Die Zeiten der Tarifrunden-Rituale, in denen es oft nur um ein erhöhtes Entgelt im Bereich hinter dem Komma ging, sind vorbei. Das hat die IG Metall nicht zuletzt mit den Tarifabschlüssen in diesem Jahr signalisiert. Die Gewerkschaftsführung wusste nach einer Umfrage unter ihren 2,3 Millionen Mitgliedern, dass über vier Fünftel „mehr Selbstbestimmung“ und eine „Anpassung der Arbeitszeit an das Leben“ wollen. Also wurde im Februar bei zähen Verhandlungen für die Metall- und Elektroindustrie in Baden-Württemberg ein bemerkenswerter Pilotabschluss durchgesetzt. Danach erhalten Beschäftigte das Recht, die Arbeitszeit auf bis zu 28 Stunden pro Woche zu reduzieren, sofern sie Kinder unter 14 Jahren haben oder Familienangehörige zu Hause pflegen. Im Gegenzug wird Betrieben zugestanden, dann mit mehr Beschäftigten als bisher 40-Stunden-Verträge abzuschließen. Erprobt werden die Effekte dieses Übereinkommens in einem Zeitraum von 27 Monaten, der Laufzeit des Tarifabschlusses.
Vor zehn Jahren hatte die IG Metall beschlossen, das Jahrbuch Gute Arbeit herauszugeben. Sie folgte damit einer Einsicht, wie sie Karl Marx vor fast 150 Jahren formuliert hatte, und an die jüngst der Jenaer Sozialwissenschaftler Klaus Dörre bei einer Tagung zum Jubiläum des Jahrbuchs erinnerte: Fortschritt und Freiheit würden sich nicht an der Fülle von Arbeit und auch nicht an der protestantisch imprägnierten Erfüllung durch Arbeit bemessen, sondern an der „verfügbaren Zeit“. Das heißt, der „disposable time“, die Freiheit erst real mache, wie es in Marx Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie (1857/58) wörtlich heißt. „Diese Schöpfung von Nichtarbeitszeit erscheint auf dem Standpunkt des Kapitals als Nicht-Arbeitszeit, freie Zeit für einige.“ Marx ging es „nicht darum, die Arbeit zu befreien, sondern sie aufzuheben“. Er wollte die Arbeitszeit „auf ein fallendes Minimum reduzieren“, denn „der wirkliche Reichtum ist die entwickelte Produktivkraft aller Individuen“, und die bestand für ihn aus mehr und anderem als Arbeit, Akkumulation und Konsum.Das Jahrbuch Gute Arbeit wird bis heute von Hans-Jürgen Urban (IG Metall) und Lothar Schröder (Verdi) herausgegeben. Jeder Band umfasst rund 400 Seiten. Die Auflage liegt im Schnitt bei 4.500 bis 6.000 Exemplaren.
Dabei ist der Titel programmatisch zu verstehen, als Absage nämlich an traditionelle Gewerkschaftsstrategien unter den Parolen: „Jede Arbeit ist besser als keine“ oder „Sozial ist, was Arbeit schafft“. Mit dem Credo „Gute Arbeit“ verabschiedeten sich die Gewerkschaften auch von einer perspektivenlosen Wachstumsideologie, sprich: einem ökologisch und sozial blinden Produktivismus. Man entsagt der menschenverachtenden „Subsumtion der lebendigen Arbeit unter die Imperative der Kapitalverwertung“, so Verdi-Chef Frank Bsirske.
„Die helle Seite der Macht“
Die neuen Herausforderungen, auf die das Jahrbuch stets Antworten gesucht hat, lauten: Was geschieht mit der Arbeitskraft angesichts von Digitalisierung und Globalisierung? Was muss geschehen, um den herrschenden Trends auf den Märkten und in der Politik die Stirn zu bieten? Beide Fragen laufen auf die Grundfrage hinaus: In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Den Gewerkschaftsführungen wie der Redaktion des Jahrbuchs scheint klar zu sein, dass sie darauf allein keine tragbare Antwort finden. Das Jahrbuch sieht sich deshalb auch der Mission verpflichtet, gewerkschaftliche Strategien, wissenschaftliche Expertise und Praxiserfahrung zusammenzuführen. Daran sollen möglichst viele Vertrauensleute, Betriebsräte, Mitglieder und hauptamtlich Beschäftigte der Gewerkschaften beteiligt werden. Im Gegensatz zu früheren Programmen wie etwa dem maßgeblich von Hans Matthöfer (SPD) initiierten zur „Humanisierung der Arbeitswelt“ vertraut man nicht mehr auf das Wissen von Experten und Institutionen, das von außen und von oben in die Gewerkschaften eingespeist wird, sondern sucht nach demokratisch-partizipativen Wegen unter „Beteiligung der Betroffenen als Experten in eigener Sache“ (Pickshaus/Urban). Das heißt, man arbeitet „mit den Beschäftigten für die Beschäftigten“, wie es die VW-Betriebsratsvorsitzende Ulrike Jakob (Baunatal) formuliert hat. Indem sie die Sozialwissenschaft für eine wirtschaftsdemokratische Transformation mobilisieren, die ohne Konflikte nicht zu haben sein wird, bilden starke Gewerkschaften in der Demokratie „die helle Seite der Macht“, meint Monika Brandl, Gesamtbetriebsrat bei der Deutschen Telekom.
