Twitter? Es geht noch schlimmer

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Ich halte tatsächlich ein Plädoyer für Twitter. In dem vereinfache ich die Wirklichkeit und attackiere den Qualitätsjournalismus. Außerdem verrate ich nicht, was ich auf meine Pizza lege.

Ich habe etwas entdeckt, das noch schlimmer ist als Twitter. Es heißt Journalismus.

Am vergangenen Donnerstag stieg Barack Obama in Dresden aus seinem Flugzeug, legte sich schlafen, sprach am nächsten Tag mit Angela Merkel, hörte sich einen Chor in der Frauenkirche an, flog nach Weimar, besichtigte das KZ Buchenwald, flog nach Landshut zu einem amerikanischen Militärkrankenhaus und dann weiter nach Frankreich.

Die meisten dieser Handlungen sind völlig uninteressant. Barack Obama überquerte nicht zu Fuß die Elbe. Er ließ auch nicht fünf Brote und zwei Fische an die Dresdener verteilen, und alle wurden satt. Trotzdem berichtete das Fernsehen darüber. Weil es eben Barack Obama war.

Ich setzte mich an diesem Tag vor den Fernseher. Ein ZDF-Mensch analysierte: „Als Obama die Frauenkirche und Dresden verließ, gingen auch die Schaulustigen.“ Auf n-tv wartete der Reporter vor dem KZ auf den Präsidentenhubschrauber. Er sagte: „Mir fehlen zwei Informationen: Wie lange braucht ein Hubschrauber von Dresden nach Weimar? Und wann ist Obama in Dresden losgeflogen? Lange wird es aber nicht mehr dauern.“ Der ARD-Kommentator sagte: „Es gab ja im KZ nur diesen einen Eingang.“ Danach fragte er den Experten: „Wie musste man sich die Zustände im Lager vorstellen?“

Ich habe in den vergangenen Wochen sehr häufig gelesen und gehört, dass Twitter der größte Blödsinn seit der Erfindung des Internets ist. Als Obama Deutschland besuchte, twitterte aber niemand: „Wie lange braucht ein Hubschrauber von Dresden nach Weimar?“ Oder: „Es gab ja im KZ nur diesen einen Eingang.“ Stattdessen schrieb jemand: „Berghöhen, Zahlen, Anekdötchen - kommentiert Phoenix einen KZ-Besuch oder die Tour de France?“

Ich weiß, Menschen schreiben auf Twitter, dass sie ihre Pizza mit Salami belegt haben und dass die Katze der Nachbarin Haarausfall hat – aber Twitter hat das Banale nicht erfunden, das Banale hat in Twitter nur einen weiteren Kanal gefunden. Neben Zeitung, Radio, Fernsehen, Internetseiten.

Es gibt aber zwei Unterschiede. Twitter begrenzt das Banale auf 140 Zeichen pro Eintrag. Noch wichtiger: Twitter kann das Banale überwinden, die anderen Kanäle nicht. Und zwar deshalb:

Ein n-tv-Reporter muss etwas füllen. Sendezeit. Egal wie. Ihm ist klar, dass Sätze wie „Lange wird es nicht mehr dauern“ nichts mit Journalismus zu tun haben. Er hat schließlich eine Ausbildung in Journalismus. Er weiß also, dass das, was er sagt, banal ist. Er ist dazu gezwungen, weil der Sender nicht den Mut hatte zu sagen: „Obama in Deutschland? Na und?“ Für Zeitungen gilt dasselbe. Eine normale Zeitung ist ja nicht viel dünner als die vom 12. September 2001. Keine Zeitung würde ihren Lesern auf Seite 1 schreiben: „Heute ist die Zeitung mal nur halb so umfangreich, es war einfach nicht viel los.“

Nachrichtenseiten im Internet müssen zwar keine vorgegebene Seitenzahl füllen, aber trotzdem viele Artikel veröffentlichen, um die Zahl der Seitenaufrufe zu steigern. An nachrichtenreichen Tagen steht der Beitrag „Oliver Pochers neue Freundin kommt vom Mars“ im mittleren Drittel der Seite, an nachrichtenarmen Tagen ganz oben.

Wer aber etwas twittert, macht das freiwillig, nicht weil er damit irgendwas füllen oder verdienen muss. Er schreibt das, was er für interessant hält, auch wenn es das in sehr vielen, na gut sehr, sehr vielen Fällen nicht ist, manchmal aber eben doch. Wer twittert, muss bloß seinen Drang überwinden zu posten, was auf seiner Pizza liegt, und schon wird Twitter der beste News-Ticker, den ich mir vorstellen kann.

Vor einigen Tagen habe ich einen Film gesehen mit Vampiren. Er war schön. Er hieß „So finster die Nacht.“ Ich twitterte: „Ich habe einen Film gesehen mit Vampiren. Er war schön. Er hieß ‚So finster die Nacht’.“ Am nächsten Tag schrieb mir jemand: „Habe den Film aufgrund deiner Empfehlung gesehen. War toll.“ Ob der n-tv-Reporter jemanden dazu gebracht hat, die Flugdauer von Dresden nach Weimar herauszufinden, weiß ich nicht.

Dieser Text ist Teil meiner Kolumne "About a Boy", die jeden Freitag bei RP Online erscheint. Mehr Folgen gibt es hier.

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