Benjamin Netanjahu - Die Torheit des Regierenden

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DIE ARABER HABEN ZEIT

"Die Araber haben Zeit, und ich meine, wir haben sie ebenfalls. Wir sollten nicht entscheiden, morgen etwas zu tun und dabei anzunehmen, es wäre damit vorbei. Es wird nicht vorbei sein. Wir haben es mit Arabern zu tun, und was die Araber mental am meisten kennzeichnet, ist sich zurück zu ziehen wenn sie getroffen werden." Die Schlußfolgerung, die der israelische Oberbefehlshaber des Nordkommandos zog, war "sie immer und immer wieder zu treffen". Mit anderen Worten: Zermürben.

Der so sprach, war General Uzi Narkis, und sein Zuhörer war kein Geringerer als der damalige Ministerpräsident Levi Eshkol. In jenem Januar 1967 war man noch ein knappes halbes Jahr vom Sechstagekrieg entfernt.

Zermürben. Die militärische Empfehlung Narkis' stellte in gewissem Sinn eine Analogie dar zur unveränderten zionistischen Strategie der Ausdehnung der Grenzen Israels, wie sie auch Eshkol verfolgte. Wenngleich der Ministerpräsident deutlich zögerlicher auftrat als sein charismatischer Vorgänger und Staatsgründer David Ben-Gurion, so verfolgte er prinzipiell dieselben Ziele.

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ZIEGE UM ZIEGE

"Hektar um Hektar, Ziege um Ziege" werde man das ganze Land Israel, also "Eretz Israel" wiedergewinnen, hatte Eshkol schon Jahre zuvor geäußert.

Dass es seit der massenhaften Vertreibung der Palästinenser im Zuge des sogenannten Unabhängigkeitskrieges von 1948 auch einen palästinensischen Zionismus gibt, also eine Bemühung, eine Sehnsucht, ja, einen Kampf um die Rückkehr in das eigene Land, hatte Israel nie interessiert. Letztlich läuft es seit 1948 mehr oder weniger auf Ben-Gurions kategorisches "Die Araber müssen weg!" hinaus.

Dass viele bedeutende Stimmen innerhalb und außerhalb Israels immer wieder auf das legitime Ansinnen der Palästinenser auf Rückkehr hingewiesen haben, unter ihnen etwa der israelische Philosoph Yehoshua Bar-Hillel oder der 1967 zu einem Besuch in Israel weilende Jean Paul Sartre, hat noch keine Regierung in Jerusalem interessiert.

Und derzeit hat Ministerpräsident Benjamin Netanjahu die Traute, Barack Obama "outsmarten" zu wollen, indem er dessen Forderung nach einem unbedingten Siedlungsstopp so lange so hartnäckig ignoriert, bis das Weisse Haus zur größten Verwunderung und Verärgerung der muslimischen Hemisphäre aus dem zuvor robust geäußerten dreifachen "Nein" Hillary Clintons: Nein zu neuen Siedlungen, Nein zum Ausbau bestehender Siedlungen und Nein zum "natürlichen Wachstum" ein aufgeweichtes Etwas machte. Schon gegenüber Bill Clinton konnte sich Netanjahu, der auch damals das Amt des Ministerpräsidenten bekleidete, durch schiere Halsstarrigkeit durchsetzen.

Dass Netanjahu unlängst ein vorübergehendes Moratorium für den Siedlungsbau in der Westbank ausgesprochen hat - und dabei freilich den heiklen Bereich Ostjerusalem unberührt ließ - darf getrost als Taktieren angesehen werden. Denn was sollte mit einem 10-monatigen Halt gewonnen werden? Sollen die Siedler langsam daran gewöhnt werden, dass die Siedlungen nicht mehr weiter geführt werden? Nein. Es ist nur ein Stück Realpolitik angesichts des Umstandes, dass es nicht ratsam ist, den US Präsidenten vor aller Welt fortgesetzt zu düpieren.

Zielstrebigkeit scheint sich demnach auszuzahlen, möchte man angesichts der "Erfolge" Netanjahus meinen, und man darf sich sicher sein, dass die Netanjahus und Liebermans in der Regierung die Lage so einschätzen.

Die amerikanische Historikerin Barbara Tuchmann verfasste im Jahr 1984 ein auch heute noch überaus lesenswertes Buch mit dem Titel "Die Torheit der Regierenden", worin sie geschichtliche Parallelen aufzeigte zwischen der Torheit der Führer im Trojanischen Krieg, der Torheit des englischen Königs angesichts der drohenden Abspaltung der amerikanischen Kolonien und der amerikanischen Torheit, immer tiefer in den Schlamassel Vietnam zu versinken.

Die jeweilige Torheit bestand Tuchmann zufolge darin, falsch gehandelt zu haben, obwohl man alle nötigen Informationen hatte, das Drama abzuwenden. Man ging sehenden Auges in die Katastrophe.

