Megatrend – dieses Wort fällt einem bei Matthias Horx als Erstes ein. Er hat es ja sozusagen erfunden. Am Anfang des Gesprächs wirkt er gehetzt, er habe so viel um die Ohren, sagt er, und man spürt sein zwiespältiges Verhältnis zu Journalisten. Seine Antworten sind dann sehr pointiert, und es ist vollkommen klar: Der Mann ist selbst ein Medienprofi.
der Freitag: Herr Horx, als Zukunftsforscher kennen Sie sicher Ihr Jahreshoroskop für 2016?
Matthias Horx: Ich habe mal im Nebenfach Astronomie studiert und kenne mich mit den kosmischen Dimensionen aus. Aber Astrologie ist nicht mein Ding. Sie ist schlichtweg Unterhaltung auf einfachem Niveau.
Warum wollen Menschen wissen, was morgen passiert?
Was wären das für Menschen, die nicht nach ihrer Zukunft fragten? Das ist gewissermaßen der Kern des Humanen. Wir sind die einzigen Wesen, die sich das Kommende vorstellen können, über die bloßen Instinkte hinaus.
Hängt der Wunsch auch mit Angst zusammen?
Es ist der Wunsch der Menschen, sich von eigenen Entscheidungen zu entlasten, und der Wunsch nach weniger Komplexität. Die Idee von „höheren Mächten“ gaukelt uns ein Schicksal vor, das wir nicht ändern können. Dabei sind wir für unsere Zukunft zu einem erheblichen Teil selbst verantwortlich.
Wie kann man dann die Zukunft verlässlich beschreiben?
Da haben wir jetzt das Problem, dass ich Ihnen das gern erzählen möchte, dass Sie das aber vermutlich gar nicht hören wollen.
Weil es komplex ist?
Ja. Die „systemische Prognostik“, wie wir das nennen, ist eine Disziplin, die sich aus verschiedenen Systemwissenschaften zusammensetzt, etwa Spieltheorie, Evolutionstheorie, Systemtheorie, Probabilistik, also die Wahrscheinlichkeitswissenschaft selbst – und dann auch die Kognitionspsychologie. Wollen Sie mehr über die einzelnen Wissenschaften wissen? Zum Beispiel wie man mit stochastischen Formeln den Verlauf von Konflikten voraussagen kann?
Vielleicht, was man damit nicht voraussagen kann.
Börsenkurse beispielsweise sind immer auch von irrationalen Erwartungen getragen. Wetter ist kaum für mehr als sieben Tage prognostizierbar – das Klima hingegen lässt sich vorhersagen. Gut voraussagen lässt sich der Erfolg von Technologien, und am besten voraussagen lässt sich die Dauer von Ehen.
Quer einsteigen, links aussteigen
Mit 25 Jahren wirft Matthias Horx sein Soziologiestudium hin und schreibt stattdessen Science-Fiction-Romane sowie Artikel für das Frankfurter Szeneblatt Pflasterstrand, das Magazin Tempo und für die Zeit. Er zeichnet auch gelegentlich Comics. 1993 gründet er gemeinsam mit Thomas Wippermann das Trendbüro Hamburg. Sie beraten große Konzerne wie Unilever, deren Marketingabteilungen gut für die Studien der beiden Forscher zahlen. Die Zusammenarbeit zwischen Horx und Wippermann endet fünf Jahre später. Horx steigt aus und gründet in Frankfurt am Main sein eigenes „Zukunftsinstitut“, inzwischen mit Filialen in München und Wien.
Von Anfang an begleitet Horx die Kritik an seiner Arbeit, die vor allem die etablierte naturwissenschaftliche Forschung immer wieder für unseriös hält. Zuletzt, Mitte 2015, kritisiert ihn das Fachmagazin Bild der Wissenschaft scharf. Vor allem Horx’ unkonventionelle Methoden, Trendscouts auf Studentenpartys zu schicken, zum Beispiel, sind umstritten. Zur Jahrtausendwende dis-tanziert sich Horx öffentlich von der Linken, von Globalisierungskritikern und Zukunftspessimisten. Damit bricht er auch mit einem Teil seiner eigenen Geschichte in der alternativen Frankfurter Szene. Seitdem gilt er als Kulturoptimist. Horx schreibt Bücher wie Smart Capitalism: Das Ende der Ausbeutung (2001), Wie wir leben werden (2010) oder den Zukunftsreport 2016 und ist als Vortragsreisender unterwegs.
