Notwehr im Herbst

Flüchtlingskrise Der Herbst ist da und in meinem bunten Garten färbt sich langsam die Vegetation braun.

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Der Herbst ist in Deutschland eine eigentümliche Zeit. Alleine der 9. November kennt mehr Ereignisse, als jedes andere Datum. Novemberrevolution, Kapp Putsch, Pogromnacht und Mauerfall wären als die Wichtigsten zu nennen. Was wird es in diesem Herbst geben? Die gesellschaftlichen Spannungen haben eine Stärke erreicht, die eine Entladung befürchten lassen.

Horst Seehofer hat jetzt zur Notwehr gegen die Flüchtlinge aufgerufen, die zu Zehntausenden nach Deutschland strömen. Und es werden Menschen diesen Ruf verstehen, so wie er gemeint ist. Notwehr ist frei nach § 32 des Strafgesetzbuchs eine Tat, die der Verteidigung dient, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden, die aber nicht rechtswidrig und strafbar ist. Notwehr darf ich etwa anwenden, wenn ich angegriffen werde oder wenn jemand bei mir einbricht, wobei die Notwehr nur den Angriff abwehren darf. Wer etwa einen gewalttätigen Einbrecher oder einen Angreifer einfach erschießt, handelt nicht in Notwehr, denn ein Schuss ins Bein hätte ja genügt, den Angriff abzuwehren.

Nun ist Flucht an sich kein Verbrechen, sondern ein Menschenrecht! Die Reisefreiheit war eine der zentralen Forderungen der DDR-Bürgerrechtler. Wahrscheinlich dachten viele nur an ihre eigene Reisefreiheit. Unsere Reiseveranstalter und Outdoor-Ausrüster freute es ja auch immer, wenn Menschen das Wandern entdeckten, so lange es etwa die deutsche Mittelschicht ist, die sich zu Fuß auf den Weg nach Santiago de Compostela macht. Wandern galt lange als unpolitisch und wurde aus diesem Grunde in Deutschland schon in der Kaiserzeit staatlicherseits gefördert, etwa in den Schulen.

Jetzt sind es andere, die „mal eben weg“ sind und die Zahl der Wandertage wurde auf 365 im Jahr erhöht. So kommen jeden Tag neue Scharen von Menschen, die fliehen, weil sie entweder weg müssen, oder weil sie weg wollen. In allen Fällen aber deshalb, weil die Bedingungen in ihren Ländern so sind, dass es aus ihrer Sicht für sie dort keinerlei Perspektive gibt. Und langsam dämmert uns, was den Flüchtlingen schon vorher klar war, dass der Erdball doch nicht ganz so groß ist und der Mensch in der Lage ist, notfalls zu Fuß in jene Regionen der Welt zu gelangen, in denen es besser zu sein scheint.

So erreichen uns über die Flüchtlinge jene Verhältnisse, die wir selbst mit geschaffen haben, die wir aber nicht wahrnehmen brauchten, weil sie unsichtbar blieben. Die Kriege der letzten siebzig Jahre, die mit unserer Unterstützung geführt wurden, die Waffenexporte, die ungeheure Ausbeutung ganzer Kontinente durch die Industrieländer und schließlich die bunten Revolutionen, die durch westliche Stiftungen und Geheimdienste gefördert wurden, haben ganze Regionen unbewohnbar gemacht. Und wie wir glauben, unser Müll und unsere Abgase würden schon „irgendwo“ bleiben und die Klimakatastrophe würde höchstens die armen Schweine in Bangladesch etwas angehen, so dachten wir auch, dass das Elend der Menschen in anderen Ländern uns nichts angeht, bis sie jetzt vor unseren Türen standen.

Horst Seehofers Gerede von der Notwehr ist daher brandgefährlich – im wahrsten Sinne des Wortes. Und sie verdreht die Umstände. Es handelt sich um eine perfid verklausulierte Aufforderung zu Rechtsbeugungen und sogar zu Straftaten. Denn ohne den rechtswidrigen Angriff bleibt die Tat einer Notwehr ja eine Straftat. Selbst im streng juristischen Sinne, kann bei den Flüchtlingen aber nicht von Straftätern gesprochen werden! Ja, sie haben kein Einreisevisum in die Europäische Union. Aber die erlaubnislose Einreise, bzw. der erlaubnislose Aufenthalt ist nicht automatisch strafbar! Auch handelt es sich in keinem Falle um eine Straftat gegen eine Person, gegen die sich jemand im Sinne von Notwehr wehren könnte, schon gar nicht ein Staat.

Seehofer gießt also Öl ins Feuer. Aber er ist nicht der einzige rhetorische Brandstifter. Egal wer zur Zeit spricht, man hört kaum etwas Vernünftiges, wenn es um Flüchtlinge geht. Mal sind es Asylbewerber, mal Kriegsflüchtlinge und natürlich gibt es noch Wirtschaftsflüchtlinge, womit keinesfalls jene Firmen und Personen gemeint sind, die mit ihren als „Firmensitz“ oder „Wohnsitz“ getarnten Räuberhöhlen in jene Länder geflohen sind, wo die Steuersätze für sie am günstigsten waren.

So geht es lustig durcheinander und kaum einer scheint zu wissen, wovon er redet. Das gilt auch für die Zahlen. Mal sind es eine Millionen, mal 1,5 Millionen, dann wieder weniger und Innenminister De Maizière wusste gar schon zu berichten, dass ein Drittel der Syrer etwa gar keine Syrer seien um dann später zuzugeben, dass ihm verlässliche Zahlen gar nicht vorlägen.

