Russlands Krieg gegen die Ukraine ist auch ein Krieg gegen Georgien

Perspektive aus Georgien Seit über drei Monaten ist Krieg in der Ukraine. Es ist ein Krieg, der eher als Völkermord bezeichnet werden sollte als ein Kampf, indem beide Seiten gleichgestellt sind.

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Das erste, was man in Georgien am 24. Februar nach Russlands Angriff auf die Ukraine dachte, war: Fängt jetzt auch der Krieg gegen Georgien wieder an? Sind wir das nächste Land?

Auch in Georgien fanden mehrere Demonstrationen gegen den Krieg statt, und auch die georgische Bevölkerung steht der Ukraine bei, aber die angespannte Situation ist auf eine andere Art zu spüren. Die Menschen solidarisieren sich nicht nur aus Mitleid mit der ukrainischen Bevölkerung, sondern aus eigener Erfahrung. Der Krieg im August des Jahres 2008 hat Spuren hinterlassen.

Vor ein paar Tagen rief mich eine Verwandte an, wir telefonierten lange, in ihrer Stimme lag Angst. Sie ist selbst vor dreißig Jahren ein Opfer der russischen Aggression geworden und musste fliehen. Als eine Person mit Migrationshintergrund kennt sie dieses Gefühl, ein Gefühl, das sie nie vergessen hat. „Ich habe mit meinem Cousin telefoniert, er musste damals Georgien auch verlassen und ist nach Donezk gegangen, nach dem Krieg 2014 musste er nochmal fliehen und ist nach Charkiw gezogen, jetzt musste er zum dritten Mal sein Haus verlassen und ist jetzt in Kyjw. Ich habe Angst, dass ich nochmal mein Zuhause verlassen muss”, erzählte sie mir.

Warum Russland immer die Verantwortung trägt

In einer Pressekonferenz wandte sich Selenskyj an die westlichen Staaten wegen ihrer mangelnden Bereitschaft, eine Flugverbotszone über der Ukraine einzurichten. Dabei erwähnte er den Fehler, der vor Jahren gemacht wurde und wodurch dieser Krieg hätte verhindert werden können.
„Wenn wir nicht mehr sind, dann werden, Gott bewahre, Lettland, Litauen, Estland, Moldau und Georgien die nächsten sein. Glauben Sie mir", sagte Selenskyj.

Im Jahr 2019 hatte der Selenskyj-Berater Oleksiy Arestovych in einem Interview den Krieg vorausgesagt und meinte, dass es zu 99,9 % sicher sei, dass es zu einem Krieg kommen würde: „2020 und 2022 sind die kritischsten Jahre.“ Seine Begründung lag darin, dass Russland die Ukraine schwächen wollte, um sie für NATO uninteressant zu machen.

Der Prozess, mit dem sich das Putin-Regime inzwischen etabliert hat, hat bereits 2007 bei der Münchner Sicherheitskonferenz angefangen, als sich der russische Präsident zu den Delegierten wandte und den Versuch der Nato-Osterweiterung als „provozierenden Faktor“ für Russland bezeichnete und die Frage stellte, gegen wen sich diese Erweiterung richtete: „Wir treten eindeutig für die Festigung des Regimes der Nichtweiterverbreitung ein”, sagte Putin.

Im April 2008 fand der NATO-Gipfel in Bukarest statt. Das war ein weiterer Grund für Putin, Georgien anzugreifen. Georgien und die Ukraine hatten nämlich gehofft, dem Aktionsplan für die NATO-Mitgliedschaft beizutreten, doch obwohl die NATO-Mitglieder die Beitrittsbestrebungen beider Länder begrüßten und sich einig darin waren, dass diese Länder Mitglieder der NATO werden sollten, beschlossen sie im Dezember 2008, ihren Antrag zunächst zu überprüfen. Unter den Ländern, die gegen den Beitritt stimmten, waren auch Deutschland und Frankreich.

Wer hat mit dem Krieg angefangen?

Der fünftägige Krieg, der ein ganzes Gebiet, Südossetien in Georgien zerstörte und bei dem mehreren Zivilisten getötet wurden, reicht bis in die Gegenwart. Russland hat seit vierzehn Jahren das Gebiet besetzt und verschiebt die Grenzen von Zeit zu Zeit ins Landesinnere. Vierzig Kilometer entfernt von der Hauptstadt Tbilisi stehen russische Truppen und noch immer werden Menschen bei der Überquerung der sogenannten Grenze erschossen.

