Keimzelle des deutschen Literaturbetriebs

Gruppe 47 Die vor 70 Jahren entstandene Gruppe 47 hat den deutschen Literaturbetrieb entscheidend geprägt. Dazu fünf Thesen

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Vom 5. bis 7. September 1947 trafen sich im Haus der Schriftstellerin Ilse Schneider-Lengyel am Bannwaldsee bei Füssen ein paar deutsche Autoren, um Hans Werner Richters Plan für eine neue Literaturzeitschrift zu besprechen. Mögliche Beiträge wurden diskutiert, einzelne Autoren lasen auch aus literari­schen Werken vor, an denen sie gerade schrieben.

Hans Werner Richters Frau Toni lässt in ihren Erinnerungen an das Treffen die Ungezwungenheit und die Aufbruchstimmung der Zusammenkunft wieder aufleben. Die Damen badeten nackt im See, man freute sich an den Kartoffeln, welche die Hausherrin mit ihrem klapprigen Motorrad organisierte, und tupfte vorsichtig ein paar Tropfen Parfum aus einem zerbrochenen Flakon. Nebenbei erneuerte man die deutsche Literatur.

Die geplante neue Literaturzeitschrift, die den Namen Der Skorpion tragen sollte, wurde von den alliierten Behörden später nicht genehmigt. Dennoch be­gründete das Treffen am Bannwaldsee eine Tradition regelmäßiger Zusammen­künfte von Schriftstellern. Auf Anregung von Hans Georg Brenner wurde für diese – in Anlehnung an die spanische "Generation von 98" – das Markenzei­chen "Gruppe 47" gewählt. Keiner der am Bannwaldsee versammelten Autoren hätte sich wohl träumen lassen, dass ihr Treffen einmal als Geburtsstunde der bedeutendsten Institution der westdeutschen Nachkriegsliteratur in die Ge­schichte eingehen würde.

Die Gruppe 47 hat sich zweifellos um die deutsche Literatur verdient gemacht. Allein schon der Anspruch, die Literatur von den Schlacken des Nationalsozia­lismus zu reinigen, nicht einfach so weitermachen zu wollen, war ein wichtiger Impuls für die literarische Erneuerung. Auch haben die regelmäßigen Treffen den Wert der Literatur im öffentlichen Bewusstsein verankert und waren so auch für zahlreiche deutsche AutorInnen eine nicht zu unterschätzende Moti­vation, ihre Schreibarbeit in Angriff zu nehmen und auch zu Ende zu führen.

Je mehr sich die Gruppe 47 jedoch zu einer Monpolinstanz für die Bewertung deutscher Literatur entwickelte, desto stärker traten problematische Tenden­zen in den Vordergrund, die sich schon in der Geburtsstunde der Gruppe ange­deutet hatten. Einige von ihnen haben die Strukturen des westdeutschen Lite­raturbetriebs maßgeblich geprägt und sind teilweise bis heute wirksam. Auf diese Elemente der Gruppe 47 möchte ich im Folgenden überblicksartig in fünf kurzen Thesen eingehen. Als Ergänzung findet sich auf rotherbaron ein längerer Beitrag über die Frühzeit der Gruppe, der deren Entstehungsbedingungen und literaturtheoretische Hintergründe detaillierter beleuchtet.

1.Vorrang des gelesenen Wortes. Am Anfang der Gruppe 47 stand die Idee zu einem Treffen von Schriftstellern, die sich gegenseitig aus ihren Werken vorlesen und diese gemeinsam besprechen wollten. Ziel war es, durch eine kritische Offenheit im Umgang miteinander und mit den geschriebenen Tex­ten die Instrumentalisierung von Sprache und Literatur durch die national­sozialistische Propaganda und deren von verlogenem Pathos getragenen Stil zu überwinden.

So sympathisch dieser "Back-to-the-roots"-Ansatz auch wirkt – er war doch von Anfang an mit einem Konstruktionsfehler behaftet, der sich aus der Be­urteilung der literarischen Werke auf der Grundlage von Autorenlesungen ergab. Denn nicht jeder, der zu schreiben versteht, ist deshalb auch ein gu­ter Vorleser. Außerdem durften die Texte so eine bestimmte Länge nicht überschreiten, oder ein einzelner Ausschnitt musste exemplarisch für das gesamte Werk stehen. Komplexere Werke, deren Sinn sich in den Lesenden erst allmählich aus der kaleidoskopartigen Zusammenfügung der einzelnen Teile aufbaut, waren so von vornherein ausgeschlossen.

Hinzu kommt, dass laut gelesene Werke auch andere Reaktionen provozie­ren als die stille Lektüre. Man kann einen vorgelesenen Text nicht abwägen, ihn nicht hin und her wenden oder mit anderen Texten vergleichen. Er ver­langt stattdessen nach einer direkten Reaktion – die dann aber auf äußeren Merkmalen, auf Stil und Wortwahl beruht und weniger auf einem etwaigen komplexen Sinngehalt und den dafür vom Verfasser gewählten Formen.

