Im algerischen Sidi Bel Abbes spielen blinde Schauspieler die „Antigone“ auf arabisch
Reportage Viele Kulturinstitute in Algerien sind heute weit mehr für Menschen mit Behinderung sensibilisiert als früher. Den Ausschlag gab ein Video von der Heimkehr behinderter Olympioniken im Vorjahr aus Tokio
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Als ich zwischen 1977 und 1978 in Sidi Bel Abbès wohnte, war das ein zwar lebendiger, aber ziemlich verkommener Ort. Vom ehemals gerühmten Charme des westalgerischen Kolonialstädtchens war nichts mehr zu spüren. Vor der Unabhängigkeit von 1962 war der Ort auch bekannt als Garnison der französischen Fremdenlegion, die für schmutzige Militäroperationen in Betracht kam. In Sidi Bel Abbès hatten sich die Spuren eines Großonkels verloren, der seine kleine Chemiefabrik durch die Inflation verlor und sich ab Mitte der 1920er Jahre in der Legion verdingte. Nun wurden die weitläufigen Kasernen von der algerischen Gendarmerie genutzt. Wie das ganze Land hatte sich auch diese Stadt damals noch nicht in der Unabhängigkeit eingerichtet. Arbeit
eitsplätze bot zwar eine von der Bundesrepublik Deutschland errichtete überdimensionierte Fabrik für Landmaschinen, aber die Wohnverhältnisse der Beschäftigten standen in krassem Gegensatz zur hypermodernen Ausstattung des Werkes.Viele Arbeiterfamilien hausten im „Village nègre“, einer Art „Eingeborenendorf“, das an die von Albert Camus in seinem Roman Die Pest beschriebenen Algerier-Viertel Orans erinnerte. Was man baute, wurde unter den Arbeitern verlost. Daran änderte sich bis Ende der 1980er Jahre wenig, sodass die Unzufriedenheit der seinerzeit gegründeten Islamischen Heilsfront (FIS) Zulauf verschaffte. Während des Bürgerkrieges (1991 – 2002) wurde die Umgebung von Sidi Bel Abbès zum Hotspot der Kämpfe zwischen der Armee und einer bewaffneten Guerilla.„Hirak“ als FermentAls ich 2012 und 2016 als Mitarbeiterin des Regisseurs Saddek El-Kebir wegen Theateraufführungen mit blinden Darstellern nach Sidi Bel Abbès zurückkehrte, war die Stadt enorm expandiert – mit neuen Quartieren, denen freilich noch gepflasterte Straßen fehlten. Vor Wochen nun, als es wieder eine solche Inszenierung geben sollte, erlebte ich die Stadt sauberer, hier und da gar mit Parklandschaften und Blumenrabatten versehen. Eine in kurzen Abständen verkehrende Straßenbahn glitt als Vorbote einer Verkehrswende an dem Haus vorbei, in dem ich 1977 gewohnt hatte. Der Wandel im öffentlichen Raum sei das Ergebnis einer Bürgerinitiative, an der er teilgenommen habe, erzählte Abbas Touil, Inspizient des Regionaltheaters. Es steht auf einem großen Platz, den Cafés mit Nationalflaggen und ein alter französischer Musikpavillon umgaben.Dass sich die Bürger um ihrer selbst willen engagiert hatten, war dem „Hirak“ zu verdanken, jenen Aufmärschen, die auch hier 2019 jeden Freitag Tausende von Familien auf die Straßen brachten, denen ein solidarisches Miteinander am Herzen lag. „Uns störte die Korruption, die sich unter dem Regime von Präsident Abdelaziz Bouteflika immer frecher breitmachte“, so Abbas Touil. „Dass es zu keinem Blutvergießen kam, hatten wir der Selbstorganisation des ‚Hirak‘ zu verdanken. Sobald es irgendwo brenzlig wurde, gab es kleine Komitees, die zwischen dem Protest und der Gendarmerie vermittelten. Nach den Umzügen säuberten junge ‚Hirakisten‘ die Straßen. Zwar war wegen Covid bald alles vorbei, aber die Oberen hatten verstanden: Sie konnten nicht mehr so schamlos klauen. Der ‚Hirak‘ wirkt als Ferment weiter.“Touil, der als Schauspieler anfing, bemüht sich bis heute um marginalisierte Gruppen. Selbst im Gefängnis der Stadt hat er schon mit Gefangenen Theater gespielt. „Keiner hatte da weniger als acht Jahre abzusitzen. Aber die Erfahrung, Anteilnahme zu spüren und sich in eine andere Welt hineinspielen zu können, half ihnen ungeheuer.“ Er freute sich, dass es an seinem Theater eine dritte Inszenierung El-Kebirs mit Blinden geben würde. „Als wir aber hörten, dass er am Théâtre National Algérien (TNA) arbeiten sollte, waren wir enttäuscht. 