Effizient nachgeben

Frankreich Erst sah sich Emmanuel Macron als Konkursverwalter der Fünften Republik. Inmitten des Protests der Gelbwesten ist er das nun in eigener Sache
Ausgabe 50/2018
„Tritt zurück, Macron“, steht auf der Mauer hinter den protestierenden Gelbwesten
„Tritt zurück, Macron“, steht auf der Mauer hinter den protestierenden Gelbwesten

Foto: Jean-Francois Monier/AFP/Getty Images

Für Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron sieht es schlecht aus. Sein politisches Ende könnte sich mit der gleichen Rasanz einstellen, wie sie seinem Aufstieg eigen war: 2012 kam er in den Präsidialstab („cabinet“) von François Hollande. 2014 wurde er dessen Wirtschaftsminister, im Herbst 2016 verließ er die Regierung und kündigte an, für das Amt des Staatspräsidenten zu kandidieren.

Unterstützt wurde er dabei von seinem schnell wachsenden Fanclub „En marche“, ebenso von konservativen und sozialistischen Politikern. Die verließen ihre Parteien – den Parti socialiste und Les Républicains – angesichts des Zustands des französischen Parteiensystems. Die Stimmung für einen Politikwechsel mit einem „neuen Mann“ an der Spitze des Staates wurde befeuert durch den Amtsinhaber Hollande, der mehr durch seine nächtlichen Rollerfahrten von sich reden machte als durch politische Tatkraft. Der wegen der Terroranschläge vom 13. November 2015 herrschende Ausnahmezustand, der mehrmals verlängert wurde, beförderte die Wechselstimmung nicht unerheblich.

Macrons forsches Auftreten schwankte zwischen dem eines Konkursverwalters der Fünften Republik und dem eines quasi-monarchischen Wiedergängers Napoleons III. Es weckte hohe Erwartungen und verschaffte ihm einen Wahlsieg im Frühsommer 2017. Bei Licht besehen, beruhte der auf einer optischen Täuschung: Der Nichtwähleranteil betrug am 7. Mai 2017, im zweiten Wahlgang, 57 Prozent, und die 314 Mandate für Macrons Bewegung La République en marche (LRM) in der Nationalversammlung sind einzig dem Mehrheitswahlrecht zu verdanken. Bezieht man die Zahl der Macron-Wähler allein aus der Gesamtheit der Wahlberechtigten, lag Macrons Anteil unter 15 Prozent – also auf einem dürftigen Legitimationsniveau. Als Staatschef trat er an, um – wie einst Charles de Gaulle – den Einfluss von Parlament und Parteien auf ein Minimum zu reduzieren und die Entbehrlichkeit Letzterer als Vorzüge einer neuen Staatsform anzupreisen, die sich als „präsidial-republikanische Monarchie“ versteht.

Fluch der Götter

Von der nächtlichen Show zum Amtsantritt am 14. Mai 2017 im Hof des Louvre bis zu seinen Auftritt mit der „Garde républicains“ beim Schloss von Versailles beeindruckte Macron das Fernsehpublikum kurzfristig. Solche Inszenierungen, zuletzt auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs, trugen ihm Spottnamen ein: „Pharao“ nennt ihn Jean-Luc Melénchon, Führer der linken Partei La France insoumise (FI), als „Jupiter“ firmiert er in den Medien.

Aufgeschreckt hat Macron mit seinen Reden, in denen republikanische Freiheit und Gleichheit weitaus blasser und formelhafter blieben als nostalgische Anspielungen auf den Glanz der Monarchie: „Ich glaube entschieden, dass das französische Volk den Tod des Königs nicht wollte. Die Terrorherrschaft hatte eine kollektive emotionale Leere gegraben. Der König ist nicht mehr – die Demokratie füllt das Loch nicht.“ Mit solchen Phrasen über Ludwig XVI. und die Herrschaft der Jakobiner während der Revolution von 1789 bis 1794 erweckte Macron bei einigen hohe Erwartungen, bei sehr vielen dagegen Unbehagen.

