Tunis ist wohl die erste und einzige Hauptstadt eines muslimischen Landes, die eine Bürgermeisterin hat! Gewählt wurde am 3. Juli Souad Abderrahim. Sie ist 53 Jahre alt, hat zwei Kinder und steht neben ihrem Ehemann an der Spitze eines Pharmazieunternehmens. Für das Land selber ist die Sensation nicht ganz so groß, weil weitgehende Gleichberechtigung der Frauen hier schon in den fünfziger Jahren unter dem ersten Präsidenten Habib Bourguiba gesetzlich verankert und seitdem – auch unter Diktator Ben Ali – immer mehr ausgebaut wurde. Souad Abderrahims Wahl wurde auch deshalb möglich, weil die Amtsträgerschaft zum ersten Mal nicht von den Notabeln der Stadt ausgehandelt wurde, sondern Ergebnis einer Abstimmung der Stadtverordneten war. Diese Änderung verweist auf Fortschritte in Tunesien, das mit zunehmender Dezentralisierung die Demokratisierung voranbringen möchte.
Ihre vorrangigen Anliegen, so verkündete die Bürgermeisterin nach ihrer Wahl, werden der Ausbau des Nahverkehrs, die Renovierung und Erweiterung von Schulen sowie die Instandsetzung vernachlässigter öffentlicher Anlagen sein. Sie versprach auch, das gravierende Müllproblem zu lösen, an dem Tunis seit der Revolution von 2011 leidet.
Souad Abderrahim war für Ennahda angetreten, die islamistische Partei, die sich gegenwärtig zur Verfassung und zur demokratischen Entwicklung des Landes bekennt. Obwohl sie sich als Unabhängige bezeichnet, ist sie Mitglied des Zentralkomitees von Ennahda und blickt auf eine lange Geschichte als deren Aktivistin zurück. Mitte der achtziger Jahre war sie Mitglied einer islamistischen Studentengruppe, die gegen linke Studentengruppen kämpfte, wobei sie sich 15 Tage Gefängnishaft einhandelte und für einige Jahre von der Universität verwiesen wurde. 1992 konnte sie ihr Diplom in Pharmazie ablegen. Politisch tätig wurde sie erst wieder im Revolutionsjahr 2011 als Abgeordnete von Ennahda im Parlament. Dort leitete sie eine Kommission für Freiheit und Menschenrechte. In dieser Funktion gab sie in einem Interview mit dem viel gehörten Radiosender Monte Carlo eine Erklärung ab, die islamistische Einstellungen verriet: Sie behauptete, dass uneheliche Mütter – für die die islamische Tradition keinerlei Rechtsstatus kennt – eine Schande für Tunesien darstellten und dass sie auch künftig nicht mit gesellschaftlicher Unterstützung rechnen dürften. Diese Äußerungen brachten ihr bei den Laizisten den Vergleich mit Sarah Palin ein, der moralinsauren Anführerin der US-amerikanischen Tea Party.
Mit 26 Stimmen der Stadtverordneten lag sie nun vier Stimmen vor ihrem Konkurrenten Kamel Idir von der Regierungspartei Nidaa Tounes. Dass sich diese trotz ihres Bekenntnisses zum Laizismus im erbitterten Kampf um die Gehirne der Tunesier auch mal religiös konservativ gebärden kann, machte einer ihrer Sprecher, Fouad Bensalama, in einer Fernsehsendung deutlich, als er den Kandidaten seiner Partei unterstützen wollte. Eine Frau könne deshalb nicht Bürgermeisterin von Tunis werden, weil ihr die islamische Tradition die Teilnahme an einem wichtigen Ritual verbiete, nämlich am 27. Tag des Ramadan an der Seite des Präsidenten der Republik in der Großen Moschee zu beten. Souad Abderrahim hat darauf geantwortet, dass sie das sehr wohl tun werde. Und das wäre dann eine noch größere Sensation für die islamische Welt, denn die Geschlechtertrennung in sakralen Räumen gehört zu den Dingen, die am wenigsten in Frage gestellt werden dürfen. Aus dem Parteibüro von Nidaa Tounes kam allerdings prompt die Replik, dass Fouad Bensalama nur eine persönliche Ansicht und nicht die offizielle Position der Partei wiedergegeben habe.
Man darf gespannt sein, ob und wie das gemeinsame Beten der Bürgermeisterin mit den Spitzen des Staates und der Stadt am 27. Tag des nächsten Ramadan inszeniert wird. Denn trotz ihres forschen Auftretens repräsentiert Souad Abderrahim die Zwiespältigkeit der tunesischen Islamisten, denen die Laizisten durchaus Wendungen à la Recep Tayyip Erdoğan zutrauen. Zwar trägt sie kein Kopftuch – obwohl das Recht, ein solches auch in öffentlichen Institutionen zu tragen, eine Errungenschaft der Revolution von 2011 ist. Aber wird sie die Bewegung der laizistischen Zivilgesellschaft unterstützen, die in den vergangenen Monaten immer wieder für die endgültige Gleichstellung der Frauen im Erbrecht demonstriert hat? Damit wäre der letzte rechtliche Zopf des Patriarchats in Tunesien gekappt. Heute ist es erforderlich, dass ein Erblasser eine juristische Prozedur eröffnet, wenn er seinen weiblichen Hinterbliebenen dieselben Werte zukommen lassen will wie den männlichen, die bislang noch das Recht auf das Doppelte haben. Diese in allen sunnitischen Ländern geltende Regel wird auch deshalb anachronistisch, weil die heutigen Alten immer öfter von berufstätigen Töchtern unterstützt werden als von den Söhnen.
Wenn dieses von dem Parteienbündnis um Nidaa Tounes unterstützte gesellschaftliche Vorhaben gelingen soll, muss die Mobilisierung der Laizisten jedoch wieder stärker werden. Weil die Revolution von 2011 die wirtschaftliche Lage der meisten Tunesier nicht verbessert, sondern eher verschlechtert hat, lahmt die Unterstützung des demokratischen Prozesses durch die Mehrheiten. Souad Abderrahim verdankt ihre Wahl auch dem Umstand, dass nur 33,7 Prozent der Wähler an den Kommunalwahlen vom 6. Mai teilnahmen und in der Hauptstadt sogar nur 27 Prozent. Ennahda gewann hier zwar nur 21 von 60 Sitzen, wurde aber stärkste Partei und konnte bei der Bürgermeisterwahl offenbar noch weitere Unterstützer gewinnen.
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