Für die Beiträge des Deutschen Pavillons auf der 60. Kunstbiennale in Venedig braucht es in diesem Jahr viel Zeit. Während der Preview-Tage zog sich die Warteschlange dann auch noch vom Hauptweg des Giardini-Geländes bis hinein in den Pavillon. Der Grund: Maximal 30 Menschen werden zeitgleich in das tropfenförmige Gebäude gelassen, das Regisseur und Bühnenbildner Ersan Mondtag in die monumentale Architektur des Hauptraums gesetzt hat.
Aus einer angedeuteten Fabrik führt eine metallene Wendeltreppe in eine enge Wohnung: Eine Küche mit Durchreiche zum Fernsehzimmer, grün gefliestes Bad, ein kleines Doppelbett. Eine ästhetische Reise in die Zeit vor 1990. Die Proportionen der Möbel entsprechen dabei nicht immer der Realität, sche
28;t, scheinen mehr Kulisse als gemütliches Zuhause. Das Bett zu knapp, der Fernseher zu klein. Die Staubschicht über allem ist real, zieht in die Lunge, legt sich auf die Augen. Eine Besucherin hält sich ein Tuch vor den Mund. Die Tapete ist zerkratzt, Steckdosen hängen aus der Wand, darauf ein paar vergilbte Familienbilder.Ein Denkmal für einen unbekannten ArbeiterUnter dem Titel Thresholds hat Kuratorin Çağla Ilk sechs Künstler:innen eingeladen, den Umgang mit Schwellen, Stufen und Grenzen zu suchen. Ausgehend von der Gegenwart will der deutsche Beitrag alternative Lesarten von Geschichte und Zukunft bieten. 1938 wurde das Gebäude des Deutschen Pavillons zum Manifest nationalsozialistischer Baukunst. Ihn zu bespielen, ist angesichts dieses Erbes eine der größten Herausforderungen der zeitgenössischen Kunst. Schon viele haben sich daran abgearbeitet. Nun setzt Mondtag dem Schicksal seines Großvaters mit dem dreistöckigen Einbau ein vielschichtiges Denkmal inmitten der faschistischen Architektur.Was zunächst wirkt wie eine lange verlassene Bleibe, wird regelmäßig zur Bühne. Mitten zwischen den Besuchenden geht eine fünfköpfige Familie ihrem Alltag nach: Der Vater steigt nackt in Unterhose und Blaumann, die Mutter geistert mit Kittelschürze und Kopftuch durchs Haus und putzt einer Besucherin die Schuhe. Die Tochter benutzt die Toilette – inklusive Spülgeräusch. Das Biennale-Publikum kommt den Schauspielenden in den intimsten Momenten unangenehm nah, quatscht dabei, telefoniert und hält das Smartphone auf sie. Dann klingelt schrill das alte Wandtelefon. Der Schrei der Mutter erfüllt den Pavillon. Der Vater ist tot.Auf der oberen Plattform mit Blick auf die Lagune erweist die Familie ihm die letzte Ehre, wäscht den Toten, rollt ihn in ein Tuch. Erstmals setzt sich Ersan Mondtag für dieses lebendige Monument eines unbekannten Menschen künstlerisch mit seiner eigenen Familiengeschichte auseinander. Ausgangspunkt ist die Biografie seines Großvaters Hasan Aygün. In einer dörflichen Region östlich von Ankara geboren, ging der 1968 nach West-Berlin und gehörte zu den ersten Gastarbeitenden. Blumenkästen von Eternit stehen für die Firma, bei der Aygün über 25 Jahre gearbeitet hat. Er starb kurz nach seiner Pensionierung an einer schweren Lungenerkrankung, die auf das Einatmen von Asbest zurückzuführen war. Die Familie klagte und erhielt 5.000 Euro. Schon Bertolt Brecht formulierte in seinem Gedicht „Anleitung für die Oberen“ die Forderung, analog zu den unbekannten Soldaten auch die unbekannten Arbeiter zu ehren, deren Spuren sich in der Anonymität der Städte verlieren.Die Erde aus Anatolien wird im Fundament des Pavillons verbleibenEin weiteres Element dieses Monuments ist Erde: Der Haupteingang des Pavillons ist von einem zwei Meter hohen Erdhaufen versperrt. Eine Mischung aus Abraum anderer Länderpavillons aus den Giardini und Erde aus dem Geburtsort von Hasan Aygün in Anatolien. Diese ist nun auch dauerhaft Teil des Fundamtes des Deutschen Pavillons, das Maria Eichhorn vor zwei Jahren hatte freilegen lassen. „Eine Geste des Empowerments gegen