Im Herbst 1809 erschien Johann Wolfgang von Goethes letzter Roman Die Wahlverwandtschaften. Exakt 200 Jahre später gelangte er nun erstmals auf die Bühne. Ort des Geschehens war das Berliner Maxim-Gorki-Theater, das es sich mit einiger Hartnäckigkeit zur Aufgabe gemacht hat, Romane für die Bühne zu adaptieren: Im Repertoire findet sich bereits ein gutes Dutzend solcher Inszenierungen, und in der neuen Spielzeit, die soeben begonnen hat, kommt ein weiteres halbes hinzu.
Dass es Dramaturgen und Regisseuren reizvoll erscheint, mit Hilfe einer bühnenfremden literarischen Gattung andere Erzählweisen im Theater zu etablieren, leuchtet auf Anhieb ein. Dennoch muss sich jeder Versuch die Frage gefallen lassen, ob sich die Stoff- und Themenfülle, im Falle der Wahlverwandschaften immerhin knapp 400 Seiten, so auf die Bedingungen einer Theateraufführung komprimieren lässt, dass die Gründe für den Schritt über die Gattungsgrenzen erkennbar bleiben. Bei diesem Unterfangen hat das Gorki-Theater mal mehr und, so auch nun, mal weniger Fortune.
Der Titel des Romans spielt auf das naturwissenschaftliche Phänomen an, dass zwei Stoffe ihre angestammte und vermeintlich dauerhafte Bindung aufgeben, sobald ein weiterer Stoff hinzukommt. Dem Juristen Goethe, der sich intensiv mit den Naturwissenschaften befasste, war dieses Phänomen vertraut; durch eigenes Erleben motiviert, griff er es auf und übertrug es auf die Beziehungen zwischen Menschen: Der reiche Baron Eduard und seine Frau Charlotte leben einträchtig in prunkvoller Umgebung, in die Eduard einen befreundeten Hauptmann und Charlotte ihre Nichte Ottilie einlädt. Die neue Konstellation wirft die alten radikal über den Haufen, anders als in der Chemie jedoch ohne dabei neue Bindungen zu begründen, die von Dauer wären.
Die Spielzeit am Gorki Theater steht unter dem Motto „Ökonomie des Lebens“; gemeint ist damit der „Versuch, eine Sprache für die Beziehungen zwischen Menschen, für die Organisation des Zusammen- und damit des Überlebens zu finden“. Der Vorsatz macht die Eröffnung mit den Wahlverwandtschaften also unbedingt plausibel. Dass der Inszenierung von Barbara Weber die Plausibilität fehlt, ist jedoch schon der vollgestopften Bühne (Alexander Wolf) anzusehen, die das Glück der Zweisamkeit, ehe es zerbrechen kann, bereits desavouiert: Künstliche Palmen, ein Eisbärenfell und elektrisches Kaminfeuer verunglimpfen die, die darin leben und an sich und ihren Empfindungen leiden. Der Vorgang wiederholt sich in der Figurenzeichnung, deren Extreme Hysterie (Britta Hammerstein als Ottilie) und Zynismus (Johann Jürgens als Pianist, Architekt und Conférencier in Badehose) heißen. Im neutralen, weil konturlosen Niemandsland bewegen sich Wilhelm Eilers und Jürgen Lingmann, die als Eduard und Hauptmann Zuflucht im Klischee suchen, während Anja Schneider als Charlotte merklich unterfordert ist. Und ständig in Vergangenheitsform und dritter Person über sich selbst zu reden tut keinem von ihnen gut.
Eine Erzählweise, die den Rückgriff auf eine bühnenfremde literarische Gattung legitimiert, stellt sich so in keinem Moment der zweieinhalb Stunden her. Was bleibt, ist eine knirschende Theatermaschinerie, die durch ständige Lichtwechsel und musikalische Dauerberieselung in Gang gehalten wird. Im Sinne der gesuchten „Sprache für die Beziehungen zwischen Menschen“ hingegen bleibt der Abend stumm.
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