NATO-Mitglied in den Anti-IS-Kampf – für den sie etwa Luftwaffenstützpunkte zur Verfügung stellt – eingebunden. Die Situation ist also komplexer, als sie auf den ersten Blick erscheint. Um sie angemessen beurteilen zu können, sollten wir uns am besten abgewöhnen, "die" Türkei und Saudi-Arabien als einheitliche Gebilde zu betrachten. Es scheint eher so zu sein, dass es in beiden Ländern mehrere, einander teilweise widersprechende Strategien für den Umgang mit dem IS gibt. Das Muster ist damit ähnlich wie im Falle Pakistans, das ja offiziell auch als Partner im Anti-Terror-Kampf gilt, während gleichzeitig pakistanische Geheimdienstkreise ihre schützende Hand über die Aktivitäten der Taliban im Grenzgebiet zu Afghanistan halten.

Kurz gesagt: Wer mein Freund ist, ist deshalb nicht unbedingt der Feind meines Feindes. Dies gilt übrigens auch für den Iran, der als schiitischer Staat kein Interesse an der Ausbreitung einer radikal sunnitischen Bewegung hat – die zudem aus dem Dunstkreis jenes Regimes hervorgegangen ist, gegen das man in den 1980er Jahren einen verlustreichen Krieg geführt hat. Andererseits hat der Iran aber natürlich auch kein Interesse an einer Stärkung des amerikanischen Einflusses in der Region.

Die verschwimmenden Grenzen zwischen Freund und Feind bedeuten nun aber auch, dass sich die Waffe, die ich meinem Freund in die Hand drücke, unversehens gegen mich selbst richten kann. Dies bezieht sich zum einen ganz konkret auf die Panzerlieferungen an Saudi-Arabien und die Milliardenhilfen, mit denen die Türkei als Bollwerk gegen Flüchtlinge aufgerüstet werden soll. Zum anderen ist hier aber auch an die indirekten Folgeschäden zu denken, die sich etwa aus der selbst auferlegten Zurückhaltung bei der Kritik an Menschenrechtsverletzungen in der Türkei und Saudi-Arabien ergeben.

3. Bestialität der Gewalt. Immer wieder ist zu hören, das der IS bei den von ihm zelebrierten Todesstrafen in eine "mittelalterliche" Form von Sadismus zurückfalle. Dabei ist zu bedenken, dass bestimmte Arten von Todesstrafen, die wir mir dem Mittelalter in Verbindung bringen, in Wahrheit entweder bis weit in die Frühe Neuzeit hinein praktiziert worden oder erst in dieser zu ihrem Höhepunkt gelangt sind. So hat die Inquisition ihre Wurzeln zwar im späten Mittelalter. Die Hexenprozesse und -verbrennungen – als ihre gewaltsamsten Ausprägungen – sind jedoch vornehmlich ein Phänomen des 16. und 17. Jahrhunderts und wurden bis ins 18. Jahrhundert hinein praktiziert. Sie sind uns zeitlich also viel näher, als es das Etikett "mittelalterlich" glauben machen will.

Hinzu kommt, dass die Todesstrafe ja auch in der westlichen Welt keinesfalls vollständig abgeschafft worden ist. Gerade in den USA, als der Führungsmacht der westlichen Welt, sind Hinrichtungen nach wie vor an der Tagesordnung. Zwar betreffen diese, anders als im Falle der Willkürtaten des IS, rechtskräftig Verurteilte. Abgesehen davon, dass in der Vergangenheit auch immer wieder Unschuldige zum Tode verurteilt worden sind, zeugt die Praxis der Hinrichtungen jedoch ebenfalls nicht von einer besonderen Humanität. So behält sich der Staat hier nicht nur explizit das Recht vor, den Delinquenten gegenüber als Herr über Leben und Tod aufzutreten, indem diese daran gehindert werden, sich selbst das Leben zu nehmen. Auch die seelischen Qualen, die das jahrelange Warten in der Todeszelle bedeuten, sind mit einem humanen Gesellschaftsbild kaum zu vereinbaren. Allenfalls gesteht man den Verurteilten zu, nicht mehr auf dem elektrischen Stuhl gebraten, sondern sozusagen auf "klinisch reine" Weise zu Tode gespritzt zu werden.

Dieser Wandel kann indessen als symptomatisch für den westlichen Umgang mit der Gewalt angesehen werden. Die Industrialisierung der Wirtschaft findet ihre Entsprechung in einer industrieförmigen, automatisierten Form des Tötens. Das Töten hat dadurch seine Unmittelbarkeit verloren – was es erleichtert, den Akt des Tötens als Teil einer pragmatischen, vernunftgeleiteten Handlungsstrategie zu verharmlosen.

