Geborene Rebellin

Interview Anne Beaumanoir kämpfte gegen den Kolonialismus und den Faschismus. Die Auflehnung gegen Ungerechtigkeit war ihr in die Wiege gelegt
Ausgabe 30/2019

Ein kleiner, zerbrechlich wirkender Mensch war Anne Beaumanoir immer. Jetzt, mit 96, ist sie noch kleiner, wirkt fragiler denn je. Aber der Schein trog schon immer. Sie hat sich mehrfach mit höchstem Risiko politisch engagiert, drei Kinder bekommen, internationale wissenschaftliche Anerkennung als Neurophysiologin erworben. Beaumanoir lebt heute in ihrem bretonischen Heimatort Dinan und in Dieulefit, einer kleinen Gemeinde im Südosten Frankreichs, die im Zweiten Weltkrieg ein Zentrum der Flüchtlingshilfe war. Gerade ist Teil eins ihrer Autobiografie Wir wollten das Leben ändern (Edition Contra-Bass) auf Deutsch erschienen.

der Freitag: Frau Beaumanoir, wie oder besser warum sind Sie zur Rebellin geworden?

Anne Beaumanoir: Ich glaube, es fing damit an, dass ich unehelich geboren bin, gegen die herrschenden Sitten. Meine Eltern konnten erst heiraten, als ich eins war, weil mein Vater bei meiner Geburt nicht volljährig war. Sie stammten aus sehr unterschiedlichen sozialen Klassen. Mein Vater hat auf sein Erbe verzichtet, um seine Marthe ehelichen zu können. Mein Elternhaus war nonkonformistisch, atheistisch und so tolerant, dass Vater mit dem Priester befreundet war. Auch meine Großmutter, die mit uns lebte, hatte einen untrüglichen Sinn für Gerechtigkeit.

Aber nicht jeder mit so einem Elternhaus hat zur Résistance gefunden. Wie war das bei Ihnen?

Es gab nur eine Jugendorganisation, in der Mädchen und Jungen zusammenkamen – die kommunistische Jugendherbergsbewegung. Ihr trat ich 1939 bei. Das waren damals keine preiswerten Hotels, sondern Orte der Auseinandersetzung, der utopischen Parolen, die mich begeisterten. So kam ich, als der Krieg ausbrach – da war ich noch Gymnasiastin –, eben zur kommunistischen Résistance. Einer meiner Kontaktleute hatte mir den im Spanienkrieg spielenden Roman Die Hoffnung von André Malraux gegeben. Ich konnte es nicht erwarten, dass unsere Straßen zu denen Kanton-Chinas werden würden, die Malraux in Die Eroberer beschrieb. Ich bin übrigens der Überzeugung, dass man mit 16, 17 für die Revolution brennen muss. Man weiß ja noch nicht, dass erfolgreiche Revolutionen Bürokratie und Terror hervorbringen. Wer in diesem Alter nicht in irgendeiner Form revoltiert, riskiert, später eine affektive Behinderung zu entwickeln.

Kollidierte die Arbeit im Widerstand nicht mit der Ausbildung?

Für das Medizinstudium in Rennes, zu dem man mir riet, hatte ich kaum Motivation. Eigentlich wollte ich Trapezkünstlerin oder Akrobatin werden. Bei den ersten, nicht ungefährlichen Kurierdiensten machte ich die Erfahrung, dass ich während einer solchen Aktion fast angstfrei war. Die Angst war vorher oder auch hinterher zu spüren. Weil Mitglieder meiner Gruppe verhaftet worden waren, wurde ich zu einem Widerstandsnetz nach Paris geschickt. Dort war ich Vollzeitkämpferin. Ich musste vor allem Botengänge machen, lange Fußmärsche. Wir nutzten auch die Metro, aber die war viel gefährlicher. Es herrschten strenge konspirative Regeln. Man kannte jeweils nur zwei Mitkämpfer. Ständig wurden Decknamen und Adressen gewechselt. Persönliche Beziehungen und Aktionen auf eigene Faust waren verboten.