2.Literatur als Event. Solange die Gruppe 47 in den Kinderschuhen steckte, mochten die oben beschriebenen Probleme nicht weiter ins Gewicht fallen. Schließlich kannte man sich ja, man konnte um nochmaliges Lesen einzelner Passagen bitten oder den Text vielleicht auch schon vor der Sitzung über­fliegen. Je größer die Gruppe 47 jedoch wurde, je mehr aus dem kleinen, um literarische Erneuerung bemühten Freundeskreis das literarische Highlight des Jahres wurde, desto mehr hingen die Autoren bei ihren Lesungen von ihren Vortragskünsten ab, von dem einen Moment, in dem sie sich und ihre Werke der illustren Runde präsentieren konnten.

Auf diese Weise flossen immer stärker textfremde Faktoren in die Beurtei­lung der Literatur mit ein: die äußere Erscheinung der Autoren, ihr Habitus, ihre Stimme, ihre Vortragsweise … Dies aber konnte auf die Literatur selbst nicht ohne Einfluss bleiben.

Literatur ist und war schon immer auch ein kommunikativer Akt. Noch die auf den ersten Blick abwegigsten Versuche, die innere und äußere Welt lite­rarisch fassbar zu machen, dienen in letzter Konsequenz doch der Verstän­digung über diese Welt. Alle Literatur, so hermetisch sie auch erscheinen mag, will ein Schlüssel zur Welt sein und ist insofern auch immer eine Einla­dung zum Gespräch über diese.

Dabei steht allerdings stets der literarische Text selbst an erster Stelle. Sein vornehmster Zweck liegt gewissermaßen darin, dass Schreibende und Le­sende gemeinsam durch ihn hindurchgehen und sich dabei in einem – direk­ten oder indirekten – Dialog verwandeln. Steht dagegen nicht der Text selbst, sondern der Akt des Vorlesens im Vordergrund, so bleibt auch der kommunikative Akt am bloßen Klang und an der Präsentation des Textes haften – die Literatur wird zum Event. In ihrer Wirkung nähert sie sich dabei dem Popkonzert an, bei dem die unmittelbare, audiovisuelle Teilhabe an der künstlerischen Performance gesucht wird.

Für derartige popkulturelle Happenings eignen sich nun aber bestimme Ar­ten literarischer Schreibweisen besser als andere: Dialoge, Stummelsätze und Rap-Poetry erfüllen eher die Anforderungen eines literarischen Events als komplexe Satzgefüge, reflexive Monologe oder Metaphern, deren Sinn sich erst beim zweiten Lesen erschließt.

Die Vorlesekultur legt den Autoren somit eine Form der Selbstzensur nahe. Gleichzeitig würdigt die Unterordnung der Literatur unter das Event den Text jedoch auch zu einer bloßen Vorstufe herab, zu einem Steinbruch, aus dem Hörspiel- oder – noch besser – Drehbuchautoren ihr Material schöpfen können. Er ist hier folglich nur das erste Glied in der Verwertungskette, wo­bei das Vorlesen die Funktion eines Probelaufs, eines Indikators für die zu erwartende "Quote" erfüllt.

3.Literatur als narzisstische Nabelschau. Nach außen hin vertraten die Vertre­ter der Gruppe 47 den Anspruch einer "Stunde Null", eines "Kahlschlags", durch den die Literatur aus den "Trümmern" ihrer nationalsozialistischen Verunstaltung wieder neu aufgebaut werden sollte. Dabei orientierte man sich an Modellen einer schnörkellosen Sprache, wie man sie in der amerika­nischen Kurzgeschichte im Stile Hemingways und im italienischen Neorea­lismus vorgeprägt fand. Literaturtheoretische Grundsatzdiskussionen wur­den jedoch explizit aus den Gruppensitzungen verband. Alles Augenmerk sollte auf den sprachlichen Ausdruck gelegt werden.

Gerade diese Konzentration auf Wortwahl und Stil führte jedoch dazu, dass der angestrebte radikale Bruch mit der Vergangenheit misslang. Dies gilt sowohl für die inhaltliche Ebene als auch für die Ebene des literarischen Ausdrucks.

Inhaltlich führte die Ideologie des Neuanfangs zu einer Ausblendung der na­tionalsozialistischen Verbrechen, an denen einige Mitglieder der Gruppe 47 zumindest indirekt – als Frontsoldaten – beteiligt gewesen waren. Auf der Ebene des literarischen Ausdrucks entsprach dem eine Kontinuität zu eben jenen Schreibweisen der Innerlichkeit, wie sie im "Dritten Reich" von Auto­ren unter den Bedingungen der Inneren Emigration praktiziert worden wa­ren und von den Vertretern der Gruppe 47 theoretisch abgelehnt wurden.

Selbst wenn die Ausdrucksformen sich an Hemingway orientierten, so blieb die Haltung der Autoren der Gruppe 47 zumindest in den Anfangsjahren allzu oft eine der Selbstbespiegelung. Anstatt die Frage nach den eigenen Verstrickungen in das nationalsozialistischen Unrechtsregime, nach dessen Ursachen und Strukturen aufzuwerfen, bemitleidete man sich lieber für das ungerechte Schicksal, das einen damit verkettet hatte. Dies entsprach exakt der Haltung von Dichtern wie Gottfried Benn, die die eigene zeitweilige Un­terstützung des Nationalsozialismus später in überzeitlich-transzendenten Weltbildern aufzulösen suchten.

