Unübersehbar brodelt es in Frankreichs politischem System, in regelmäßigen Abständen kommt es zu Flächenbränden, zuletzt mit der Bewegung der „Gilets Jaunes“ (Gelbwesten) und den Protesten gegen Macrons Rentenreform. Solcherart Aufruhr begegnet die Politik mit mehr oder weniger kostspieligen Konzessionen, die nicht zu beziffernde Imageverluste für Emmanuel Macrons Führungspersonal verursachen, aber auch ganz reale Kosten. Allein die Staatsbahn SNCF hat der mehrwöchige Streik über den Jahreswechsel hinweg gut eine Milliarde Euro gekostet. Was den Imageverlust betrifft, so sank das Ansehen des Präsidenten auf einen historischen Tiefpunkt. Nicht einmal jeder vierte Wahlberechtigte würde ihn noch einmal wählen.
Macron reagiert auf die politische Krise, die im Kern eine lange währende Verfassungskrise ist, mit einer Kampfansage an den neuesten „Feind“ der Republik und erklärt am 18. Februar in Bourtzwiller, einem heruntergekommenen Stadtteil von Mulhouse mit 15.000 vorwiegend muslimischen Einwohnern: „Unser Feind ist der Separatismus!“ Für 47 solcher Viertel im Land hat der Präsident das Programm „republikanische Rückeroberung“ angekündigt. Unter „Separatismus“ subsummiert er einiges, von rechtsstaatlich nicht tolerierbaren Gesetzesbrüchen wie Zwangsheiraten über Privatangelegenheiten wie dem religiös motivierten Gebot der Jungfräulichkeit bis zu kulturellen Traditionen in der Kleiderordnung oder Begrüßungsritualen zwischen den Geschlechtern. Sehen „Feinde“ der Republik so aus? Offenbar soll die multiethnische, multireligiöse Gesellschaft mit dem großen Hobel homogenisiert werden. Macron verzichtet dabei sogar auf die Differenz von ethisch-religiösen Werten und gesetzlichen Normen. Es geht um die seit Beginn des 20. Jahrhunderts geltende Trennung von Kirche und Staat beziehungsweise den „Laizismus“, der christliche, jüdische, muslimische wie religionsferne Franzosen rechtlich messerscharf normiert, aber immer nur partiell eingehalten wurde. So finanziert die laizistische Republik katholische Privatschulen mit, in denen die Elite ihre Kinder – unbehelligt von den armen Sprösslingen der Einwanderer – unterrichten lässt.
Derartige Widersprüche sind für die Krise des politischen Systems und die kollabierende Reputation des Staatschefs mitverantwortlich. Die Ursachen freilich liegen tiefer, sie bestehen in der verfassungsmäßigen Installierung der V. Republik von 1958. Insofern ist Macron zugleich Gefangener wie Profiteur der Verfassung von Charles de Gaulle und der politischen Tradition, in der diese Magna Charta steht.
Die Konstitution, die sich der General zimmern ließ, nachdem die Obristen Raoul Salan, Jacques Massu und Jacques Soustelle am 13. Mai 1958 in Algier offen mit einem Putsch gegen die zerstrittene und handlungsunfähig gewordene IV. Republik gedroht hatten, sollte die Exekutive stärken, das Parlament schwächen und die Parteien marginalisieren. De Gaulle hatte bis dahin der Pariser Politik mit dem intriganten Treiben der Parteien unter dem Dach des Parlamentarismus – mit zwei Dutzend Regierungswechseln in 13 Jahren – seit 1946 von seinem Landsitz in Lothringen aus nur noch zugeschaut. Hier erlebte er das Drama der Entkolonisierung mit der Niederlage im nordvietnamesischen Dien Bien Phu am 7. Mai 1954 und den Beginn des Algerienkrieges ein halbes Jahr später. Die Stunde des angekündigten, aber nicht vollzogenen Schlags der Generäle vom 13. Mai 1958 unter dem Decknamen „Opération résurrection“ (Operation Auferstehung) wurde zur Stunde de Gaulles.
Schiedsrichter der Nation
Präsident René Coty ließ „den berühmtesten aller Franzosen angesichts der Gefahr für das Vaterland“ nach Paris kommen. De Gaulle war bereit, den geplanten Putsch – gewaltlos und legal – zu beerben. Er wollte sich weder ins Spiel der Parteien im Parlament einbinden lassen noch in jenes der gewaltbereiten Putsch-Generäle. So erhielt er die Vollmacht, die IV. Republik als deren letzter Premier zu beerdigen und innerhalb eines halben Jahres ohne parlamentarische Beteiligung eine Verfassung für die V. Republik auszuarbeiten und diese dem Volk zur Abstimmung vorzulegen. Eine Arbeitsgruppe seines Vertrauten Michel Debré, in der unter anderem der Sozialist André Chandernagor (geb. 1921) den Ton angab, schneiderte dem General eine Verfassung, die ganz den Erwartungen entsprach, wie der sie schon 1946 geäußert hatte. Ihm schwebte ein Präsident als „Schiedsrichter der Nation oberhalb der Parteien“ vor.
