Die Stirn in Falten

Wahl Stralsund, Greifswald, Anklam: Die AfD steht in Mecklenburg-Vorpommern vor einem weiteren Erfolg
Ausgabe 35/2016

Für den Dorsch hat die AfD auch nicht wirklich eine Lösung. „Ja, was sollen unsere Fischer denn noch fangen, Frösche im Teich?“, empört sich Ralf Borschke, Direktkandidat der Partei im Wahlkreis westlich von Stralsund. In einer Kneipe am Hafen der Hansestadt sitzt er jetzt vor einer Tasse Kaffee und redet über das Thema, das ihm die EU kurz vor Mecklenburg-Vorpommerns Landtagswahl am kommenden Sonntag geschenkt hat: Um bis zu 87,5 Prozent soll die Dorschfangquote für die Ostsee 2017 sinken, „das Ende der Küstenfischerei“, sagt Borschke, Jahrgang 1958. Er ist gelernter Rohrschlosser und arbeitete bei der hiesigen Volkswerft, dann von 1980 bis 1990 beim VEB Fischwirtschaft. 1990 machte er sich mit einer Veranstaltungsagentur selbstständig, begann nebenher ein Studium der Malerei und Grafik. Heute gibt er Zeichenkurse in einem Seniorenheim.

Wenn nun also bald die AfD die stärkste Fraktion im Schweriner Landtag stellen sollte, wovon Borschke ebenso ausgeht wie vom Gewinn seines Direktmandats, wenn sie dann eine Regierung führen würde, was würde sie für die Dorschfischer tun? Noch drei andere Wissenschaftsinstitute mit Untersuchungen beauftragen, sagt Borschke, und nicht nur den Internationalen Rat für Meeresforschung, demzufolge 2015 fast der komplette Dorschnachwuchs ausgefallen ist. „Fremdbestimmung“ der Fischer ohne Grundlage sei das, Borschke kommt jetzt auf die Grünen, die er ebenso verachtet wie Angela Merkel.

Neben ihm sitzt Bernhard Wildt, Kandidat der AfD auf Rügen, er fragt lächelnd: „Kennen Sie den größten Fischereihafen Deutschlands? Flughafen Frankfurt!“ Die Grünen als Lobbyverein für billigen Pangasius aus Asien, und für die „Verspargelung“ des Nordostens mit Windrädern ohnehin, so sehen es Borschke und Wildt.

Dabei hatte Letzterer in einem Interview mit der Ostseezeitung gerade kritisiert, die Wirtschaftspolitik auf Rügen sei viel zu sehr auf Tourismus ausgerichtet und „da sind wir ja nicht so weit von den Grünen entfernt“. Wildt, 49, war früher Manager bei ThyssenKrupp in Nordrhein-Westfalen, heute betreibt er mit seiner Frau ein Gästehaus auf Rügen. Bis in den Oktober ist es ausgebucht, Weihnachten und Silvester ebenso.

Wildt redet trotzdem viel über die „Monokultur Tourismus“. Flüchtlinge? Klar, auch ein Thema, Grenzkontrollen, Frauenrechte, aber über den Islam würden eher die Touristen aus dem Westen schimpfen. Björn Höckes Rede in Neubrandenburg neulich, „asylpolitischer Amoklauf“, „Kanzlerdiktatorin“? Ach, da seien doch nur 100 Leute gewesen, und man wolle den Wählern hier eben ein breites Spektrum anbieten. Wildt sagt, ihm ginge es eher um das Kapital, das wegen der weltweiten Krisen Sicherheit auf Rügen suche, man müsse ja nur nach Prora blicken: Auf dem Gelände des einst von den Nazis genutzten Komplexes bei Binz dürfen private Investoren Eigentumswohnungen und ein Hotel bauen.

Prora – das ist auch das Thema von André Brie, Kandidat der Linken auf Rügen. Zuletzt hat der frühere Europaabgeordnete und Wahlkampfstratege der Linken dort Großplakate aufgehängt, am bisher unsanierten Block 5. Sozialwohnungen und ein Gedenkort für die Zwangsarbeiter, das sind seine Forderungen. Jetzt aber steht Brie, die Stirn in Falten, auf dem Alten Markt in Stralsund und empfängt den angereisten Parteichef Bernd Riexinger zum Wahlkampf. „Wie läufts?“, fragt Riexinger. Brie antwortet: „Scheiße.“

Auftritt Ready Teddies

13 Prozent sagt die jüngste Umfrage den Linken für den 4. September voraus, ein Minus von mehr als fünf Prozentpunkten gegenüber 2011. Größer sind die prognostizierten Verluste nur bei der SPD. Mit 28 Prozent würde die immerhin wieder stärkste Partei, und Erwin Sellering bliebe Ministerpräsident. Mit wem aber wird er regieren? Von Rot-Schwarz haben nach zehn Jahren die meisten an der Basis beider Parteien die Nase voll. Die AfD liegt mit 21 Prozent einen Punkt hinter der CDU. Rot-Rot-Grün, Rot-Schwarz-Grün, auch in Mecklenburg-Vorpommern ist inzwischen vieles möglich. Oder zwangsläufig nötig.

