Gesetz und Pflicht und Schicksal

AUSGEFEILT TRAGISCH Sándor Márais ebenfalls neu ausgegrabener Roman »Das Vermächtnis der Eszter«

Der Roman wurde 1938 in Ungarn geschrieben und verströmt, wenn man ihn heute hierzulande liest, eine eigenartige Zeitlosigkeit: Es geht um nichts Geringeres als um den Sinn eines Lebens. Die Ich-Erzählerin Eszter erfährt, dass ihre alte Jugendliebe, der Charmeur und Schaumschläger Lajos, zu Besuch kommen will. Zwanzig Jahre zuvor hatte Lajos sich in ihre Familie hineingedrängelt, er hatte ihren Bruder in Bann geschlagen und sie selbst umworben, bevor er dann ihre Schwester heiratete, die nach kurzer Ehe starb. Lajos machte Schulden bei der Familie, er fälschte Wechsel und ließ Wertgegenstände als Andenken mitgehen. Dass die unverheiratete Eszter nicht vor die Hunde ging, lag an der alten Angehörigen Nunu, die geschickt wirtschaftete, außerdem konnten beide Frauen in Eszters Elternhaus vergleichsweise ruhig und sicher leben. - Lajos ist wie früher, als er kommt. Er inszeniert sich in großen Posen, lügt wie gedruckt und gießt seinen Charme über die Anwesenden aus. Alle sind sich einig, jetzt wird er Ordnung schaffen und die alten Schulden begleichen. Alle ahnen, er wird etwas fordern - aber was kann er noch wollen? Es gibt kaum Geld, auch keine Wertgegenstände mehr, es gibt nur noch das Haus und den Garten, Eszters Lebensgrundlage. Und die will Lajos haben. Nunu und Eszter sollen in ein Heim, genauer, in ein Armenhaus ziehen, damit er das Grundstück verkaufen kann. Eszter unterschreibt den von Lajos aufgesetzten Vertrag, danach klingt die Geschichte leise aus.

Was war das? War das Erpressung? Sándor Márai hat keinen kriminalistischen, sondern einen ausgefeilt tragischen Roman geschrieben. Die Gesetze der Welt, auf die Eszter sich von Rechts wegen berufen könnte, spielen für Lajos keine Rolle. Sein »Gesetz« besagt, man müsse beenden, was man angefangen hat. Er und Eszter seien aneinander gebunden; das sei nicht Zufall, sondern Schicksal, und vor dem solle sie nicht länger fliehen. Sie kann nicht anders, als seinem »Befehl« zu gehorchen, weil er stärker ist als sie, weil es ihre »Pflicht« ist, weil sie schon damals mit diesem Lügner, Dieb und Wechselfälscher hätte fortziehen sollen. Er mag ein Feind sein, aber er gibt ihr einen Sinn, der mächtiger ist als die Logik ihrer Freunde, er gibt ihr die Deutung und Bedeutung ihres Lebens.

Wer Marais Roman Die Glut kennt, der 1942 erschien und im letzten Jahr bei seiner Wiederveröffentlichung zum literarischen Bestseller wurde, wird im Vermächtnis der Eszter vergleichbare Motive feststellen: Hier wie da geht es um das Begleichen alter Rechnungen, es geht um Freundschaft und Verrat, um Liebe und Rache. Was im Vermächtnis der Eszter so beklemmend wirkt, ist die Ruhe, mit der die Hauptfigur ihrem Untergang zustimmt. Die Geschichte, die hier erzählt wird, ist einfach - sie ist so »einfach«, wie es der Fatalismus ist: Wenn eine Kategorie wie das Schicksal herrscht, muss man sich ihm ergeben, Auflehnung ist sinnlos. So ist denn auch der Tonfall des Romans verhalten und unaufgeregt. Der Eindruck von Ausweglosigkeit wird noch verstärkt durch die zahlreichen Sentenzen, die in aller Unterschiedlichkeit eins gemeinsam haben: Sie sagen, »so ist es«, sie fragen nicht.

»Das Vermächtnis der Eszter« ist eine Geschichte, die sich wie von selbst erzählt, langsam und geduldig läuft sie dem unvermeidbaren Abgrund entgegen. Das zieht einen als Leser sehr mit - aber wenn man den Roman schließlich aus der Hand legt, fallen einem zunächst auch nur Sentenzen ein: »alte Liebe rostet nicht«, »dem Schicksal kann niemand entrinnen« und dergleichen. Sándor Márai veröffentlichte zwischen 1935 und 1939 sieben Bücher; und bei einer solchen Produktionsfülle liegt die Gefahr nahe, in eine Art Masche zu geraten. Der Autor selbst schrieb einmal, »die Exhibition und der Betrug der Literatur stoßen mich ab. Die einzigen ehrlichen Werke eines Schriftstellers sind die Tagebücher und die Briefe«. Autoren wie Kertesz oder Esterhazy loben in der Tat besonders Marais Tagebücher - aber es sind wohl vor allem die Romane, die Sándor Márai jetzt, mehr als zehn Jahre nach seinem Tod, zu einem breiten Lesepublikum verhelfen.

Sándor Márai: Das Vermächtnis der Eszter. Roman. Aus dem Ungarischen von Christina Viragh. Piper Verlag, München 2000, 176 S., 32,- DM

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