Die Gruppe 47 verhalf so ungewollt einer Literatur der Innerlichkeit zur Kon­tinuität, die Gruppenmitglieder wie Heinrich Böll selbst als "Blinde-Kuh-Mentalität" ablehnten. Obwohl die Gruppe später auch andere Schreibwei­sen gefördert hat, hat sie damit doch eine unkritische Nabelschau-Literatur am Leben erhalten, die sich als Grundton bis heute in der deutschen Litera­tur bemerkbar macht.

4.Die Geburt einer neuen Kritikerkaste. Anfangs ging es den in der Gruppe 47 versammelten Autoren um die gleichberechtigte, gegenseitige Begutach­tung ihrer Werke. Mit der Zeit jedoch kristallisierte sich unter den Mitglie­dern der Gruppe eine verhältnismäßig kleine Kaste quasi hauptamtlicher Kritiker heraus, welche die Deutungshoheit über die literarischen Werke an sich riss. Der Grund hierfür war nicht, dass diese Personen über außerge­wöhnliche literarische Fähigkeiten oder besonders fundierte literaturtheore­tische Kenntnisse verfügten. Entscheidend war vielmehr allein ihre Bereit­schaft und Fähigkeit, eloquenter, spontaner und hemmungsloser über Lite­ratur zu reden als andere.

Literaturkritiker, die wegen der zynischen Wucht und der Treffsicherheit ih­rer Worte gefürchtet waren, gab es natürlich auch schon vor der Gruppe 47. Diese hat die Herausbildung einer Nachkriegselite in diesem Bereich aller­dings entscheidend gefördert, indem sie entsprechend ambitionierten Per­sonen eine Bühne bot. Dabei bildete sich ein ganz bestimmter Kritikertypus heraus, der sich unabhängig von den konkreten Personen durchsetzte. Mit ihm haben sich auch die Maßstäbe, die im Vorlesesaal der Gruppe 47 an Li­teratur angelegt wurden, verselbständigt. So ist Literatur auch heute noch das unterhaltsame Produkt medientauglicher Autoren, die von unterhalt­sam darüber parlierenden Fernsehkritikern gewürdigt werden.

5.Der Literaturbetrieb als hermetischer Zirkel. Je mehr die Gruppe 47 sich als wichtigstes Organ der westdeutschen Nachkriegsliteratur etablierte, desto wichtiger wurde es für Autoren, in diesem Rahmen aufzutreten und Aner­kennung zu finden. Die Kriterien für die Aufnahme in den Kreis waren dabei von Anfang an intransparent. Wer zu den Tagungen eingeladen wurde, ent­schied Hans Werner Richter, der Gründer der Gruppe 47. Auf welcher Grundlage er seine Entscheidungen traf, blieb ihm allein überlassen.

Jürgen Becker, der letzte Preisträger der Gruppe 47, hat die Einladung in den erlauchten Kreis einmal mit der Berufung in die Fußballnationalmann­schaft verglichen – für die der Bundestrainer ja auch niemandem Rechen­schaft schuldig ist. Denkbar ist allerdings, dass der Literatur-Yogi Hans Wer­ner Richter hier und da den Einflüsterungen der großen Verlage gefolgt ist, die natürlich ein Interesse an der Initiation ihrer Schützlinge in die literari­sche Artusrunde hatten.

Eben diese immer stärkere Verflechtung der Gruppe 47 mit kommerziellen Interessen war wohl auch mit ein Grund dafür, dass die Gruppe zwanzig Jahre nach ihrer Gründung schließlich auseinanderbrach. Fortan vergaben die großen Publikumsverlage den Ritterschlag des Schriftstellers in Eigenre­gie. Die fehlende Transparenz, die Hans Werner Richter hier etabliert hatte, spielte ihnen dabei insofern in die Hände, als sie die immer stärkere Orien­tierung am kommerziellen Erfolg der verlegten Texte so unter dem Deck­mantel der "Entdeckung neuer literarischer Talente" verstecken konnten.

Zitatenachweis:

Erinnerungen Toni Richter: Richter, Toni (Hg.): Die Gruppe 47 in Bildern und Texten (hier S. 16). Köln 1997: Kiepenheuer & Witsch.

Zitat Jürgen Becker: Pott, Wilhelm Heinrich: Die Gruppe 47. Norddeutscher Rundfunk, 10. September 2007.

Zur Vertiefung:

Rother Baron: Die Gruppe 47 in ihrer Frühzeit. Entstehungsbedingungen, literaturtheoreti­sche Hintergründe, Diskussionskultur; mit ausführlichen Literaturhinweisen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Rotherbaron

Autor, Blogger. Themen: Politik, Gesellschaft, Natur und Umwelt, Literatur, Kultur. Seiten: rotherbaron.com; literaturplanetonline.com

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