Der 60-Jährige ist mit der englischen Journalistin Oona Strathern verheiratet, Vater von zwei Söhnen und lebt in Deutschland und Großbritannien.
Wie funktioniert das denn?
Wie Menschen unter bestimmten Bedingungen agieren, wissen wir aus der Verhaltenspsychologie. Zudem gibt es heute viele soziale Forschungen, die mit Big Data arbeiten, also mit sehr großen Datenmengen. Aus beidem kann man immer besser extrapolie-ren. Aber nicht immer wollen die Leute die Antwort hören.
Weil es ums Scheitern geht?
Es gibt etwas, das die Kognitionspsychologie confirmation bias nennt – die Bestätigungs- oder Wahrnehmungsverzerrung. Es gibt ja im Grunde zwei große Zukunftserzählungen. Die eine handelt von den tollen neuen Apps und Gadgets und fliegenden Autos, die unser Leben „radikal verbessern“ werden. Die andere handelt von der Dystopie, vom Untergang. Und die meisten Menschen glauben entweder an das eine oder das andere. Aber die Zukunft ist eben nicht schwarz oder weiß.
Sie konnten auch die steigende Geburtenrate vorhersagen.
Die Geburtenrate eines Landes hängt von dynamischen Faktoren wie Bildungssystem, Arbeitsorganisation, Wertewandel, politischen Reformen ab. Dort, wo man die Arbeitswelt für andere Lebenszeitentwürfe öffnet, steigen die Geburtenraten wieder an, weil Frauen sich dann nicht mehr zwischen Heim und Beruf entscheiden müssen. So war es in Frankreich, in Skandinavien. Diese Veränderungen kann man messen, aber wir Deutschen wollen meist nur das sehen, was nicht gelingt.
Ach ja? Und warum?
Das deutsche Hirn ist besonders von Angst geprägt. Das hat auch mit der deutschen Geschichte zu tun, die ja tatsächlich einen tiefen Zivilisationsbruch aufweist. In einer Art „vorauseilender Angst“ entwickeln wir uns hin zu einer Art Hysteriekultur. Das ist gefährlich. Man denke an die falschen Beschuldigungen, die immer wieder in Kitas auftauchen, wo es angeblich Missbrauch gab, und dann war eigentlich gar nichts. Oder die vielen Falschmeldungen über kriminelle Ausländer, die dann zu Übergriffen führen. Deshalb versuchen wir systemischen Zukunftsforscher, die Welt als ein komplexes System mit vielen überraschenden Entwicklungen und Gegentrends zu beschreiben – so komplex, wie sie wirklich ist.
Dabei heißt es, den Deutschen geht es ganz gut gerade.
Ja, aber gerade kam eine Meldung, dass die Ängste der Deutschen sich im letzten Jahr beinahe verdoppelt haben. Gleichzeitig zeigt der Zufriedenheits- und Glücksindex, dass die Deutschen noch nie so zufrieden waren wie heute. Das klingt paradox. Wir nennen einen Geisteszustand, in dem man sich wahnsinnig fürchtet und sich gleichzeitig wohlfühlt, „apokalyptisches Spießertum“.
Aber das gab es doch schon in den 80er Jahren.
In den 80ern haben die Deutschen noch gnadenlos an Fortschritt und Wohlstand geglaubt. Jede Erwähnung von Umweltproblemen oder Kriegsgefahr wurde eher vom Tisch gewischt. Heute glauben viele in der unteren Mittelschicht, es gebe Meldepflicht für die eigenen Ängste und mit Angst ließen sich Verschwörungstheorien begründen. Jedes Phänomen wird von den Medien zum Weltuntergang gemacht, die „kleinen Leute“ machen daraus eine eigene Empörungs- und Wutkultur.
Sind Sie mit Ihrem Institut nicht die Antwort darauf? Bei Ihnen ist Zukunft meist positiv.
Ich habe einfach schon zu viele Weltuntergänge kommen und gehen gesehen. Aber es geht um eine andere Form des nüchternen, rationalen Optimismus, im Sinne von Karl Popper, der ja von einer Pflicht zum Optimismus im Sinne kreativen Denkens gesprochen hat. Die meisten heutigen Zukunftsforscher sind entweder Weltuntergangspropheten oder, vor allem im angelsächsischen Raum, grenzenlos technikgläubig.
Und Sie?
Ich bin ein europäischer Skeptiker, der aber auch dem ewig Negativen gegenüber kritisch ist. Milan Kundera hat mal gesagt: „Ich bin Skeptiker, wie kann ich Pessimist sein?“
Die Arbeitswelt wird immer mehr mechanisiert, Menschen werden durch Roboter ersetzt. Was hat das für Folgen?