die Reinheitsideologie der faschistischen Architektur“, erklärt das Booklet. Auch die Wände rund um Mondtags Beitrag sind mit Erde verputzt.Das dunkle Fischgrät-Parkett, das den Boden des Hauptraums ausfüllt, stammt wiederum aus einem verlassenen Kulturhaus im brandenburgischen Kirchmöser und soll den nicht geschriebenen Kapiteln der ostdeutschen Geschichte Präsenz verleihen. Ein Anliegen, das sich leider nur nach der Lektüre der Begleittexte und dem genauen Blick ins Bücherregal der Theaterwohnung einlöst – da stehen Christa Wolf und Lyrik der DDR.Georgi Gospodinovs Buch „Zeitzuflucht“ war für Kuratorin Ilk ein wichtiger Ausgangspunkt. Im Roman wird eine Klinik für Menschen mit Gedächtnisverlust beschrieben. Gospodinov schreibt: „Eigentlich ist das Erste, was beim Verlust des Gedächtnisses fortgeht, die Vorstellung von Zukunft.“Placeholder image-1Eine sehr konkrete Vorstellung von Zukunft vermittelt die Künstlerin Yael Bartana. Ihr Gedankenspiel eines Raumschiffes für mehrere Generationen zieht sich parallel zu Mondtags Monument durch alle Räume des Pavillons. Das Light to the Nations, benannt nach einer Passage aus dem Buch Jesaja, soll Menschen in einem Akt der Erlösung zu neuen Galaxien und Planeten bringen. Am Eingang hängt es als Modell von der Decke – eindrücklich beleuchtet ist auch dies ein beliebtes Fotomotiv.Gegenüber von Mondtags Monument steht eine überdimensionale Kinoleinwand. Tänzer:innen bereiten in einer Zeremonie die Loslösung von der Erde vor – gedreht wurde in Brandenburg. Ästhetisch treffen Sommernachtstraum und Leni Riefenstahl aufeinander und rufen das Raumschiff herbei. Neben digitalen Animationen erläutert eine Kreidezeichnung an der Wand dessen verschiedene Funktionen, etwa Weltraumforschung, Technik, Medizin, Wohnen, aber auch Recycling.Bartana überlagert in Light to the Nations spekulative Technologien mit den jüdischen mystischen Lehren der Kabbala. Es sei so ausgelegt, dass viele Menschen über Jahrtausende darin leben könnten, während sich die Erde selbst repariert, erklärt die israelische Kunsthistorikerin und Kuratorin Doreet LeVitte-Harten in einem Videointerview. Das Konzeptfuße auf jüdischen Traditionen, überschreite aber als umfassendes Vorhaben religiöse, ethnische, nationale und staatliche Grenzen und biete der gesamten Menschheit eine Zukunft. Im letzten Raum betrachtet man diese Utopie auf dem Sofa liegend in einem Planetarium.Die Insel La Certosa erzählt von einem ganz anderen VenedigDieser Deutsche Pavillon ist fordernd und hinterlässt Eindruck. Unabhängig von den komplexen historischen, biografischen und literarischen Hintergründen erzeugen sowohl Bartanas Videoarbeiten als auch Mondtags Performer:innen starke und emotionale Bilder. Zur visuellen Ebene kommt bei beiden ein intensiver Sound. Wenn zum Tod des Großvaters Bach durch den Pavillon klingt, wird dessen Apsis zum pathetischen Andachtsraum.Placeholder image-2Die Wahrnehmung von Räumen durch Sound zu formen, dieses Anliegen teilen Bartana und Mondtag mit Michael Akstaller, Robert Lippok, Nicole L’Huillier und Jan St. Werner. Es braucht noch einmal gut zwei Stunden Zeit, um deren Soundarbeiten auf der kleinen Insel La Certosa zu erleben, die mit dem Wasserbus nur zwei Stationen vom Pavillon entfernt ist. Hier wurde 1199 ein Augustinerkloster gegründet, später war die Insel Munitionsdepot. Eine Klosterruine und zahlreiche Bunkeranlagen zeugen noch davon. Heute ist sie öffentlich zugänglicher Park der Stadt Venedig. Erstmals bespielt der deutsche Beitrag für die gesamte Ausstellungsdauer einen weiteren Standort. Befreit vom aufgeladenen Narrativ des Pavillons entstanden hier ortspezifische Neuproduktionen, die jenseits von Kunsthype und Touristenmagnet von einem ganz anderen Venedig erzählen und das überholte Konzept des Länderpavillons eindrücklich aufbrechen.