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Die „Methode Macron“ beruht auf einer simplen Devise: „Ihr diskutiert, ich entscheide.“ Das hat bislang funktioniert – zum Beispiel bei der Reform des Arbeitsrechts, bei der die Regierung Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften zu getrennten Verhandlungen einlud und schließlich mit Verordnungen („Ordonnances“) an der Nationalversammlung vorbei genau das durchsetzte, was sie sich vorgenommen hatte. Die Legislative verfügte nur noch über die Alternative, das Reformpaket abzunicken oder es ganz zu verwerfen. Parlamentarische Debatten oder Änderungsanträge sind in der auf Effizienz eingestellten Regierungsmaschine Macron unter dem Decknamen „Demokratie“ nicht mehr vorgesehen. Der Kolumnist Jean Baptiste de Montv
ntvalon bescheinigte dem Präsidenten deshalb in Le Monde „Bonapartismus in seiner Art zu regieren“.Das Regieren mit Verordnungen ist verfassungsrechtlich hoch umstritten, denn der Artikel 38, der die Anwendung regelt, ist nur für Ausnahmesituationen und Notfälle gedacht. Diese Ansicht vertrat auch Macron vor seiner Wahl zum Staatschef, als er dem regierenden Premierminister Manuel Valls öffentlich widersprach, weil dieser das Arbeitsrecht mittels Verordnungen durchdrückte. Jetzt allerdings hat sich die Regierung von Ministerpräsident Édouard Philippe vorgenommen, die staatliche Eisenbahngesellschaft (SNCF) zu sanieren, das heißt, teilweise zu privatisieren und das 1920 erkämpfte beamtenähnliche Eisenbahnerstatut zu liberalisieren, sprich: abzuschaffen. Das bisherige Statut garantiert den etwa 140.000 SNCF-Beamten Sonderregelungen für das Pensionsalter und eine faktische Unkündbarkeit. Die Reform soll die SNCF auf die Öffnung der Bahninfrastruktur für private Anbieter vorbereiten. Aber die beiden Hauptprobleme der Staatsbahn – den durch Spardrang herbeigeführten Investitionsstau und den Schuldenberg von 55 Milliarden Euro mit einer jährlichen Zinslast von rund einer Milliarde – werden dadurch kaum verschwinden.Einem ähnlichen Reformprogramm hatte sich schon die liberal-konservative Regierung des Premiers Alain Juppé im November 1995 verschrieben. Sie entfesselte damit den längsten und umfassendsten Streik seit 1968. Nach fast vier Wochen, in denen das Land blockiert war, musste Juppé seine chancenlosen Pläne zurückziehen. Diese Niederlage wirkte nach, was sich nicht zuletzt mit der Parlamenswahl 1997 bemerkbar machte, bei der Juppé sein Amt an den Sozialisten Lionel Jospin verlor.Die Regierung von Edouard Philippe operiert geschickter: Das liberalisierte Eisenbahnerstatut soll nur für Neueingestellte gelten, die brisante Frage des Pensionsalters soll vorerst ganz ausgeklammert und erst zusammen mit einer umfassenden Rentenreform angegangen werden. Mit der partiellen Garantie für den sozialen Besitzstand von 140.000 Eisenbahnern wird die Vorlage – im Unterschied zur frontalen Kampfansage von 1995 – entschärft. Aber für eine gewerkschaftliche Einheitsfront von CGT, CFDT, UNSA und Sud-Rail gegen die Reformpläne genügte die Absicht der Regierung, auch diese Reform mit Verordnungen – am Parlament vorbei – durchzusetzen. Premier Philippe kündigte an, „noch vor dem Sommer“ handeln zu wollen, beruhigte aber die Gewerkschafter mit dem Hinweis, er folge nicht der „Konflikt- oder Kriegslogik“. Das sollte wohl Erinnerungen an den harten Streik von 1995 ausblenden helfen. Der Widerstand war seinerzeit so erfolgreich, weil linksliberale Medien und die Bevölkerung mit den Streikenden sympathisierten. Alain Juppé begründete die Reform damals mit dem Hinweis, das Pensionsalter für Lokomotivführer (52 Jahre) und für die übrigen Bahnbeamten (55 Jahre) gehöre als „unzeitgemäßes Privileg“ eingestuft. Faktisch gehen Lokomotivführer heute im Durchschnitt mit 53,5 und der Rest der Eisenbahner mit 57,5 Jahren in Pension.Bahnerfreund BourdieuJuppé goss 1995 Öl ins Feuer, als er in einer Rede gegen „anachronistische