Fast alle Züge, die heute die Krise des französischen Systems ausmachen, sind in der Verfassung von 1958 angelegt: die doppelte Exekutive von Präsident und Premierminister, dazu die umfassende Handlungsvollmacht („domaine réservé“) des Präsidenten, sofern es um die „Souveränität und nationale Unabhängigkeit“ geht. Die Abhängigkeit des Premierministers wie der Minister vom Präsidenten kann Politiker zu Prokuristen von präsidialer Gnade degradieren. Nicolas Sarkozy (im Amt 2007 bis 2012) sprach schlicht von „meinen Mitarbeitern“. Die beschränkten Handlungsspielräume der Parteien schwächen selbstredend das Parlament. Das quasi-demokratische Mehrheitswahlrecht untergräbt die Legitimität der Gewählten und fördert den Typ des von der Politik entfremdeten Wählers.
Weitgehend dysfunktional wirkt die 1962 eingeführte Volkswahl des Präsidenten, der seit 1986 immer wieder zur Zusammenarbeit mit Politikern und Parteien, die ihn ablehnen – sprich: zur „Cohabitation“ – gezwungen ist. Mit dem faktischen Verschwinden der beiden großen Parteien, der konservativen Les Républicains und der Sozialisten, sah sich Macron veranlasst, eine „Partei“ – La République en Marche (LREM) – buchstäblich aus dem Boden zu stampfen. Trotzdem verdankt er seinen Wahlsieg vom Frühjahr 2017 weniger seinem Fanclub als dem massiven Beistand seitens der sechs die Medien beherrschenden Oligarchen. Als Präsident agiert er prompt medienfixiert-populistisch. Das heißt, als quasi-monarchischer Selbstherrscher bedient er sich einer Machttechnik, die im Unterschied zum historischen, autoritär antidemokratischen Bonapartismus nicht mit Gewalt regiert, sondern „nur“ mit dem temporären Ausnahmezustand, mit der Mobilisierung von „Volkes Stimme“, mit Fernsehreden und majestätischen Zeremonien wie der Amtseinführung im Innenhof des Louvre. Macrons Rede im Schloss von Versailles am 3. Juli 2017 folgte der Tradition von Bürgerkönig Louis Philippe und Napoleon III., die vor Parlamentariern sprachen und es diesen verwehrten, ihnen zu antworten.
Mit Artikel 49/3 enthält die Verfassung von 1958 eine Vollmacht für die Regierung, Gesetze faktisch am Parlament vorbei zu dekretieren. Der Passus ermöglicht es der Regierung, einmal pro Session ein Gesetz mit der Vertrauensfrage zu verbinden. Entzieht das Parlament dem Premier das Vertrauen nicht, gilt das Gesetz ohne Zustimmung des Parlaments, was bisher gut achtzig Mal geschehen ist. Auch die Rentenreform wurde so durchgedrückt. Die sozialistischen Präsidenten Mitterrand und Hollande kritisierten den Artikel 49/3 – und machten dennoch davon Gebrauch.
Von einem „rationalisierten Parlamentarismus“ sprach in Frankreich der Verfassungsrechtler Boris Mirkine Guetzevitch (1892 – 1955) schon 1928. Heute bewirkt Artikel 49/3 genau das. Es kann nicht verwundern, wenn die Opposition von rechts wie von links seit Langem fordert, die V. durch eine VI. Republik zu ersetzen, um demokratische Defizite zu beseitigen. Bereits das „Gemeinsame Programm“ von Sozialisten und Kommunisten verlangte 1972 eine VI. Republik mit neuer Machtbalance zwischen Präsident, Parlament und Regierung, dazu das Verhältniswahlrecht. Der sozialistische Ex-Minister Arnaud Montebourg gründete 2001 die „Konvention für eine demokratischere und sozialere VI. Republik“.
In aktuellen Umfragen stimmen dem 52 bis 62 Prozent der Wähler zu, aber niemand weiß, wie und durch wen zu erreichen wäre, was nottäte. Jean-Luc Mélenchon von der Partei La France insoumise wurde in seinem „Programm für eine Linksfront“ im Wahlkampf 2012 deutlicher: Eine konstituierende Nationalversammlung sollte den Auftrag erhalten, eine neue Verfassung auszuarbeiten. Gesetzt seien ein reformiertes Wahlrecht und ein nationaler Medienrat. Alles in allem jedoch sind Vorstellungen von einer VI. Republik nicht weniger vage als Macrons „Revolution“, die er 2017 im Wahlkampf angekündigt hatte.
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