In ihrem programmatischen Artikel zur ersten Ausgabe des Jahrbuchs 2008 stellten IGM-Vorstand Hans-Jürgen Urban und der Politikwissenschaftler Klaus Pickshaus fest, die Gewerkschaften würden „nicht über ein schlüssiges Leitbild einer modernen, ‚guten‘ Arbeit“ verfügen. „Und dies in einer historischen Phase, in der sich die Erwerbsarbeit in einem tiefgreifenden Wandel befindet, der arbeitspolitische Interventionen dringlicher denn je macht“. Die Autoren hofften damals noch, „dass die konkrete Utopie einer ‚guten Arbeit‘ auch heute – allem Wertewandel zum Trotz – weitreichende Ausstrahlungskraft erzeugen könnte“.
Ein ganzes Jahrzehnt später und nach Texten von gut 400 Autoren zu den Jahrbüchern lässt sich festhalten, dass der Terminus „gute Arbeit“ heute fast omnipräsent ist. Dem Vorrang von Produktivitäts- und Profitabilitätsvorgaben unter dem Primat des Shareholder-Value stellten Pickshaus/Urban in ihrem Grundsatzartikel 2008 die „alters- und alternsgerechte Arbeitsgestaltung“, die Themen „prekäre Beschäftigung“ und „Prekarität als Gesundheitsrisiko von Beschäftigten“ entgegen. So wurde – zusammen mit den Themen „Kontrolle und Überwachung“ bei der Digitalisierung von Arbeits- und Produktionsprozessen – das Ziel „gute Arbeit“ von Anfang an als Akt des Widerstandes begriffen: „Es gilt, schlechter Arbeit Grenzen zu setzen“. Freilich musste sich die IG Metall dessen bewusst sein, dass ein solches Konzept davon abhängt, wie konfliktfähig und -willig die Interessenvertretungen der Belegschaften sind.
Nach zehn Jahren bilanzieren die Protagonisten des Jahrbuchs, dass es nicht allein um mehr gewerkschaftliche Konfliktfähigkeit geht, sondern ebenso um die Koordinierung verschiedener sozial-ökologischer Bewegungen zu einer demokratisch legitimierten Bewegung für „sozial-ökologische Transformation“ und den „Ausbau von Wirtschaftsdemokratie“. Zu beachten seien dabei beschäftigungspolitische, ökologische, marktwirtschaftliche und arbeitspolitische Nachhaltigkeit – mit einem Wort: „gute Arbeit“. Was es dazu an Herausforderungen gibt, wird deutlich, wenn man bedenkt, dass es bei dieser Transformation nicht nur darum geht, wie und zu welchem Zweck Arbeitskraft reproduziert wird. Die gesellschaftlichen Strukturen sind ebenso von Belang wie der Zustand der Natur. Gewerkschaftliche Politik muss demnach ihre Interessen in allen drei Reproduktionskreisläufen – Arbeitskraft, Gesellschaft, Natur – verdeutlichen, aber sich gleichzeitig bescheiden, weil sie nur einer unter mehreren Playern ist. Dort, wo sich Umwelt- und Überlebensfragen mit Klassenfragen überlappen, liegt ihr Terrain.
Die Schlüsselfrage, besonders für die IG Metall, lautet, wie ein Kapitalismus funktionieren soll, nachdem sich die Fortschreibung des Wachstums- und Produktivitätstrends für viele Branchen als Sackgasse (automobilgestützter Individualverkehr) und/oder als „ungedeckter Wechsel auf die Zukunft“ (industrialisierte Landwirtschaft, Energieerzeugung aus fossilen Stoffen) erwiesen hat. Nachdem der Wachstumswahn nachhaltig delegitimiert ist, geht es um das dornige Problem einer „Re-Legitimierung ökonomischen Wachstums“ und um ein sozialökologisch vertretbares Entwicklungsmodell der Ökonomie. Ein solches zeichnet sich bestenfalls in groben Umrissen ab und wird im wohlfeilen Gerede des grün-liberalen Führungspersonals nicht einmal geahnt – im Gegensatz zum gewerkschaftlichen Diskurs.
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