Vitrinengerümpel

Textgalerie In einem der "Jungen Lyrik" gewidmeten Heft der Zeitschrift Text + Kritik aus dem Jahr 2006 stellte Norbert Hummelt sechs Jungpoeten mit ...

In einem der "Jungen Lyrik" gewidmeten Heft der Zeitschrift Text + Kritik aus dem Jahr 2006 stellte Norbert Hummelt sechs Jungpoeten mit Textbeispielen vor, unter denen mich besonders die von Nora Bossong (geboren 1982) und Nadja Küchenmeister (1981) überzeugten. Beide Lyrikerinnen leben in Berlin, beide haben am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig studiert. Ihre verknappten Alltagsgedichte spielen in dunklen Märchenräumen, an Tümpeln, in Schuppen, Bunkern, Hinterhöfen, an verwucherten Ortsrändern, wie man sie fast nur noch auf dem Gebiet der untergegangenen DDR vorfindet.

Wer die Leipziger Dichterschule vier Jahre lang besucht hat, dürfte wohl einiges erfahren haben über den Aufbau eines Gedichts, über Bild- und Motiventwicklung, über Rhythmus, Metrum, Reimformen. Was man dort jedoch kaum lernen kann, worüber die Texte der beiden jungen Frauen indes verfügen, sind die besondere Atmosphäre und der je eigene Tonfall, die gestaltete Innenwelt und ihr finsterer Hintergrund, den die Schrecken der Kindheit ausfüllen. Glücksmomente fehlen hier weitgehend.

Diese "Heimat" wirkt seltsam erstarrt, karg und bedrohlich; marode Menschen, auch Füchse, Hasen, Hühner, blinde Hunde und hinkende Katzen bevölkern Haus und Garten. In den mir zugänglichen Gedichten Nadja Küchenmeisters wird ein tristes (Familien-)Milieu sichtbar, Ostberlin, Pankow vermutlich, nach der Wende (man liest bereits Bild), "wachstuch" auf dem Küchentisch, "kein mangel an bier", eine "schuppenlandschaft, ausgebaut für feuerholz, / gestapelte flaschen. Werkzeug in rostigen kisten. / die sachen haunwa aba ma weg!"

Das hier vorgestellte, durch versteckte End- und Binnenreime strukturierte Sommergedicht beginnt rhythmisch bewegt. Ein siebenfüßiger Jambus zieht den Leser zusammen mit den "wolken" förmlich in den Text hinein, und der Film der Erinnerungen startet.

Nur Bildfetzen, Bruchstücke werden aufgerufen: Wiesengerüche, das "toter mann"-Spiel des Kindes im Wasser, die in der Vitrine wiederentdeckten Gegenstände, das scheinbar harmlose "kartenspiel zu dritt im gras". Plötzlich wird aus dem Spiel Ernst und der Vater buchstäblich zum "toten mann". Doch der abgestumpfte Rest der Sippe behandelt ihn, als wäre er Teil des Vitrinengerümpels. Man setzt das Skatspiel fort und schaut sich nicht einmal nach ihm um. Eine schreckliche Familie in einer krass entfremdeten (Kleinbürger-)Welt aus lauter erstorbenen Dingen. Ähnlich ertönt es am Schluß von Bertolt Brechts Mahagonny-Oper, nur zynischer und aus aller Mund: "Können einem toten Mann nicht helfen." Ob solche grandiosen Texte in Leipzig noch studiert werden?

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