Und doch haben Sie dagegen verstoßen – und zwar mehrfach.

Ja, obwohl ich geschworen hatte, die Partei niemals in Gefahr zu bringen, ging ich mit meinem Kontaktmann „Roland“, einem aus Deutschland emigrierten „Halbjuden“, ein Liebesverhältnis ein. Wir kannten uns allerdings nur mit unseren Decknamen und erzählten uns auch nichts über unsere Aufgaben und Aktionen. Ich habe nie erfahren, wie er wirklich hieß.

Eine Rebellin in der Rebellion also. Sie nahmen auch an einer Rettungsaktion für Juden teil.

Das gehörte nicht zum Aufgabengebiet meiner Gruppe. Von Freunden meiner Eltern, bei denen ich mir Proviantpäckchen abholte, erfuhr ich, dass im 13. Arrondissement eine Razzia nach verborgenen Juden stattfinden sollte. Sie fragten mich, ob ich helfen könnte. Ich konnte nicht Nein sagen. Ich war mir sicher, dass meine Eltern die fünf Personen aufnehmen würden. Aber wie ich sie in Paris unterbringen und in die Bretagne bringen sollte, war mir unklar, als ich den Dachboden betrat, wo sich ein Vater mit der halbwüchsigen Tochter, dem halbwüchsigen Sohn und eine junge Mutter mit ihrem Baby versteckten. Ich sagte ihnen: „Ich bin die Résistance und will versuchen, euch zu retten, eine Razzia steht bevor.“ Es entspann sich eine Diskussion auf Jiddisch. Ich hatte den Eindruck, dass man meinen Worte nicht traute. Nach einer Weile nahmen der Junge und das Mädchen ihre Mäntel und sagten, dass sie mitkämen. Die Mutter wollte das Baby nicht hergeben und bleiben. Der ältere Mann ebenfalls. Ich beschloss, Simone und Daniel in mein Quartier in der Banlieue zu bringen. Abstand haltend, liefen wir zur Metro. Erst dort sah ich, dass Simone den gelben Stern trug – und riss ihn ab. Die Ausgangssperre begann. Wir begegneten einem deutschen Soldaten auf dem Fahrrad, aber uns passierte nichts. Roland, der sich regelwidrig bei mir aufhielt, gelang es am nächsten Tag, das Baby doch abzuholen. Es hat eine Nacht bei uns verbracht, dann konnte es einem jüdischen Hilfswerk für Kinder übergeben werden, das es in die USA schmuggelte. Aber die junge Frau und der Vater sind deportiert und ermordet worden.

Und wie erging es den beiden Jugendlichen?

Simone und Daniel haben mit Hilfe meiner Eltern überlebt. Wir haben uns als Geschwister betrachtet. Ohne es mir zu sagen, haben sie sich später in Israel an Yad Vashem gewandt, worauf man meinen Eltern und mir den Titel „Gerechte unter den Völkern“ verliehen hat. Auf der Medaille steht: „Wer einen Menschen rettet, rettet die Menschheit.“ Das stimmt, bei der Zeremonie waren etliche Kinder und Enkel von Simone und Daniel. Die Aktion blieb unseren Vorgesetzten in der Résistance aber nicht verborgen, auch nicht die Beziehung zwischen Roland und mir. Zur Strafe wurden wir getrennt versetzt – ich nach Lyon, er nach Clermont-Ferrand. Er wurde dann in Riom verhaftet und in einen Deportationszug verfrachtet. Mit einem Kameraden konnte er fliehen. In der Auvergne wurden sie von einer französischen Miliz erschossen. Ich konnte es lange nicht fassen und habe nach der Befreiung gehofft, ihn wiederzufinden, als die Züge der Rückkehrer aus dem Osten eintrafen.

Ein Leben im Widerstand: Résistance und Nationale Befreiungsfront

Zuerst in der französischen Résistance, später dann im algerischen Befreiungskampf: Das Leben Anne Beaumanoirs war und ist geprägt vom Widerstand.