Sein Innenminister Gérard Collomb – Gymnasiallehrer für Latein und Griechisch – verabschiedete sich aus der Regierung mit dem Hinweis auf einen „Mangel an Demut“ und ließ wissen, im Griechischen gebe es dafür das Wort „Hybris“: „Das ist die Verfluchung der Götter, wenn jemand sich selbst und seiner Sache zu sicher wird.“

Noch bevor die Befürchtungen durch seine innenpolitischen „Reform“-Schritte bestätigt wurden, erntete Macron mit den Vorschlägen zur EU-Reform in seiner Rede im September 2017 an der Sorbonne und in Athen europaweit Respekt und Zustimmung – und stillen Boykott in der Bundesrepublik. Macron forderte eine „Vertiefung der europäischen Währungsunion“: ein eigenes Budget für die Euro-Länder, einen eigenen Wirtschaftsminister und ein eigenes Euro-Parlament sowie einen Währungsfonds der Eurozone.

Es wurde schnell deutlich, dass diese Pläne in Berlin auf taube Ohren stießen, dort wollte und will man keine gemeinsame Sozial-, Wirtschafts- und Steuerpolitik oder gar eine „Vergemeinschaftung der Staatsschulden“. Darüber wollte Angela Merkel (CDU) nicht einmal diskutieren. Sie verlegte sich deshalb auf ein Versteckspiel, wie es schon Macron-Vorgänger Hollande mit seinem Projekt erlebt hatte, für die Südländer Griechenland, Italien, Spanien, Portugal und Frankreich ein EU-gestütztes Entwicklungs- beziehungsweise Hilfsprogramm zu schaffen. Merkel und ihr damaliger Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) ließen Hollande ins Leere laufen, die SPD als Koalitionspartner der CDU/CSU unternahm gar nichts, um dem Sozialisten beizustehen.

Innenpolitisch verharrte Macron nur allzu oft bei Ankündigungen, mit der Wahlrechtsreform wie mit der Gesundheitsreform, die letztlich auf die Option schrumpfte, den Preis für eine Packung Zigaretten auf zehn Euro anzuheben. Nichts kostete die Verfassungsreform: Sie beschränkte sich darauf, das Wort „Rasse“ in der Magna Charta von 1958 zu streichen.

Schon bei der ersten Arbeitsrechtsreform 2016 hatte Macron als Wirtschaftsminister die Fäden gezogen, während Arbeitsministerin Myriam El Khomri und Premier Manuel Valls das Vorhaben gegen massive Proteste verteidigten. Die Gewerkschaften attackierten die Reform, indem sie deren Wesen auf den Punkt brachten: „Mehr arbeiten, weniger verdienen, leichter entlassen!“ Seinerzeit entstand die Protestbewegung „Nuit debout“ gegen „das prekäre Leben und eine unbewohnbare Welt“. Sie entzog Hollande und seinem Ministerpräsidenten Valls jedes politische Vertrauen, so wie derzeit die „Gelbwesten“ den Nachfolgern Macron und Édouard Philippe.

Als Präsident unternahm Macron, der seine Politik mit dem Imperativ „Effizient regieren!“ versah, im Sommer 2017 einen zweiten Versuch, das Arbeitsrecht „marktgerecht“ zu gestalten. Die Mehrheit im Parlament nickte das Vollmachtengesetz ab. Trotz mehrerer gewerkschaftlicher Aktionstage trat eine Novellierung in Kraft, die Betriebsvereinbarungen den Tarifverträgen vorzieht und so die Gewerkschaften zu entmachten sucht. Gleichermaßen temporeich wurde Anfang 2018 die Vermögenssteuer auf Luxusgüter abgeschafft. Die gut 330.000 wohlhabendsten Bürger Frankreichs werden so um 3,2 Milliarden Euro reicher – pro Jahr!