In Stralsund hat die Linke an einem heißen Mittag ihren „Showtruck“ geparkt, ein rotes Zugfahrzeug mit einer mobilen Bühne als Hänger, der Einsatz soll ein Testlauf für den Bundestagswahlkampf 2017 sein. Die Band Ready Teddies eröffnet das Programm, sie spielt Stand By Me, und im Café gegenüber fragt eine Touristin die Kellnerin: „Wann ist denn hier Wahl?“ – „Keine Ahnung“, antwortet die Kellnerin, „die machen doch eh alle, was sie wollen.“ Nur 51,5 Prozent machten 2011 von ihrem Stimmrecht Gebrauch. „Dieses Mal werden es wohl etwas mehr“, sagt Brie, lächelt gequält und weiß: Das liegt an der AfD.

„Wenn wir in Stralsund auf den Marktplatz gehen und Gysi ist angekündigt, dann kommen die Leute“, hatte er im April im Interview mit dem Freitag gesagt. An diesem Tag Ende August kommen die Menschen nicht. Auf der Bühne stellen sich die Direktkandidaten vor, davor sammeln sich über drei Stunden hinweg höchstens 30 Menschen, die meisten sind Linken-Wahlkampfhelfer. Es ist ein einziges Trauerspiel, das Gregor Gysis Abwesenheit nur bedingt erklärt. Brie war tags zuvor bei der Volkssolidarität auf Rügen, Wahlkampf: „Es ging fast nur um Flüchtlinge und die teuren Autos, die die angeblich fahren. Mit ein paar anderen habe ich dagegen argumentiert. Aber wir hatten keine Chance.“

Der frühere Europaabgeordnete attestiert seiner Partei einen vollkommenen Mangel an Kreativität, wenn es darum geht, Arbeitslose, Arme und Abgehängte zu erreichen. Aktionen zivilen Ungehorsams fordert er, wie seine Kampagne in Prora, die unangemeldet war. Inhaltsleer und erratisch seien dagegen die Wahlplakate des Landesverbands. Dessen Delegierte haben Brie auf den aussichtslosen Platz 26 der Landesliste gesetzt.

Man könnte den 66-Jährigen als Besserwisser, der nicht ablassen kann, sehen – wäre der Zustand der Linken hier nicht so miserabel wie der Zuspruch auf dem Markt in Stralsund. „Vielleicht müssen wir erst wieder um fünf Prozent kämpfen“, sagt Brie. Wenigstens habe die Partei nun diesen Spruch auf Postkarten drucken lassen: „Ihnen einen schönen Urlaub. Der Kellnerin einen guten Lohn!“ Brie hatte 2011 ein Großtransparent mit diesen Worten auf dem Rügendamm anbringen lassen.

Mecklenburg-Vorpommern hat gerade das touristisch beste Halbjahr aller Zeiten hinter sich, Platz eins bei den Übernachtungen, vor Bayern. Die Bruttostundenlöhne der Branche aber liegen hier 30 Prozent unter dem bundesdeutschen Durchschnitt.

Im Zug von Stralsund nach Greifswald sagt eine Frau zum Schaffner: „Ich würde gern noch ein Ticket kaufen.“ Darauf der Schaffner: „Was wollen Sie? Eine Fahrkarte wollen Sie. Wir sind hier in Deutschland. Unsere Sprache wird versaut, unsere Kultur wird versaut, alles wird versaut.“

Kein Wunder, könnte man jetzt sagen, dass die NPD in diesem Bundesland von jedem zweiten Laternenmast grüßt. Doch dann ist da im selben Zug der junge Mann mit dem Anti-Nazi-Shirt. Dann sind da die zwei Jungs, die mit einem Eimer voller Kleister durch die Dämmerung eilen und Plakate kleben: „Wir sind noch nicht komplett im Arsch“, steht da, es ist Werbung für die von der Punkband Feine Sahne Fischfilet initiierte Reihe von Konzerten und Lesungen, Motto: „Zusammenhalten gegen den Rechtsruck“.

Der Opfer-Topos

Fast ein Fünftel der 60.000 Greifswalder sind Studierende, den Bürgermeister stellen die Grünen. Auch das ist Mecklenburg-Vorpommern. Und doch muss Ulrike Bergers Partei um den Wiedereinzug in den Landtag fürchten. Die Nummer drei der grünen Landesliste sitzt im Hof des Literaturcafés, im Hintergrund läuft Jazz. Berger, 37, bestellt ein Bier und rauft sich ihre Locken; gerade sind die neuen Umfragewerte eingetrudelt: Auf fünf Prozent ist ihre Partei abgesunken. Ähnlich wie in Rheinland-Pfalz droht sie vom Lagerwahlkampf der SPD zerdrückt zu werden. „Ich habe den Eindruck, je mehr man macht, desto tiefer sinkt man“, sagt Bergers Mitarbeiter, der mit am Tisch sitzt.