Die Résistance, die sich nach der deutschen Besatzung im Juni 1940 formierte, war nicht einheitlich organisiert. Sie bestand aus französischen, belgischen und luxemburgischen Kämpferinnen und Kämpfern, die oft kommunistisch oder sozialistisch orientiert waren. Während sie im Norden Frankreichs gegen die Nazis kämpften, wehrten sich Gruppen im Süden gegen das repressive Vichy-Regime, das mit den Faschisten kollaborierte. Nach Schätzungen gab es 20.000 Widerstandskämpferinnen und -kämpfer. Sie konnten die Nazis nicht aufhalten, aber empfindlich stören. Die SS rächte sich nicht selten grausam.

Wenige Jahre nach 1945 erhielt die französische Armee Sondervollmachten im Kampf gegen die aufständische Kolonie Algerien. Folter sollte von nun an erlaubt sein. Der Rechts- extreme und Front-National-Gründer Jean Marie Le Pen steht im Verdacht, an Folterungen beteiligt gewesen zu sein.

Anne Beaumanoir schloss sich der algerischen Nationalen Befreiungsfront FLN an und arbeitete zeitweise unter Frantz Fanon, dessen Die Verdammten dieser Erde ein Standardwerk des Antikolonialismus wurde. Das Buch mit einem Vorwort von Jean-Paul Sartre erschien 1961, im Todesjahr des aus Martinique stammenden Revolutionärs und Psychiaters. Ein Jahr später verlor Frankreich den Krieg.

Die FNL hatte gesiegt. Seitdem regiert sie, autoritär-sozialistisch, mit islamischem Einschlag, bis zuletzt unter Präsident Abd al-Aziz Bouteflika. Nach Protesten trat der im April dieses Jahres zurück. Die Wahl eines Nachfolgers wurde mehrfach verschoben und soll 2020 stattfinden.

Was waren die Aufgaben in Lyon?

Ich wurde den Jungen Laizistischen Kombattanten zugeteilt, die offiziell keine Verbindung zu den Kommunisten hatten. Die aber gaben mir den Auftrag, mich als U-Boot in Leitungsfunktionen vorzuarbeiten. Das war nicht mehr Résistance, sondern Politik – und nicht von der edelsten Sorte. Manchmal zweifelte ich, von welcher Seite ich instrumentalisiert wurde. Der Untergrundkämpfer verschwindet in einem vollständigen Inkognito. Er entwickelt eine Schizophrenie. Die verheimlichte Seite der Existenz gilt mehr als die sozialen, beruflichen und familiären Aktivitäten, die aber doch irgendwie fortbestehen. Das konnte ich nie mehr abstreifen.

Aber Sie wurden erfolgreiche Medizinerin, gründeten eine Familie. Wie kam es zu Ihrem Engagement für die algerische Befreiungsfront?

1955 bin ich aus der KP ausgetreten, weil sie sich nicht richtig mit den stalinistischen Verbrechen auseinandersetzte und ich zu oft erlebt hatte, dass sie Menschen belügen, ruinieren und zerquetschen konnte. Sie hatte auch eine verfehlte Position in der Frage der Entkolonisierung. Weil Frankreich das Versprechen an die Algerier, ihnen für ihren Einsatz zur Befreiung Frankreichs bürgerliche Gleichberechtigung zu gewähren, nicht hielt, brach 1954 der Unabhängigkeitskrieg aus. Im März 1956 setzte die sozialistische Regierung Sondervollmachten für die Armee durch, die Folter erlaubten. Die Kommunisten, die sich eine neue Volksfront erhofften und die Algerier auf eine baldige gemeinsame sozialistische Zukunft vertrösteten, stimmten auch dafür. Es war für mich schrecklich, dass es die französische Linke war, die Folter genehmigte. Ich hatte schon zwei Jahre zuvor Kontakt zu einer Priestergruppe, die den Algeriern bei Geldsammlungen für die FLN half. Sie schickten auch illegale Algerier in das Krankenhaus, wo ich sie behandelte. Über Freunde kam ich in Verbindung zum Widerstandsnetz von Francis Jeanson, dem Geschäftsführer von Jean-Paul Sartres Temps Modernes, und wurde persönliche Assistentin des Leiters der FLN in Südfrankreich.

