Der in Koblenz eröffnete Prozess gegen zwei Syrer, die in staatlichen Gefängnissen politische Gegner gefoltert haben sollen, darf eines nicht vergessen lassen: Die vom Westen unter Verweis auf derartige Verbrechen gegen das „Assad-Regime“ verhängten Sanktionen treffen weder Assad noch das Regime. Sie schaden vielmehr Millionen Menschen, die schuldlos das zehnte Jahr eines mörderischen Konflikts ertragen müssen.
Einstimmig haben die EU-Außenminister am 17. Februar weiter verschärfte Maßnahmen gegen Einzelpersonen und Gruppen beschlossen, die der syrischen Regierung angeblich helfen, die Strafen zu umgehen. Am 15. März, als sich der Beginn des Syrien-Konflikts gerade zum neunten Mal gejährt hatte, erklärten die Regierungen Großbritanniens, Frankreichs und Deutschlands, Damaskus allein trage die Schuld an der jetzigen Lage und den verheerenden humanitären Folgen. Obwohl in Syrien bereits die ersten Corona-Fälle aufgetreten waren, ließen die Verfasser wissen, dass ein auch medizinische Güter betreffendes Embargo weder gelockert noch aufgehoben werde. Dies komme für die von der Regierungsarmee kontrollierten Gebiete – 75 Prozent des bewohnbaren Territoriums – nicht infrage.
Unter UN-Kontrolle
Geht man nach Idriss Jazairy, dem ehemaligen Sonderberichterstatter des UN-Menschenrechtsrats, der die Folgen von Strafaktionen gegen Entwicklungsländer untersuchte, gehören die Syrien-Sanktionen zu den härtesten, die seit dem Zweiten Weltkrieg gegen einen Staat verhängt wurden. Immerhin können davon auch Drittländer betroffen sein, sollten sie Syrien nicht ebenso behandeln wie die EU und die USA.
Die Sanktionen treffen ein Land, dessen Bruttosozialprodukt seit 2011 um zwei Drittel abgenommen hat, in dem eine Inflation von 85 Prozent herrscht und die Arbeitslosigkeit bei fast 50 Prozent liegt. Blockiert ist nicht nur der Handel. Auch die Auslandsguthaben der syrischen Zentralbank, mit denen sich benötigte Waren beschaffen ließen, sind eingefroren. Um wenigstens hier für Entspannung zu sorgen, hatte Jazairy die Einrichtung eines Beschaffungsamts unter UN-Schirmherrschaft in Damaskus vorgeschlagen. Es sollte garantieren, dass ausschließlich Hilfsgüter für humanitäre Zwecke importiert werden. Eine solche Praxis wäre auch für andere notleidende oder von Bürgerkriegen heimgesuchte Staaten wie Jemen hilfreich – eine Entscheidung steht aus.
So gelangt in die von Damaskus kontrollierten Regionen lediglich UN-Nothilfe, die unmittelbares Überleben sichert, aber das Gesundheitssystem kaum tangiert. Dass dem syrischen Kernland jegliche EU-Hilfe mit Lebensmitteln und Medizingütern verweigert wird, bleibt der Öffentlichkeit weitgehend verborgen, da die milliardenschweren Transfers für die von den Rebellen gehaltenen Teile der Provinz Idlib und für Flüchtlingscamps in der Türkei als „Hilfe für Syrien“ deklariert sind. Das mag erklären, warum sich dagegen selbst bei der Linkspartei und im Milieu der Ostermärsche kaum Protest regt, wie gegen die Sanktionierung des Iran, Venezuelas und Kubas. Es wäre eine Kapitulation des linken Humanismus, läge der Grund für die Enthaltsamkeit nur darin, dass die AfD am 26. März die Aufhebung der Sanktionen gegen Syrien verlangt hat. Plausibler ist eine andere Deutung. Dass Schäden verdrängt werden, die Sanktionen gegen ein zerstörtes Land wie Syrien verursachen, geht bei Politikern wie Medien auf das gleiche ideologische Muster zurück wie die Verdrängung der 27 Millionen Toten der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg. An sie wird weit weniger erinnert als an Stalin und seine Diktatur. Die Losung „Assad muss weg“ ist bis in grüne und linke Milieus hinein fest verankert. Genauso wird hingenommen, dass jede Wiederaufbauhilfe des Westens für Syrien erst in Betracht kommt, wenn die Regierung Assad dessen politische Forderungen erfüllt.
Die Statements von EU-Regierungen zu den Syrien-Sanktionen erwecken den Eindruck, im Einklang mit den Positionen der UN zu stehen. Dem widersprach Sonderberichterstatter Idriss Jazairy. Nach 1945 hätten die Vereinten Nationen solche Strafmaßnahmen in der Hoffnung erwogen, sie seien weniger zerstörerisch als Kriege und könnten helfen, politische Krisen zu lösen. Dass dies möglich war, zeigte der Erfolg des Anti-Apartheid-Kampfes in Südafrika, den die Weltorganisation nicht zuletzt durch Sanktionen unterstützt hatte. Inzwischen jedoch mutieren verhängte Maßnahmen gegen Staaten oder Staatengruppen zu einer Form der Erpressung schwacher Staaten durch starke. Auf diese Weise lassen sich Konflikte nicht einhegen. In einigen Fällen hat das tödliche Folgen, die denen von Kriegshandlungen in nichts nachstehen. Da Syrien ein solches Beispiel ist, hat UN-Generalsekretär António Guterres am 23. März an die G20-Staaten appelliert, alle gegen das Land gerichteten Sanktionen aufzuheben. Nicht anders äußerte sich Papst Franziskus in seiner Osterbotschaft.
Gegen die Genfer Konvention
Eine entschiedene deutsche Reaktion auf die oben genannte Erklärung der drei führenden EU-Staaten zu Syrien kam von der weltweit für Religionsfreiheit engagierten Organisation Christian Solidarity International (CSI). Sie leistet Syrien seit langem humanitären Beistand, der über christliche Gemeinden dort allen Religionsgemeinschaften zugutekommt. Am 25. März appellierte CSI an Außenminister Maas, sich für die Aufhebung der Sanktionen, die „Millionen von Binnenflüchtlingen und verletzlichen Zivilisten schaden“, sowie für eine revidierte Syrien-Politik einzusetzen. Zwar dürften Menschenrechtsverletzungen des Regierungslagers nicht gebilligt werden, ebenso wenig aber auch Verbrechen der „Rebellen“. Dazu zählten nicht nur physische Gräuel, sondern vor allem Repressalien gegen religiöse Minoritäten in den von ihnen beherrschten Gebieten. Sanktionen stellten eine „Form der kollektiven Bestrafung dar, die im Widerspruch zum entsprechenden Verbot der Genfer Konvention steht“. Am 1. Juni 2019 hatten die EU-Regierungschefs entschieden, die einseitigen Strafmaßnahmen gegen Syrien um ein Jahr zu verlängern. Am 1. Juni 2020 könnten sie wegen Covid-19 gezwungen sein, sich eines Besseren zu besinnen.
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