Kein Wunder, dass es den Bürger graust und die Ängste wachsen. Und diese Ängste sind nicht ganz so unberechtigt, wie man von der grünen und linken Seite die Sache abtut. Es ist nicht damit getan, Menschen in Turnhallen unterzubringen, Teddybären und Wasserflaschen zu verteilen und sich vielleicht einen Flüchtling für den Abend unter den Weihnachtsbaum zu setzen. Was auf uns zukommt ist harte Arbeit und es wird auch teuer werden. Wohnungen fallen nicht vom Himmel und von selbst wird die so genannte Integration nicht zu haben sein. Ein gewisser Prozentsatz an nicht Integrierten dürfte bei Industrie, Handwerk und Landwirtschaft gar nicht so unbeliebt sein. Günstige wehrlose Lohnsklaven sind immer gerne gesehen, wie etwa bei der Deutschen Post, die jetzt 1000 Flüchtlingen einen Praktikumsplatz bietet. Und auch an vielen Orten, wo die Brieftaschen etwas besser gefüllt sind, wird man sich über die günstige Haushaltshilfe oder Pflegekraft freuen. Hier ist der Rassismus nicht ganz so offen, wie in den unteren Schichten, die sich die Konkurrenz mit dem Baseballschläger von Platz zu treiben versucht.

Dass schließlich Millionen nicht beschäftigter und nicht integrierter Araber einen gewissen sozialen Sprengstoff darstellen, sollte einem auch klar sein, auch wenn man grundsätzlich den Flüchtlingen positiv gegenüber steht. Diese Menschen sind nicht geflohen, um den Rest ihres Lebens auf Feldbetten in einer Halle zu schlafen. Früher oder später werden sie ihre Rechte fordern und wenn sie feststellen, dass die europäischen Gesellschaften trotz allen Geredes von Freiheit und Sozialstaat eigentlich recht brutal sind, und keinesfalls das erhoffte Paradies, so werden sie aufbegehren. Deutschland ist eines der undurchlässigsten Länder, was etwa die Mobilität zwischen sozialen Schichten angeht. Ist es für ein Kind aus einer deutschen Familie mit Hartz IV-Bezug fast unmöglich, etwa einen Studienplatz zu bekommen, so wird es für die Kinder der Flüchtlinge gewiss nicht leichter werden. Vor diesem Hintergrund werden sich auch die zukünftigen Verteilungskämpfe abspielen. Und wie es aussieht, wenn Menschen gegeneinander ausgespielt werden, lässt sich anhand der aktuellen Diskussion um den Umgang mit den Flüchtlingen gut sehen.

Die Probleme und Aufgaben sind also immens und der Kraft eines Herakles würdig. Mit freiwilligen Helfern alleine wird das nicht zu stemmen sein. Und auch der Verweis, die anderen europäischen Länder sollten, müssten und könnten das Problem lösen, etwa indem sie Flüchtlinge aufnehmen oder – wie im Falle der Türkei – sie uns vom Hals halten, wird nichts weiter bringen.

Das Ganze ist also eine nationale Aufgabe ungeheuren Ausmaßes, auf die viel zu spät reagiert wurde. Und auch jetzt noch suggerieren fast alles Politiker von ganz rechts bis ganz links, sie hätten Ideen, für Lösungen. Nein, sie haben sie nicht! Und es wäre längst Zeit gewesen, dass die Verantwortlichen zu einem nationalen Krisengipfel aufgerufen hätten, der über mehr redet als über die Verteilung der Flüchtlinge auf Bundesländer und der finanziellen Beteiligung des Bundes an der Unterbringung. Ein Programm, welches den Bau von Wohnungen, die Sicherstellung der Bildung und der Integration sowie die Einbeziehung der bestehenden Bevölkerung mit einschließt, wäre den Schweiß der Edelsten wert gewesen. Mit bloßen Ankündigungen nach dem Motto „wir schaffen das“ wird es so wenig getan sein, wie mit der „Notwehr“ des Horst Seehofers. Es muss sich etwas ändern. Praktisch und zum Positiven!

Die Flüchtlingskrise zeigt schließlich den Offenbarungseid unserer Gesellschaft, die ihr Glücksversprechen nur begrenzt erfüllen kann. Ökonomischer Wohlstand und Teilhabe am Konsum ersetzen eben nicht die Frage nach dem Sinn des Lebens und dem Glück der Menschen. Der Konsum eines kleinen Teils der Menschen ist schwindelerregend hoch und bedroht schon aus ökologischen Gründen das gesamte Leben auf unserem Planeten, Tiere und Pflanzen eingeschlossen. Dass das ökonomische System des Kapitalismus, welches notwendig auf Wachstum angewiesen ist an seine Grenzen gelangt ist, geht auch langsam jenen auf, die nicht die ganz tiefen Teller erfunden haben. Die gleichzeitige Spaltung der Gesellschaft in Superreiche und extrem Arme bleibt auch nicht mehr verborgen, seit Flaschensammler tagsüber die Mülleimer durchsuchen.

So steht in diesem Herbst nichts weniger auf der Agenda, als die Frage danach, in welcher Gesellschaft wir leben wollen!

Ich kann mich nicht des Eindrucks erwehren, dass man als Weg aus der Krise die autoritäre Lösung sucht. Die Reden der Seehofers, die Demonstrationen von PEGIDA und Co. und überhaupt die Tatsache, dass man die Flüchtlingskrise fast tatenlos hat eskalieren lassen, deuten mir darauf hin. Es käme darauf an, dem Ganzen einen positiven Gesellschaftsentwurf entgegen zu setzen. Da es daran mangelt, werden wir werden uns in diesem Herbst wohl warm anziehen müssen!

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Geschrieben von

Saltadoros

Olaf Schäfer: Pädagoge, Musiker...

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