Relikte“, „Korporatismus“, „Egoismus“ und „Besitzstände von Privilegierten“ wetterte. Gegen die Semantik aus dem Arsenal des neoliberalen Konformismus verwahrten sich nicht nur die Streikenden und die Gewerkschaften, sondern auch linksliberale und linke Zeitungen, ganz besonders der Soziologe Pierre Bourdieu. Er verließ Schreibtisch und Lehrstuhl am Collège de France, sprach vor den streikenden Eisenbahnern in der Pariser Gare de Lyon und demonstrierte mit ihnen auf den Straßen der Hauptstadt. Bourdieu geißelte die wohlfeile Rede von den „Privilegien“ der Eisenbahner mit dem Hinweis, dass 60 Prozent der Eisenbahner mit bescheidenen Löhnen auskommen mussten, mit im Schnitt 2.100 Francs brutto, 1995 etwa 750 DM. Heute liegen die Einkommen der Eisenbahner immerhin bei einem Mittelwert von 3.000 Euro brutto. Die Sonderregelungen des Eisenbahnerstatuts für die Pensionen sah Bourdieu als legitime Kompensation für permanente Nacht- und Sonntagsarbeit sowie die verlangte hohe örtliche Mobilität des Eisenbahnpersonals. Vorrangig aber wandte er sich gegen den Versuch der Regierung Juppé, einen defizitären Staatshaushalt auf dem Rücken der Eisenbahner und auf Kosten des Sozialbudgets zu sanieren.Als sich Bourdieu mit den Streikenden solidarisierte und für eine „Wiedereroberung der Demokratie gegen die Technokratie“ mobilisierte, führte das zu einer Spaltung der linken Intellektuellen und der Journalisten in das Lager des neoliberalen Einheitsdenkens („pensée unique“) und jenes der Gesellschafts- und Kapitalismuskritiker, die das Zusammenspiel von „Staatsadel“ (Absolventen der Elitehochschule École Nationale d’Administration/ENA), Banken und Wirtschaftsverbänden monierten. Die Elite, so Bourdieu, verletze das Versprechen republikanischer Gleichheit. Der Soziologe Alain Touraine und der Publizist Alain Minc wurden zu Galionsfiguren des ersten, Bourdieu zum bekanntesten Exponenten des zweiten Lagers.Diese Spaltung der Intellektuellen und ihrer Medien erwies sich als dauerhaft. Bourdieu beschrieb seine Antagonisten als „vielschreibende und vielgestaltige Intellektuelle, die ihre jährliche Lieferung für den Buchmarkt zwischen zwei Aufsichtsratsterminen, drei Presse-Cocktails und einigen TV-Auftritten verfassen“. Er definierte sie als „Doxosophen“, die im Unterschied zu den auf Aufklärung und Kritik eingeschworenen Philosophen bloße „Meinungstechniker“ geworden seien und sich in den Medien als Experten aufspielten. Die Kontroversen rund um die Streiks des Jahres 1995 gehören zur Vorgeschichte der 1998 gegründeten Association pour la taxation des transactions financières et pour l’aide au citoyen, kurz Attac. Pierre Bourdieu hatte daran mehr Anteil, als nach außen sichtbar wurde.Vier Gewerkschaftsführungen haben sich am 15. März für eine gemeinsame Strategie entschieden: bis Ende Juni soll jeweils an zwei von fünf Tagen gestreikt werden, um die Streikkasse zu schonen, den politischen Druck auf die Regierung zeitlich zu dehnen und die Streikenden, die so gut wie kein Streikgeld erhalten, finanziell nicht zu überfordern. Ob die innovative Streikstrategie bei anderen Staatsbediensteten so viel Resonanz findet und eine Solidarisierungswelle auslöst wie 1995, ist unklar. Damals hegten zwei Drittel der Bevölkerung Sympathie für die Streikenden, und 55 Prozent befürchteten, „abgehängt, arbeitslos oder obdachlos“ zu werden. Die Sympathie der Mittel- und die Ängste der Unterklassen amalgamierten sich zu einem Protestpotential, vor dem die Regierung kapitulierte. Die Gewerkschaften waren seinerzeit erfolgreich, weil es ihnen mit der Unterstützung Pierre Bourdieus gelang, einen Streit über angebliche „Privilegien“ der Eisenbahner und obendrein eine Debatte über die Notwendigkeit eines öffentlichen Eisenbahnsystems anzustoßen. Der Journalist Stéphane Rozés prägte dafür den Ausdruck „Stellvertreter-Streik“ für den – soziologisch gesehen – breit abgestützten Protest.
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