Freundschaft statt Visa

KOmmentar Chirac in Algier

Dass Frankreichs Präsident in Algerien von fast einer Million Menschen begrüßt wurde, mag die Anhänger des stereotypen Feindbildes "Islam" überrascht haben. Das Thema Algerien verschwamm für sie bisher im Zerrbild eines geheimnisvollen Terrorismus, bei dem Täter und Opfer gleichermaßen unter dem abwertenden Stereotyp "Muslim" subsumiert wurden. Und algerische Muslime galten in dieser Sicht als Frankreich-feindlich. Dass in Algerien 1988 - ein Jahr vor dem Kollaps des Ostblocks - aus eigener Kraft eine Republik entstand und auch vom brutalsten Terrorismus nicht in die Knie gezwungen wurde, interessierte Europa bislang wenig. Man nahm einfach nicht zur Kenntnis, dass es in diesem Land eine 1988 freigekämpfte Zivilgesellschaft gibt - die Leser einer freien Presse, der einzigen in der islamischen Welt. Eine Presse, die schon Generäle zum Abschied zwang.

Wenn Chirac diese algerische Republik auf die Straße brachte, war das natürlich auch seiner Irak-Position zuzuschreiben. Die Demonstranten antworteten damit zugleich auf die Friedenskundgebungen vom 15. Februar. Seit langem nicht ist den Muslimen von einer Mehrheit der Europäer so klar gesagt worden, dass ihr Leben genau so viel wert ist wie das der anderen und nur friedlicher Interessenausgleich eine Zukunft verspricht.

Für Algerien und Frankreich bietet sich jetzt die Chance, die durch den Unabhängigkeitskrieg mit einer Million Toten entstandene Kluft zu schließen. Chirac hat die Gedenkminute vor Makam el Chahid - dem Denkmal für die Helden der Revolution - so weit über das Protokoll hinaus verlängert, dass manche schon meinten, er werde vielleicht - wie seinerzeit Willy Brand in Warschau - auf die Knie fallen. So weit kam es nicht. Aber dem algerischen Parlament schlug Chirac einen Freundschaftsvertrag des Geistes vor, wie er für die von De Gaulle und Adenauer unterzeichneten Elysée-Verträge galt. Ob allerdings Chiracs Versprechen, die eingeschränkte Visa-Vergabe zu verbessern, den Erwartungen entspricht, bleibt fraglich - zu viele junge Algerier möchten Frankreich nicht nur besuchen, sondern dort bleiben.

Präsident Bouteflika hat die Beziehungen mit Paris seit seinem Amtsantritt 1999 systematisch verbessert. Wo es angebracht ist, bedient er sich zwanglos der französischen Sprache. Damit ärgert er nicht nur die Islamisten, er befreit auch die eigene Administration vom islamistischen Kulturdiktat. Er kann sich das erlauben, weil er am Unabhängigkeitskampf teilgenommen hat.

Allerdings passt der Autonomiebewegung der Kabylen das Einvernehmen zwischen Algier und Paris nicht ins Konzept. Sie pflegt die Illusion, dass Frankreich irgendwann ihre Abspaltung unterstützen könnte. Wenn vor dem Chirac-Besuch 160 Aktivisten verhaftet wurden, war das ein Indiz dafür, dass dieser Konflikt den mit den Islamisten abgelöst hat. Algerien kann diese, im Kern ebenfalls soziale Frage nur lösen, wenn eine neue Weltwirtschaftsordnung in greifbare Nähe rückt.

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