Bevor es jedoch zum Augustkrieg im Jahre 2008 kam, hatte die damalige georgische Regierung mehrere Gespräche und Treffen mit den westlichen Politikern organisiert. In ihren Memoiren beschreibt die ehemalige Außenministerin der USA, Condoleezza Rice, ein Treffen mit dem damaligen Präsidenten Micheil Saakaschwili, in dem sie ihn bat, sich nicht von den Russen provozieren zu lassen: „Trotz der einseitigen georgischen Waffenruhe zu Beginn des Tages setzten die südossetischen Rebellen den Beschuss ethnisch georgischer Dörfer in und um die Hauptstadt Zchinwali fort. Daraufhin begann das georgische Militär mit einer schweren Militäroffensive gegen die Rebellen”, beschreibt Rice in ihrem Buch, „No Higher Honor: A Memoir of My Years in Washington“ und genau der letzte Satz ist für viele im Westen der Grund, warum sie oft Georgien die Schuld geben, mit dem Krieg angefangen zu haben.

Heidi Tagliavini, Leiterin der vom Europäischen Rat eingesetzten unabhängigen Untersuchungskommission zum Konflikt zwischen Russland und Georgien, machte in ihrem Bericht Georgien für den Kriegsausbruch verantwortlich. Obwohl Tagliavini Russland für eine unverhältnismäßige Reaktion gegen Georgien kritisierte und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Nachgang des Krieges, Russland mehrerer Menschenrechtsverletzungen gegen Georgien für schuldig befand, gibt es immer wieder Diskussionen darüber, dass Georgien ein Interesse daran hatte, einen Krieg zu beginnen. Zum Vergleich: Georgien ist ein Land mit 3,7 Millionen Einwohner*innen, Russland hingegen hat 144,1 Millionen Einwohner*innen und ist ungefähr 114 Mal größer. Um mit Russland diplomatisch zu verhandeln und sich abhängig von der russischen Energie zu machen, geschah das, was wir seit drei Monaten in der Ukraine beobachten. Das Putin-Regime hat seine Pläne, egal ob man sich provozieren lässt oder auf seine Invasion antwortet – dies ist auch beim Krieg gegen die Ukraine zu beobachten. Als Russland im Februar die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk anerkannte, reagierte Selenskyj zurückhaltend und meinte, dass die Ukraine einen friedlichen und diplomatischen Weg wählen würde und auf die Provokation nicht antworten wird, aber auch kein Territorium aufgeben würde. Nichtsdestotrotz griff Russland die Ukraine am 24. Februar an.

Seit über drei Monaten ist Krieg in der Ukraine. Es ist ein Krieg, der eher als Völkermord bezeichnet werden sollte als ein Kampf, indem beide Seiten gleichgestellt sind. Nachdem die Fotos und Videos aus Butscha im Internet zu sehen waren, zeigten sich Politiker*innen schockiert. “Butscha-Massaker”, “Gräueltaten in Butscha” hieß es in den Medien.
Doch waren diese Geschehnisse, die die brutale Seite des russischen Regimes zeigen, wirklich so unvorstellbar? Die Geschichte nach der Auflösung der Sowjetunion deutet auf etwas anderes hin. Für die Antwort auf diese Frage braucht man nicht allzu lange in die Vergangenheit zu schauen. Die russische Aggression fing in den 1990er-Jahren an, als 1992-93 im Gebiet Abchasien ein Krieg ausbrach, der mit Russlands Besatzung endete. Die Fotos von damals sind nahezu identisch mit Fotos von Butscha: Leichen auf der Straße, gefolterte Körper und Vergewaltigung von Frauen. Russlands Kriegsverbrechen haben nicht im Februar 2022 angefangen, sie haben eine dreißigjährige Geschichte. Selbstverständlich war die politische Lage sowohl im Kaukasus als auch in den Westen damals eine andere, und man sollte das hierbei auch berücksichtigen, aber die brutale Vorgehensweise der russischen Seite war schon damals zu beobachten.

Die Europäische Union hat vor Beginn des Krieges verschiedene Maßnahmen ergriffen und Sanktionen verhängt, viele westliche Staaten haben seit Beginn des Krieges weitere Sanktionen gegen Russland angekündigt, und mehrere internationale Unternehmen haben ihre Arbeit in Russland eingestellt. Die georgische Bevölkerung schaut gerade hoffnungsvoll in Richtung EU, für sie ist es nämlich lebenswichtig, Russland zu schwächen. Sie wissen, dass Russland diesen Krieg nicht gewinnen darf. Russland muss diesen Krieg verlieren, schon allein damit nicht Georgien das nächste Land ist, das angegriffen wird.

Salome Belkania - Freie Journalistin aus Georgien

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