Ulrike Berger ist in Wolgast geboren, seit 2011 sitzt sie mit sechs anderen Grünen im Landtag. Sie kann schnell und schlüssig argumentieren, warum die Schließung von Schulen, Gerichten, Theatern und Ämtern auf dem Land kontraproduktiv ist, warum es falsch ist, den demografischen Wandel wie Rot-Schwarz als gegeben hinzunehmen. Dass man den Wandel vielmehr gestalten müsse, eben mit Investitionen in den ländlichen Raum. Neulich, bei einer Podiumsdiskussion auf Usedom, wo wieder nur alle über Flüchtlinge reden wollten, sei sie damit dann sogar ein wenig durchgedrungen. „Der Rückbau auf dem Land ist es, was die Leute hier frustriert.“ Sie brennt darauf, dagegen etwas zu tun, und die Koalitionskonstellation ist sekundär. Sie zieht die Antwort der Landesregierung auf eine Kleine Anfrage ihrer Fraktion hervor, die dokumentiert, wie die Minister gerade, kurz vor der Wahl, über das Land ziehen und Fördermittelbescheide persönlich übergeben. Es ist genau das Thema, mit dem die AfD hier noch bei jeder Veranstaltung punktet. In Stralsund hatte besonders Ralf Borschke über die Schecks in Wahlkampfzeiten geschimpft.

Mit dem Zug ist es eine halbe Stunde von Greifswald nach Anklam, die Stadt ist eine bundesweite Chiffre für die Zeit seit 1990 im Nordosten: die rapide auf 13.500 gesunkene Einwohnerzahl, die zuletzt leicht gefallene, aber immer noch bei etwa 13 Prozent liegende Arbeitslosenquote. Doch Eric Wallis, der hier das Regionalzentrum für demokratische Kultur leitet, ist euphorisch. In seinem Büro steht er vor einer Karte seines Zuständigkeitsbereichs, des flächenmäßig drittgrößten Landkreises Deutschlands. Sein Zeigefinger tippt auf einen Ort nach dem anderen, Neuenkirchen, Tutow, Gützkow, Bargischow, Usedom, Ueckermünde – überall hier haben sich seit der Ankunft vieler Flüchtlinge Willkommensinitiativen gebildet. „So viele zivilgesellschaftliche Gründungen haben wir hier in zehn Jahren nicht gesehen“, sagt Wallis. Sein Regionalzentrum hat mit dem Landkreis ein Integrationskonzept erarbeitet, in einem Dutzend Arbeitsgruppen treffen sich seitdem Vereinsvorsitzende, Flüchtlinge, Polizisten, engagierte Rentner und Busfahrer, die über schwarzfahrende Flüchtlinge klagen. Als erster Flächenlandkreis in Mecklenburg-Vorpommern habe man so etwas auf die Beine gestellt, sagt Wallis, und selber nicht gedacht, dass es so gut und kontinuierlich laufen würde. „Asylchaos stoppen“, hat die AfD nahe von Wallis’ Büro plakatiert. „Für die tut ihr alles, für uns tut ihr nichts?“, hat er das schon zu hören bekommen? Wallis winkt ab, „darum machen wir das ja, um diesem Opfer-Topos etwas entgegenzusetzen“. „Die da oben“, das sei pure Entmündigung, also „müssen wir uns mit Problemen befassen und Lösungen finden“.

Draußen dreht ein Auto mit Anhänger und 15 Meter langem AfD-Banner seine Runden durch Anklam, Frauke Petry wird am Abend vor rund 250 Leuten sprechen. Anklams Bürgermeister hatte lange so dilettantisch wie erfolglos versucht, die Veranstaltung im stadteigenen Volkshaus zu verhindern.

21 Prozent für die AfD? „Das halten wir aus“, hat Eric Wallis gesagt, „wenn wir uns damit auseinandersetzen, statt es zu ignorieren.“

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Sebastian Puschner

stellvertretender Chefredakteur und Ressortleiter Politik

Sebastian Puschner studierte Politik-, Verwaltungswissenschaften und Philosophie in Potsdam und wurde an der Deutschen Journalistenschule in München zum Redakteur ausgebildet. Bei der taz arbeitete er als Redakteur im Berlin-Ressort. 2014 wechselte Sebastian Puschner zum Freitag, wo er den monatlichen Wirtschaftsteil mit aufbaute. Seit 2017 ist er verantwortlicher Redakteur für Politik, seit 2020 stellvertretender Chefredakteur. Er interessiert sich besonders für Politik und Ökonomie von Hartz IV bis Cum-Ex sowie für Fragen zu Geopolitik, Krieg und Frieden.

Sebastian Puschner

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