Obwohl Sie zwei Kinder hatten!

Das geschah mit Einverständnis und Hilfe meines Mannes. Er hat das alles übernommen. Ich habe sogar gratis für die FLN gearbeitet, weil wir genug Geld hatten.

Ihre illegale Tätigkeit wurde entdeckt, Sie wurden verhaftet

Gefoltert wurde ich nicht. Aber die ersten drei Tage und Nächte, also während der Verhöre, durfte ich nicht schlafen. Der Vernehmer fragte, warum ich in der Résistance für und jetzt gegen mein Vaterland kämpfte. Ich sagte, dass mein Engagement nichts mit dem Vaterland zu tun hätte, sich aber auf die gleiche Überzeugung gründete: Ich könne nicht ertragen, wenn Menschen Menschen unterdrücken oder ein Land ein anderes. Ein Militärgericht verurteilte mich zu zehn Jahren Haft. Nach zwei Wochen merkte ich, dass ich schwanger war. Das Kind durfte ich unter Hausarrest zur Welt bringen. Ich habe die Gelegenheit genutzt, um nach Tunis zu fliehen, wo die Exilregierung der FLN saß. Dort habe ich den von Frantz Fanon aufgebauten Neuropsychologischen Dienst für die Betreuung von Flüchtlingen und verwundeten Kämpfern übernommen.

Konnten Sie wieder Kontakte zu Ihrer Familie herstellen?

Mein Mann hat versucht, mit den Kindern nach Tunis nachzureisen. Aber sie wurden an der Grenze geschnappt, man nahm ihnen die Pässe weg. Die Kinder haben dann, in ihren Ferien, illegal die Grenze überschritten und mich besucht. Ein Sohn ist bei mir geblieben. Der hat mit dem Sohn von Fanon gespielt. Die sind noch befreundet.

Durften Sie zurück, als Algerien 1962 unabhängig wurde?

Nein, ich konnte 30 Jahre lang nicht zurück. Ich habe im Team des Gesundheitsministers Mohamed Seghir Nekkache beim Aufbau des neuen Gesundheitssystems geholfen. Ich habe sehr hart gearbeitet, 16 Stunden am Tag. Fast alle Mediziner waren nach Frankreich gegangen, jetzt kam ein Arzt oder auch nur ein Krankenpfleger auf 300.000 Menschen. Ich habe medizinische Kräfte ausgebildet und versucht, ein System der Geburtenregelung einzuführen. Nekkache wurde 1965, beim Putsch Houari Boumedienes gegen Ahmed Ben Bella, verhaftet. Ich konnte in die Schweiz fliehen. Dort hatte ich Glück. In Genf suchte man eine qualifizierte Neurophysiologin. Ich passte auf die Stelle und bekam daher leicht politisches Asyl.

Und wie gestalteten sich dann Ihre Beziehungen zu Algerien?

Ich konnte nicht mehr einreisen. Nur in den 80ern, als Chadli Benjedid regierte, durfte ich zwei Wochen in Algier Freunde besuchen. Als vor drei Jahren ein Film über mich gedreht wurde und der Regisseur mit mir auch in Algerien filmen wollte, bekam ich kein Visum. Bouteflika wollte nicht, dass ich komme. Ich habe ihn ja in meiner Zeit bei der FLN gut gekannt und weiß zu viel über ihn und wie er damals schon geklaut hat. Die jetzige Demokratiebewegung hat mich natürlich überrascht. Außer, dass man keine Diktatur mehr will, sieht man noch keine Richtung. Das ist aber typisch für die Jugend von heute. Die Jugendlichen in Algerien sind jetzt wie die jungen Leute in der ganzen Welt. Ich bin optimistisch. Das schließe ich auch aus den Berichten, die mir meine Freundin Salima Bouaziz jede Woche über die Demonstrationen schickt. Sie war für die Frauen der FLN in Frankreich verantwortlich, später meine Schülerin. Sie ist auch Neurophysiologin.

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