Plötzlich kippt der Polizist aus Nordrhein-Westfalen über ein Absperrgitter, kopfüber stürzt er in Richtung Bordstein – und kann sich erst halten, als sein Helm schon fast den Boden berührt. Er wollte über das Gitter klettern, hat das Gleichgewicht verloren.
Kollegen stützen ihn, helfen ihm auf die Beine. Den Autonomen bleibt dieser kurze Moment des polizeilichen Niedergangs verborgen, eine Kette aus Beamtïnnen nimmt ihnen die Sicht, zudem ist es vor sieben Uhr am Morgen, also noch recht dunkel; nur ein paar Journalisten stehen hier im abgesperrten Medienbereich recht verdutzt um den Polizisten, dessen Fast-Sturz kein Sinnbild für den Verlauf dieses Freitags in Berlin-Friedrichshain sein wird, vielmehr ein Gegenbild zu diesem. Denn glatter hätte die Räumung des anarcha-queer-feministischen Hausprojekts Liebig 34 für Polizei und Senat wohl kaum laufen können. „Die Anzahl der Personen im Nahbereich der Kreuzung Liebigstraße/Rigaer Straße wurde in der Spitze am Vormittag auf über 1.000 geschätzt“, wird die Polizei hernach mitteilen, und fast könnte man meinen, sie habe es gut gemeint mit den gegen die Räumung Protestierenden und die Teilnehmerïnnenzahl ausnahmsweise auf- statt abgerundet.
Jeweils ein paar Hundert stehen an zwei Ecken der abgeschirmten Kreuzung, skandieren „Nazi-Bullen raus aus der Liebig“, „Alle zusammen gegen diese Räumung“, der Spiel-mir-das-Lied-vom-Tod-Sound erklingt, ab und an fliegt eine Flasche in Richtung der Polizei, ab und an greifen kleine Trupps von Beamten Einzelne aus der Menge, führen sie ab. 2.100 Polizistïnnen aus verschiedenen Bundesländern sind hier im Einsatz, um „Amtshilfe für den zuständigen Gerichtsvollzieher“ zu leisten, bis um 17 Uhr 98 Menschen die Freiheit zu entziehen oder sie zu beschränken, und schon von Mittag an vor dem Hausprojekt, nunmehr dem Rechtsanwalt des Eigentümers übergeben, Selfies zu schießen. Später werden Sprecher der Polizei Journalisten durch das Haus führen, damit diese den Wohnort von 57 gerade erst über eine Drehleiter aus dem ersten Stock entfernten Menschen live im Internet präsentieren, die Polizeisprecher werden ihnen Barrikaden aus Möbeln und Einkaufswagen sowie zugemauerte Durchgänge vorführen; sie werden mehrmalige Fragen, ob denn nun diese Eisenfalltür eine lebensgefährliche Falle sei, klar verneinen. Noch später werden dieselben Journalisten in der Berliner Zeitung dennoch schreiben: „Eine zentnerschwere Eisentür war zu einer lebensgefährlichen Falltür umfunktioniert worden.“
Tags zuvor hatte die Berliner Zeitung noch das wohl erhellendste Stück zur Vorgeschichte dieser Räumung publiziert, ein Interview mit dem Stadtsoziologen Andrej Holm. Der erinnerte an die Praxis des Schwarzwohnens in der DDR, der eigenständigen Belegung leerer Wohnungen, in deren Folge es 1990 zu 130 Hausbesetzungen in Ostberlin gekommen war, etwa in der Mainzer Straße, nahe der Liebig, wo eine Räumung mithilfe westdeutscher Spezialkräfte im November 1990 vollends eskalierte. Was die damalige rot-grüne Stadtregierung zerbrechen und bald im Sinne der Deeskalation eine Welle von etwa 100 Legalisierungen besetzter Häuser folgen lassen sollte. Doch, so Holm: „Die meisten Altbauten sind nach den Restitutionsgesetzen des Einigungsvertrages an Erben der Alteigentümer zurückgegeben und danach oft mehrfach verkauft worden. Viele legalisierte Hausprojekte hatten plötzlich keinen Vertragspartner mehr, der in der Bringschuld war, die Vereinbarungen von 1990 einzuhalten.“ In jenen hätten dann manche neuen Eigentümer juristische Lücken gefunden, „um ihre wirtschaftlichen Interessen durchzusetzen“ – so der Eigentümer der Liebig 34, der Spekulant Gijora Padovicz, dem zahlreiche Häuser in Friedrichshain und anderen Teilen Berlins gehören. Heute fühlten sich Senat und Bezirke nicht mehr an jene Vereinbarung von 1990 gebunden und würden, so Holm, „das eigene politische Versagen hinter der juristischen Eigendynamik eines Räumungsurteils“ verstecken. Dessen Zielscheibe sind die letzten Enkelinnen der Besetzungen von vor 30 Jahren.
