Sichtbar, unsichtbar. Ein Mensch, kein Mensch. Eben war da doch noch einer.
Kinder starren mich manchmal mit offenem Mund an. Sie sehen die Lücken in meiner Anwesenheit, nehmen noch nicht alles selbstverständlich. Mama, die Frau verschwindet und kommt dann wieder. Nein, Schatz, das bildest du dir ein. Die Mutter zieht das Kind weiter, das sich ständig nach mir umdreht.
Verschwinden und Wiederauftauchen ist mein größtes Hobby. Läden habe ich schon ausgeraubt auf diese Weise - und hinterher alles zurückgebracht, nur um zu sehen, ob es funktioniert.
Ich arbeite nicht. Mundraub ist in den Schwindphasen eine Leichtigkeit. Meine Stromrechnung bezahle ich bei den Stadtwerken direkt. Stelle mich neben den Mitarbeiter und manipuliere den Computer. Vielleicht stand ich auch schon neben Ihnen. Wenn Sie sich fragen, warum der PC plötzlich etwas anderes anzeigt als noch vor einer Sekunde: Das war ich.
Ich bin ein Geist. Ein Windhauch. Ich bin diejenige, die manchmal in fremden Wohnungen übernachtet, einfach, weil ihr die Einrichtung gefällt. Der Hund merkt es, die Katze auch, aber Herrchen und Frauchen nicht.
Mir gehört alles, die ganze Welt. Eintritt muss ich niemals zahlen. Ich nehme Rücksicht, natürlich, auf das Intimleben anderer. Außer, wenn meine Neugier siegt. Das tut sie manchmal. Ich habe keinen Fernseher, das Leben ist spannend genug.
Mein Partner? Ich habe keinen Partner. Während er sich umdreht, um einen Teller aus dem Schrank zu holen, verschwinde ich für ein paar Sekunden. Keiner hielt es lange mit mir aus.
Ich brauche das. Diese Unsichtbarkeit. Zur Regeneration. Ich muss mich erholen von der sichtbaren Welt, alle paar Sekunden aus ihr herausfallen.
Meine größte Sorge ist, die Tarnkappe zu verlieren. Ich habe sie an meinen Haaren festgesteckt, trage sie mit einem Band unterm Kinn. Bei Sturm gerate ich in Panik.
Wenn jemand anderes sie fände - er würde sie vielleicht missbrauchen. Schlimmer noch als ich.
Sandra Niermeyer lebt in Bielefeld. Sie schreibt Kurzgeschichten und Erzählungen. Zuletzt erschien im Freitag 48/2006 ihr Text Zoo.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.