Ich kann mich nicht erinnern, wann in der Geschichte der letzten 150 Jahre nicht die kommende Massenarbeitslosigkeit vorausgesagt worden ist. Nur stimmt das lineare Modell nicht, mit dem man das begründet. Jeder Effizienzsprung setzt immer neue Nachfragen in Gang, nach immer komplexeren Dienstleistungen. In der Roboterfabrik braucht man hoch qualifizierte Leute, vom Service über die Systemsteuerung bis zur Sicherheit. Und in vielen Sektoren gibt es den gegenteiligen Effekt. In der Landwirtschaft zum Beispiel wird die Anzahl der Beschäftigten wieder steigen, es gibt dort eine Tendenz zur Handarbeit.
Sie meinen Slow Food und Bio?
Ja, und in großen Städten gibt es heute lauter Yogalehrer, die ganze Wellnessindustrie ist riesig geworden. Allerdings ändern sich die Arbeitsformen immer mehr – weg vom lebenslangen, männlichen Arbeitsplatz zu vielschichtigen Tätigkeiten.
Hysterie wird ja oft den Medien vorgeworfen.
Richtig, es ist so, dass die einzelnen Positionen extrem aufgebauscht werden, weil nur Zuspitzungen, Vereinfachungen, Skandale verkaufbar sind. Deshalb gibt es eine Tendenz zur Übertreibung, zur Verzerrung, zum Negativismus. Aber es gibt auch Gegenreaktionen. Der Chef des dänischen Fernsehens, Ulrich Hagerupp, hat den Begriff des constructive journalism ins Spiel gebracht. Im dänischen Fernsehen versucht er neue Formen der Partizipation. Statt der typischen Talkshowfrage „Wen können wir beschimpfen und schuldig sprechen?“ fragt er „Was sind eure Vorschläge für die Zukunft?“ Ein Experiment mit Erleuchtungscharakter, denn das Denken verändert sich sofort, wenn man die Fragen anders stellt.
Die sozialen Medien stehen in der Kritik, weil sie Plattform für Hassbotschaften sein können.
Ich fürchte, wir werden mit der Erkenntnis leben müssen, dass es in unserem Land völlig unintegrierbare Kulturgruppen gibt. Menschen, die die Vorstellung einer pluralen, toleranten, offenen Gesellschaft ablehnen. Und die das Netz zur Hasspropaganda nutzen, wie auch der IS. Das Internet hat uns eben nicht die Erlösung von allen Nöten gebracht, sondern auch Cybermobbing, Shitstorm und viel Meinungsmüll.
Was folgt daraus?
Es wird einen digital backlash geben, einen Offline-Trend: Die Leute nabeln sich ab von der digitalen Krake, das Analoge wird wieder faszinierend. Danach beginnt der Omline-Trend, wie wir das nennen. Das ist, wie das Meditationswort Om, eine Art human-digitales Gleichgewicht auf einer höheren spirituellen Stufe.
Und wie soll das aussehen?
Wir lernen schlichtweg die notwendigen Kulturtechniken für das digitale Zeitalter, wie wir ja auch die Verkehrsregeln und die Beziehungsemanzipation gelernt haben: Nutze das Internet, um dich konzentriert zu verbinden, aber lass dich nicht stören von oberflächlichen Botschaften, nicht verführen von digitaler Eitelkeit und nicht beeinflussen von Hass und Spam.
Wird sich die Tendenz zum Nationalismus verstärken?
Der Nationalismus ist ja eine Gegenbewegung gegen die allgegenwärtige Globalisierung. Daraus wird sich früher oder später eine neue Synthese entwickeln, die wir „Glokalismus“ nennen, eine Verbindung von Lokalität und Globalität, die die natürliche Heimatsuche, die jeder Mensch hat, mit der großen weiten Welt verbindet. Damit ließe sich auch der unselige Nationalismus auflösen. Hegel lässt grüßen. Ein weiteres Beispiel ist die Renaissance des Wir-Prinzips, gemeint sind Phänomene wie Co-Working, Carsharing oder die neuen Genossenschaftssiedlungsmodelle.
Wie oft lagen Sie eigentlich falsch?
Ich kann nur sagen: Wir haben das Internet am Anfang unterschätzt, dann eher überschätzt, heute haben wir es verstanden. Ansonsten kann ich mich an keinen größeren Flop erinnern. Aber ich unter-liege da wahrscheinlich auch einer confirmation bias.
Was ist Ihre Meinung?
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