Gegen Solidarität mit Verfallsdatum

Äthiopien Im Hinblick auf den Tigray-Krieg ist es wichtig, über unsere Solidarität und ihr Verfallsdatum zu sprechen. Wie auch im Ukraine-Krieg verblassen öffentliche Solidaritätsbekundungen gegenüber der gewaltvollen Realität beider Kriege.

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Es ist derzeit schwierig, zuverlässige Informationen über die Lage in der äthiopischen Tigray-Region zu erhalten. In den letzten 20 Monaten haben die Kämpfe zwischen der äthiopischen Bundesregierung und Tigrays regionalen Streitkräften die Zivilbevölkerung ins Kreuzfeuer genommen und weitere militärische Konfrontationen in den benachbarten Regionen Amhara und Oromia ausgelöst. Die humanitäre Krise dazu geführt, dass etwa 5 Millionen Menschen seit fast zwei Jahren von jeglicher Kommunikation abgeschnitten sind und kaum Zugang zu Nahrungsmitteln haben. Es gibt Anlass zu großer Sorge, wenn selbst Tedros Adhanom Ghebreyesus, Direktor der Weltgesundheitsorganisation und selbst aus Tigray, in den letzten Monaten kein Geld an seine Familie schicken konnte. In Europa waren Politiker*innen und Bürger*innen in letzter Zeit über Russlands Aggression gegenüber der Ukraine besorgt, doch jetzt sind sie eher mit steigenden Lebenshaltungskosten beschäftigt, die eng mit dem Ukraine-Krieg, der Pandemie und dem Klimawandel zusammenhängen.

Wie in Blogs, Kommentaren und Beiträgen in den sozialen Medien zu lesen ist, muss Solidarität davon ablassen, voreilig Fahnen zu schwenken, sobald uns Nachrichten von einer neuen Krise erreichen und Menschen leiden. Dieser Reflex demonstriert eine Wegwerf-Solidarität, die mittlerweile auch in die öffentliche Diskussion über die Ukraine-Krise eingedrungen ist. In ähnlicher Weise hatte die Situation in Tigray Ende 2020 kurzzeitig die Schlagzeilen beherrscht, konnte sich aber nicht lange halten. Nach einem vorläufig hoffnungsvollen humanitären Waffenstillstand im März 2022 begannen die äthiopischen Streitkräfte im September 2022 mit der Bombardierung von Mekelle, der Regionalhauptstadt von Tigray. Millionen von Menschen in Äthiopien sind weiterhin von der Kommunikation abgeschnitten und benötigen dringend Nahrungsmittelhilfe. Im Gegensatz zur Situation in der Ukraine, wo öffentliche Aufmerksamkeit und politischen Bemühungen um eine Deeskalation zunächst schnell mobilisiert werden konnten, bleibt die Krise in Tigray im eher im Schatten mit wenig Hoffnung auf Deeskalation am Verhandlungstisch. Doch auch die abnehmende Medienberichterstattung und die Ermüdung der Öffentlichkeit in Bezug auf die Ukraine sind ein anschauliches Beispiel dafür, wie schnell Aufmerksamkeit nachlässt, wenn sie nur vom anfänglichen Entsetzen statt von einer tief verwurzelten internationalen Solidarität genährt wird.

Sicherlich sind die steigenden Lebenshaltungskosten und die Auswirkungen auf westlichen Volkswirtschaften für Millionen von Europäer*innen derzeit von großer Bedeutung. Dennoch ist es wichtig, angesichts von Krisen und Konflikten außerhalb des unmittelbaren Blickfelds Europas Perspektive zu wahren. Leider passt die Geschichte eines imperialistischen Anführers, der in ein Gebiet eindringt und der Zivilbevölkerung Schaden zufügt, um eine mythische Gemeinschaft wiederherzustellen, sowohl auf den Krieg in der Ukraine als in Tigray. Nicht-westlicher Imperialismus ist weltweit auf dem Vormarsch, und es ist wichtiger denn je geworden, auf diese bedenkliche Entwicklung hinzuweisen.

Daher können historische Wendepunkte wie der Ukraine-Krieg als Chance genutzt werden, um Parallelen zu ziehen und Synergien gegen Neoimperialismus und für einen solidarischen Internationalismus zu schmieden. Ein solidarischer Internationalismus muss sicherlich der enormen Gefahr einer nuklearen und wirtschaftlichen Eskalation mit Folgen für den gesamten Globus Rechnung tragen, wenn Russland gegen die Ukraine und den Westen diesen Weg wählt. Ein solidarischer Internationalismus muss aber auch in der Lage sein, Gemeinsamkeiten in der menschlichen Not zu sehen und die Idee einer marginalen Peripherie in der internationalen Politik abzuschaffen. So kann gerade dieser Moment als historischer Wendepunkt genutzt werden, der uns einlädt zu fragen, wo unsere Solidarität endet. Ich würde gerne glauben, dass sie unbeugsam und universell ist.

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