Mein Nachbar Julian Assange (Lindberg 9)

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Lindberg lebt im Jahr 2060, ist 75 Jahre alt und berühmt und entschließt sich, seine Memoiren zu schreiben. Jeden Freitag veröffentlicht er hier ein weiteres Kapitel aus seiner Biografie. Diesmal berichtet er allerdings aus seiner Gegenwart über den 89-jährigen Julian Assange.

Dezember 2060

Mein Nachbar nervt mich. Mein Nachbar heißt Julian Assange, ist 89 Jahre alt, topfit und der Chief Executive Officer von Wikileaks Corporation.

In den vergangenen Wochen hat er mir dreimal täglich den neuen Geschäftsbericht unter die Nase gehalten. Dabei will ich weiter an meiner Autobiografie schreiben, bevor ich sie vergessen habe.
„Siehst du die Gewinne, Lindberg, siehst du das?“, sagt er mir. „4,9 Milliarden Euro, das ist eine Verdoppelung im Vergleich zum Vorjahr. Es war eine gute Idee, auf den Geheimdokumenten Werbeanzeigen zu platzieren.“
„Ja, ganz toll, Julian. Und nun lass mich in Ruhe. Ich muss schreiben.“

Am nächsten Tag steht er schon wieder neben meinem Schreibtisch.
„Was willst du, Julian?“
„Morgen werde ich wieder die Welt erschüttern. Das ist ganz heißes Material.“
„Was ist es denn diesmal? Ich kann es kaum abwarten.“
„Unser Nachbar Meiermüller.“
„Was bitte soll der getan haben?“
„Er trennt den Müll nicht. Ich habe Beweisfotos zugestellt bekommen.“
„Also du hast die Fotos selbst gemacht.“
„Lindberg, ich muss meine Quellen schützen.“
„Und wen interessiert es, dass Meiermüller den Müll nicht trennt?“
„Die ganze Welt, Lindberg. Das ist ein Umweltskandal größten Ausmaßes. Der Spiegel und die New York Paywall Times bringen große Dossiers.“

Am nächsten Tag spricht die ganze Welt von Meiermüller. Bedroht dieser Mann das Gleichgewicht der Welt? Ist er ein Einzeltäter? Darf so jemand unter uns leben? In der Stadt bekommt er kein Brot mehr beim Bäcker und keine Leberwurst beim Metzger. TV-Stationen und Greenpeace belagern sein Haus. Seine Frau beginnt eine Affäre. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als das Land Richtung Südsee zu verlassen. Abends steht Julian wieder grinsend neben mir. Ich habe exakt drei Sätze geschrieben.
„Julian, du nervst.“
„Hast du gesehen, wie ich es dem Meiermüller gegeben habe? Das ist ein Sieg für die Wahrheit.“
„Du bist doch völlig bescheuert. Das hat Meiermüller nicht verdient.“
„Ich bin nur der Wahrheit verpflichtet.“
„Deinem Ego, Julian.“
„Du redest schon wie die Feindpresse. Ach übrigens, morgen gibt es weitere Enthüllungen.“
„Was denn jetzt schon wieder?“
„Das wird dich umhauen. Ich enthülle, dass Wikileaks bald ein neues Geheimnis enthüllen wird. Ich habe Dokumente entdeckt, die genau das ankündigen.“
„Julian, das sind deine eigenen Dokumente.“
„Na und? Von wem sie stammen und wer sie mir zuspielt, ist doch egal. Was zählt, ist, dass die Wahrheit rauskommt. Da kann ich vor mir nicht halt machen.“
„Lass dich nicht aufhalten und nun hau ab. Ich muss schreiben.“

Am nächsten Tag spricht die ganze Welt darüber, dass Wikileaks bald wieder ein Geheimnis enthüllen will. Der Spiegel und die New York Paywall Times bringen große Dossiers. Die Vereinigten Staaten kündigen an, mein Land zu bombardieren, wenn es Assange nicht ausliefert. Selbst die Tatsache, dass die Fifa zum achten Mal in Folge die Fußballweltmeisterschaft an Russland vergeben hat, interessiert niemanden.

Ich bin bei Satz zwei des Tages angekommen, als Assange mich wieder heimsucht.
„Lindberg, guck dir mal die Zeitungen an. Überall ist mein Bild zu sehen.“
„Julian, stör mich nicht jedesmal, wenn ich meinem Beruf nachgehe.“
„Aber Lindberg, nun guck dir doch die Zeitungen an und schalt mal den Fernseher ein.“
„Um dich zu sehen, brauche ich keine Zeitung, du stehst ja vor mir.“

Es wird nicht besser in den nächsten Tagen. Ich schaffe nicht mal eine Seite. So werde ich nie fertig. Es führt kein Weg daran vorbei: Ich muss Julian loswerden und zwar so schnell möglich. Wie gut, dass ich so schlau bin. Mit einer alten Schreibmaschine hacke ich ein paar Sätze auf ein Blatt Papier, dann stecke ich sie in einen Umschlag und werfe sie in Assanges Briefkasten. Beruhigt schlafe ich ein. Es ist auch ein Lächeln auf meinen Lippen.

Als ich am nächsten Tag zum Kiosk gehe, haben alle Zeitungen dieselbe Schlagzeile. „Wikileaks enthüllt – Julian Assange klaut kleinen Kindern die Lutscher.“ Schon zwei Tage später bezieht ein neuer Nachbar das Haus neben mir.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
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