EIN TOR NAMENS NETANJAHU

Man kann viele kleine Scharmützel oder gar ausgewachsene Schlachten gewinnen. Man hat damit noch keinen Krieg gewonnen. Aber im Libanonkrieg 2006 blieb Israel im Kampf gegen eine unerwartet starke Hizbollah sogar der Sieg in einem Krieg verwehrt. Verlierer gab es nur einen: den Libanon und seine Bevölkerung.

Der Gazakrieg in diesem Frühjahr 2009 war gar kein Krieg mehr im herkömmlichen Sinne, sondern nur die Umsetzung der zuvor von General Eisenkot angekündigten "Dahiyeh Doctrine". Man werde dem Gegner mit "unproportionaler Härte" begegnen: "We will wield disproportionate power against every village from which shots are fired on Israel, and cause immense damage and destruction." Israel als Gewinner zu bezeichnen, nur weil die Verlustratio etwa 1:1000 zu Ungunsten der Palästinenser beträgt, wäre reiner Zynismus.

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Was Netanjahu und die sonstigen Hardliner übersehen, ist die fortschreitende Zeit und mit ihr die unaufhaltsam fortschreitende Waffentechnik. Zum Abschuss einer Katjuscha, deren Reichweite und Sprenglast sich von Jahr zu Jahr zusehends vergrößert, braucht es ganze drei Mann, die sich irgendwo in einem Olivenhain verschanzen.

Tom Friedman von der New York Times bezeichnet dieses Phänomen als "the super-empowered individuals", dass also Einzelne sich mit Hilfe von bloßer Technik zu einer Art über-individueller Macht emporheben können. Und mit jedem Jahr der Auseinandersetzung zwischen Israel und den Palästinensern wächst die Gefahr ins Unermeßliche, dass Israel nicht länger bedroht wird von angrenzenden arabischen Armeen, sondern von "super-empowered individuals". Keine Armee Israels wird in der Lage sein, dieser Gefahr effektiv zu begegnen.

Man kann die Tage zählen, bis die Hamas oder die Hizbollah Waffen zur Verfügung haben, die Tel Aviv, Aschdod, Haifa oder Jerusalem nicht nur erreichen, sondern verheerend treffen. Hizbollah-Chef Nazrallah hat seine Drohungen just heute wiederholt. Wer wagt zu behaupten, dass dieses Szenario nie eintreten kann? Wer aber einräumt, dass die Technik dies bald ermöglichen wird, kann unmöglich dafür sein, dass die zionistische Politik seit 1948 fortgeführt wird. Diese letztlich schlichte, aber umso gewichtigere Einsicht muss noch viel mehr Geltung für Israelis haben, als für Palästinenser.

Statt dessen versteift man sich auf die Drohkulisse eines atomaren Iran, als würde der Iran auf die absurde Idee kommen, einen Atomschlag gegen Israel zu führen, bei dem ebenso viele Palästinenser getroffen würden wie Israelis. Ganz zu schweigen vom nuklearen Fallout, der die Nachbarländer betreffen würde, oder zweifellos zu befürchtenden Gegenschlägen israelischer oder amerikanischer Seite.

Die Zeit des alten Zionismus ist vorbei. Die Moderne lässt ihn nicht mehr zu. Dass ihn rückwärtsgewandte Ultraorthodoxe, Radikale und die von ihnen abhängigen Politiker noch ein wenig weiter führen möchten, ganz im Geist der alten Tage, ist allzu menschlich.

Dasselbe gilt sinngemäß für die Hamas oder die Hizbollah. Nur weil ihre Kämpfer mehr und mehr zu Ein-Mann-Armee werden, besteht überhaupt kein Anlaß zum üblichen Triumpfgeschrei. Denn wo sich die israelische Armee nicht mehr gegen arabische Soldaten in offenem Feld erwehren kann, schlägt sie wie in Gaza blind und furchtbar zu. Der Satz von General Narkis aus dem Jahr 1967 muss umgedreht werden: Die Araber haben keine Zeit mehr, und die Israelis auch nicht.

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Wer kann, wer muss den Gordischen Knoten zerschlagen? Ein Blick auf die Entwicklung der politischen Landkarte Palästinas von 1948 bis heute genügt, um zu erkennen, wer den größeren Schritt in Richtung auf die andere Seite tun muss. Doch Netanjahu wird diesen Schritt nicht tun. Er hätte gegenüber eventuellen Kritikern eines Siedlungsstopps Obama und dessen Forderungen vorschieben können. Das wollte er nicht. Denn Netanjahu träumt ebenfalls vom "ganzen Israel".

Ein gefährlicher Traum und die Torheit des Regierenden.

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Bild: courtesy (c) Randall Stoltzfus: Ezekiel

Bild: Jabalijah im Gazastreifen nach dem Gazakrieg, Wikipedia CC Lizenz

(Zitate übersetzt aus Tom Segev: 1967, Israel, the war and the year that transformed the Middle East)

Grafik: The Independant

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Geschrieben von

schlesinger

"Das Paradies habe ich mir immer als eine Art Bibliothek vorgestellt" Jorge Louis Borges

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