Die jetzigen Proteste der „Gelbwesten“ richten sich auch gegen diese Klientelpolitik, nicht allein gegen die mittlerweile verschobene Ökosteuer auf Benzin und Diesel. Noch am 27. November hatte Macron jede Änderung an der Ökosteuer strikt abgelehnt. Ebenso Premierminister Philippe, der versprach, Kurs zu halten, aber inzwischen zurückruderte und beteuerte: „Kein Steuervorhaben verdient es, die Einheit der Nation zu gefährden.“ Doch um die ursprüngliche Steuerbürde geht es mit dem landesweiten Aufruhr nicht mehr allein, sondern um eine kategorische Wende.

Präsident der Reichen

Macron hat sich mit seiner Ökosteuer auf Benzin und Diesel auf die schiefe Bahn eines bigotten Lobredners geführt, der Mobilität und Globalisierung predigt, aber Pendlern vom Land ebendiese Steuer auferlegt. Das Dilemma für den Präsidenten: Entweder stärkt er die Protestbewegung, indem er deren Forderungen nicht nachgibt, oder er kollidiert mit Stabilitätsvorschriften der Europäischen Union, wenn er nachgibt, also Steuern und Abgaben senkt.

Im europäischen Durchschnitt steht Frankreich mit einem Anteil der Steuer- und Abgabenlast von 46,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts an der Spitze. Im OECD-Durchschnitt sind es 34,2 Prozent, in Deutschland 37,5, also rund ein Fünftel weniger. Würde Macron in dieser Lage die Staatsausgaben senken, wie das Konservative, Liberale und die Finanzmärkte wünschen, wäre eine zentrale Forderung der Protestbewegung missachtet, nämlich die wachsende urbane, soziale, kulturelle und infrastrukturelle Verödung ganzer Landstriche zu beenden, statt sie mit dem Rezept des „schlanken Staates“ zu verewigen.

In seiner Ansprache am Montagabend schwenkte Macron dann um. Er kündigte an, den Mindestlohn um 100 Euro pro Monat anzuheben. Zudem soll es künftig auf Überstunden weder Steuern noch Sozialabgaben geben, und die kürzlich erhöhte Steuer für Menschen mit einer Rente von weniger als 2.000 Euro möchte er zurücknehmen. Das sind Zugeständnisse an die Protestbewegung, mit denen der Präsident die Maastrichter Defizitgrenze von drei Prozent der Wirtschaftsleistung kaum einhalten kann. Sein Motto scheint nun zu lauten: „Effizient nachgeben.“ Wird das reichen, um das Land zu befrieden?

Macron steht mit dem Rücken zur Wand. Sein Image als „Präsident der Reichen“ wird er wohl nicht mehr los, was seine Chance auf eine Wiederwahl schmälert. Mit seiner innenpolitischen Reform-Agenda, die partiell gut gemeint sein mochte, aber sozial unausgewogen war, ist er gescheitert. Soziale und politische Träger für einen Umbau der Fünften in eine Sechste Republik mit weniger präsidialen und mehr demokratischen Strukturen, wie ihn Teile der Protestbewegung und der Linken verlangen, sind vorerst nicht in Sicht.

Ob Macrons Partei LRM die Krise überlebt, ist offen. Nur Berufsmacronisten, wie sie sich vorrangig in der deutschen Presse tummeln, nehmen Macrons Credo des „Ni-ni“, des Weder-rechts-noch-links, ernst. Sie glauben, der Staatschef könne scheinbar unvereinbare Gegensätze versöhnen, in denen sich Klassenfragen und -widersprüche spiegeln. Darauf setzte schon der ehemalige Präsident Charles de Gaulle vergeblich. Voran ging es seit Mai 2017 nur mit der Spaltung der Gesellschaft in Reiche und Arme, Gewinner und Verlierer, Privilegierte und Deklassierte.

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