An jenem Mittwochmorgen lassen sich an der von Scheinwerfern beleuchteten Kreuzung zwar Canan Bayram, die hiesige Bundestagsabgeordnete der Grünen, und einige Linke aus dem Berliner Abgeordnetenhaus blicken. Tatsächlich aber begleitet ein dröhnendes Schweigen aus den ersten Reihen der rot-rot-grünen Koalition die sich zum Polizeifest entwickelnde Räumung. Ein paar Meter weiter, an einer Absperrung, ist der Karton mit Flyern der Initiative „Zwangsräumung verhindern“ fast leer; erklärt wird in einfacher Sprache, was Mieterinnen und Mieter mit der Liebig 34 zu tun haben: „Egal ob Wohnungen, Arbeit, Gesundheit, Bildung, Kultur. Im Kapitalismus muss aus allem immer mehr Geld rausgepresst werden. Wenn damit kein Profit gemacht werden kann, dann wird’s nicht gemacht. Die Regierung sorgt dafür, dass das so bleibt. Wenn das mal nicht reibungslos läuft, schicken sie die Polizei. So wie heute. Das ist auch bei Rot-Rot-Grün so.“
Dabei sei die Räumung glasklar rechtswidrig, erklärt der Bewohnerïnnen-Anwalt immer wieder in Mikrofone und Kameras. Der Räumungsbescheid richte sich gegen die Mitglieder eines Vereins, dessen Mitglieder längst nicht mehr im Haus lebten, ein anderer Verein sei eigentlicher Nutzer. Während die Polizei Trennschleifer, Motorsägen, Hub- und Zugwerkzeuge herankarrt, richten zwei Fotografen ihre Linsen auf das bunt bemalte Haus. „Mal sehen, wen sie da reinschicken, ’ne kleine blonde Politesse vielleicht“, sagt der eine. „Los, 200 Mann rin da“, ruft der andere.
Stahlkugeln auf Fenster
Sexismus – das war eines der Themen, die den Abgang Frank Henkels als Chef der Berliner CDU 2016 begleiteten. Doch der hatte nicht nur eine Parteikollegin „kleine süße Maus“ genannt und einen Parteifreund gefragt: „Fickst du die?“ Für Henkel, Innensenator von 2011 bis 2016, waren die queer-feministische Liebig 34 wie die benachbarte, noch besetzte Rigaer 94 stets Häuser, anhand derer er sich als harter Mann zu profilieren versuchte, den ganzen Kiez zum Gefahrengebiet erklärte und dessen Anwohner mit ständiger, überbordender Polizeipräsenz drangsalierte. Infolgedessen nahm die Abschottung des Hausprojektes zu, Gewaltakte aus dem Kreise von dessen Sympathisantïnnen häuften sich, vor allem aber intensivierte sich der Zuzug von zahlungskräftigem Klientel in den hiesigen Kiez, oft als Eigentümerïnnen statt als Mieterïnnen.
So stoppt, während die Polizei nach und nach die Liebig 34 leert, ein Demonstrant sein Rad einige hundert Meter die Rigaer Straße hinauf vor einem riesigen, schicken Neubau, spricht einen davorstehenden Mann an, „du bist doch hier Hausmeister, ich kenne dich aus den Medien“, beschwert sich über mangelnde Solidarität mit den angestammten Besetzerïnnen und die in den Medien lancierten Beschwerden über die Autonomen. Er sei nicht für diese Räumung, entgegnet der Hausmeister, sei sogar bei diversen Plenen gewesen, aber wenn Stahlkugeln gegen Kinderzimmerfenster flögen, dann sei seine Geduld am Ende. Ebenfalls mit der Geduld am Ende dürften Fahrgäste der Berliner S-Bahn gewesen sein, die sich vom Montag vor der Räumung an dicht in Ersatzbusse drängen mussten, nachdem ein gelegter Kabelbrand inklusive Bekennerschreiben zum Widerstand in Sachen Liebig 34 Teile der Ringbahn lahmgelegt hatte.
Enteignen statt besetzen
Autonomen ist es selten darum gegangen, Sympathien in bürgerlichen Milieus zu gewinnen. In der Nacht auf vergangenen Sonnabend sind sie noch mal mit knapp 2.000 Leuten durch ehemalige, geräumte oder auch legalisierte, Hausbesetzerïnnen-Habitate gezogen, eine Karte auf der Seite berlin-besetzt.de erzählt die Geschichten, Linienstraße, Alte Schönhauser Straße, Schönhauser Allee; im glattsanierten Mitte rund um den Hackeschen Markt zeugen noch jetzt, Tage später, einige demolierte Modeläden-Schaufenster von der Abschiedsdemo. In Friedrichshain stehen derweil verkeilte Möbel und Absperrgitter vor der Liebig 34, jemand hat Rosen hinterlassen. Von Montagnacht kursiert ein Video, in dem mutmaßlich private Sicherheitsleute auf Sympathisanten der Liebig 34 mit Spaten und Stangen losgehen.
Der Kampf um das Recht auf Wohnen und Freiräume jedoch hat sich vielleicht einfach verlagert. Die Initiative für das Volksbegehren „Deutsche Wohnen & Co. enteignen!“ erklärte der Senat jüngst, nach 441 Tagen Hinhaltetaktik, für zulässig.
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