2012 und 2016 hatte alle sonstigen Bühnen im Land das Experiment mit Blinden abgelehnt. Nur unser verstorbener Direktor Hacene Assous hatte den Mut dazu. Und nun machten es plötzlich alle! Ich war froh, dass wir uns mit dem TNA wenigstens auf eine Co-Produktion einigen konnten. Schließlich hatten wir Erfahrungen und ein erprobtes Ensemble sehr engagierter Sehbehinderter.“Placeholder infobox-1Tatsächlich sind derzeit in Algerien viele Kulturinstitute weit mehr für Menschen mit Behinderung sensibilisiert als früher. Den Ausschlag gab nicht zuletzt ein Video von der Heimkehr behinderter Olympioniken im Vorjahr aus Tokio, die im Unterschied zur Mannschaft ohne Behinderung mehrere Medaillen mitbrachten. Doch nur die Equipe der Nichtbehinderten wurde festlich empfangen, für die Behinderten stand lediglich ein Bus mit hohem Einstieg bereit. Das Video zeigte, wie sich eine Sportlerin auf allen vieren zum Fahrzeug bewegte und die vom Fahrer angebotene Hilfe beim Einsteigen ausschlug – den schaffte sie selbst. Die Szenen waren beschämend. Die fehlende Empathie für Hilfsbedürftige habe das ganze Land aufgerüttelt, so Abbas Touil.Auf der Probebühne des Theaters von Sidi Bel Abbès versammelten sich nun also zehn sehbehinderte Darsteller, alle im Besitz der arabischen Übersetzung der Antigone von Sophokles, erarbeitet vom Ägypter Taha Hussein. Regisseur El-Kebir wollte das Stück auf den Bürgerkrieg vor 20 Jahren beziehen. Anders als in Südafrika, wo man versucht hat, dem Erbe der Apartheid durch die öffentliche Gegenüberstellung von Tätern und Opfern gerecht zu werden, ahmte Präsident Bouteflika die Methode des spanischen Diktators Francisco Franco nach: keine Gerichte, keine Aufarbeitung, stattdessen eine „von oben“ dekretierte Versöhnung.So konnte die Antigone von Sidi Bel Abbès die von König Kreon diktierte Entscheidung nicht akzeptieren, dem einen Bruder ein Staatsbegräbnis zu bereiten und dem anderen jede Bestattung zu verweigern. Ihre Botschaft: Die offene Wunde wird nur geheilt, wenn beiden Gleiches widerfährt. Und wenn über das, was geschehen ist, öffentlich nachgedacht wird. So erzählen die blinden Darsteller, wie es ihnen in den vergangenen Jahren erging. Am bemerkenswertesten fällt der lebhafte Bericht von Hakima aus, die 2012 eine resolute Schildkrötenprinzessin spielte und inzwischen ein Studium der Theologie hinter sich hat. Obwohl sie unbedingt die Antigone spielen wollte, konnte sie sich zunächst nicht entschließen, ihr Kopftuch abzulegen – eine Bedingung, um überhaupt mitzuspielen. Bensafi, der 2012 einen schlauen Affenkönig und 2016 einen grandiosen Ödipus gab, schlug Hakima vor, eine Perücke zu tragen. Darüber wollte sie nachdenken. Chomeissa, die 2016 die Antigone verkörperte, und Fatiha – sie spielte eine der beiden Schäferinnen, die Ödipus die Wahrheit über seine Herkunft enthüllen – waren zur Probe in einem höchst eleganten Outfit erschienen. Sie erklärten, mittlerweile Atheistinnen zu sein und das zeigen zu wollen. Mounia, 2016 ebenfalls beteiligt, sorgte sich, ob wegen der Proben nicht ihr Arbeitsplatz gefährdet sei. Abbas Touil gab Entwarnung: Niemand dürfe für sein Engagement diskriminiert werden. Wie schon 2012 und 2016 würde das Theater die blinden mit dem gleichen Salär wie die nicht behinderten Schauspieler bedenken. Mehrkosten würden vom Kulturministerium getragen.Abbas schlug vor, dass alle zusammen eine erste Chorpassage probten. Damit sie Sicherheit über den zur Verfügung stehenden Raum erlangten, lief er mit jedem Einzelnen mehrfach die Grenzen der Probebühne ab. Niemand sollte stürzen oder fürchten müssen, dass es passiert. Die Schutzbedürftigen derart zu schützen, war Teil der Mission eines selbstlosen Experiments. Schließlich sang man sich warm mit einer Passage aus dem Ödipus. Ungeachtet des Umstandes, dass die Darsteller noch nie die Sonne sehen konnten, schmetterten sie begeistert auf Arabisch: „Morgenröte, du schönstes Licht / vordem strahltest du so noch nie / Theben, der siebentorigen Stadt“. Munir, erblindeter Komponist und Professor am Konservatorium von Sidi Bel Abbès, hörte aufmerksam zu – er würde dazu noch eine Musik erfinden.
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