Die starken Abwehrreflexe, mit denen wir auf die Enthauptungsvideos des IS reagieren, haben auch hierin ihre Ursache: Das Töten wird so wieder konkret erfahrbar – das Grauen, das es beinhaltet, lässt sich nicht mehr wegrationalisieren. Dies stellt die Verdrängungsstrategien der westlichen Welt in doppelter Weise in Frage. Zum einen reißen so die kaum vernarbten Wunden der Massenmorde des 20. Jahrhunderts wieder auf. Zum anderen wird man so auch wieder mit den Auswirkungen des eigenen, gegenwärtigen Tötens konfrontiert, die zuvor hinter dem Joystick des Drohnenlenkers versteckt werden konnten.

4. Selbstinszenierung. Als abstoßend wird der IS nicht nur aufgrund der verübten Gewalttaten selbst wahrgenommen, sondern insbesondere deshalb, weil diese bewusst inszeniert werden. Auch dies ist allerdings kein Alleinstellungsmerkmal des IS. Von den sadistischen Quälereien amerikanischer Soldaten an irakischen Inhaftierten in Abu Ghuraib wüssten wir nichts, wenn die Täter sie nicht stolz dokumentiert hätten. Und auch das Pentagon hatte seinerzeit keine Bedenken, die Tötung der Söhne Saddam Husseins mit pietätlosen Fotos zu feiern.

Unerträglich sind die IS-Videos freilich auch deshalb, weil sie sich an die Machart von Werbespots und Musikclips anlehnen und so das Töten als eine Art Computerspiel inszenieren. Auch dies folgt allerdings einem allgemeinen Trend zu einer Ästhetisierung des Grauens, das auch in anderen Fällen schon zu einer Verwischung der Grenzen zwischen realem und virtuellem Töten geführt hat. Ein besonders erschreckendes Beispiel hierfür ist die Jagd auf Passanten durch US-Soldaten, die 2007 in einem Vorort von Bagdad ihre Opfer – darunter zwei Kinder und zwei Mitarbeiter der Nachrichtenagentur Reuters – aus einem Helikopter heraus wie bei einem Ego-Shooter-Spiel niederstrecken.

Sogar unbewaffnete Insassen eines Kleinbusses, die einem Verletzten zu Hilfe eilen, werden unter Beschuss genommen. Auch diese Gewaltorgie ist – allerdings nicht durch die Täter selbst, sondern von der Bordkamera des Helikopters – dokumentiert und im Zuge der Wiki-Leaks-Veröffentlichungen aufgedeckt worden. (https://www.youtube.com/watch?v=l-CZPgMERbY)

5. Barbarische Religionsauslegung. Die grausamen Taten des IS werden oft als Beleg dafür angeführt, dass die religiösen Motive der Kämpfer nur vorgeschoben sein können und sie in Wahrheit ausschließlich machtpolitische Interessen verfolgen. Dabei wird allerdings übersehen, dass Europa – von den Kreuzzügen über den Dreißigjährigen Krieg bis zum Nordirlandkonflikt – auf eine lange Reihe von Religionskriegen zurückblickt, ohne dass deshalb jemand die Religiosität der Krieg führenden Parteien grundsätzlich in Frage gestellt hätte. Im Gegenteil galt etwa im Falle der Kreuzzüge die Teilnahme gerade als Nachweis eines besonders tief empfundenen Glaubens.

Manche gehen auch so weit, durch die Taten islamistischer Fanatiker den Wert des Islams grundsätzlich in Frage zu stellen: Kann eine Religion friedfertig sein, mit der so abscheuliche Gewalttaten gerechtfertigt werden? Um die eigene Position zu untermauern und die Überlegenheit des Christentums zu dokumentieren, werden dann zum Vergleich gerne Stellen aus dem Neuen Testament – speziell aus der Bergpredigt – angeführt. Allerdings ist meines Wissens das Alte Testament von der Kirche noch nicht für ungültig erklärt worden. Und darin wird der liebe Gott u.a. mit folgenden, nicht sehr friedfertigen Strafandrohungen für den Fall des Ungehorsams zitiert: "Ich lasse über euch das Schwert kommen, das Rache für den Bund nehmen wird. Zieht ihr euch in eure Städte zurück, so sende ich die Pest in eure Mitte (…). Ich entziehe euch dann euren Vorrat an Brot. (…) Ihr esst das Fleisch eurer Söhne und Töchter. Ich vernichte eure Kulthöhen, zerstöre eure Räucheraltäre, häufe eure Leichen über die Leichen eurer Götzen und verabscheue euch. Ich mache eure Städte zu Ruinen, verwüste eure Heiligtümer und will den beruhigenden Duft eurer Opfer nicht mehr riechen" (3 Mose 26, 25 – 31).

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Geschrieben von

Rotherbaron

Autor, Blogger. Themen: Politik, Gesellschaft, Natur und Umwelt, Literatur, Kultur. Seiten: rotherbaron.com; literaturplanetonline.com

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