Ein Schweigen erzählt oft mehr als tausend Worte. Da sitzen fünf Menschen, alle um die 30 Jahre alt, in einer Bar und senken schweigend den Blick. Fünf Menschen, alle angestellt – fünf Mal Kopfschütteln auf die Frage, wer denn Mitglied einer Gewerkschaft sei. Es liegt ein Hauch von Schuldbewusstsein in der Luft. Und eben Schweigen. „Hm“, sagt dann einer. „Irgendwie nicht attraktiv für junge Menschen“, nuschelt eine andere.
Schon klar: Wenn die Nachfrage fehlt, ist wohl das Angebot nicht gut genug. Das mag dem weiter dominierenden Mantra der Marktkonformität entsprechen, eine befriedigende Antwort auf die Frage, was denn nur aus der für Arbeitnehmer einst relativ selbstverständlichen Gewerkschaftsmitgliedschaft geworden sei, liefert es nicht. Und das, obwohl vier der fünf am Tisch sich noch vom Studium der Politikwissenschaften und der Soziologie her kennen. Von Max Weber haben sie dort sicher gehört, von der Verfügung über sachlichen Besitz, der die am Markt Konkurrierenden teilt – in die, die verfügen und die, die ausgeschlossen sind. Von den besitzlosen Beschäftigten, deren „Intelligenz und Fachgeschultheit“ sie dem Rationalisierungsdruck weniger stark aussetzt als „die Arbeiterschaft als Ganzes“.
Sie haben vielleicht sogar von Karl Marx gehört. Von den Produktionsverhältnissen, in denen sich die „Eigentümer bloßer Arbeitskraft“ und die „Eigentümer von Kapital“ gegenüberstehen. Doch es sind ja bald 170 Jahre vergangen, seit Karl Marx und Friedrichs Engels im Manifest der Kommunistischen Partei verkündeten: „Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat.“
Schlafmützige Soziologen
1848 ist lange her, und es hat ja irgendwie nicht sein sollen mit der Rückkehr zur klassenlosen Gesellschaft über die proletarische Revolution, den Klassenkampf. Und außerdem: Hatte das nicht alles mit der Industrialisierung zu tun? Was also sollten Weber und Marx den Fünfen heute sagen?
Heute, da sie bei einer Stiftung, einer Unternehmensberatung und in Personalabteilungen von Unternehmen arbeiten, einer auch als Programmierer. Die fünf liegen nur knapp unter dem Schnitt, nur noch etwa jeder fünfte Arbeitnehmer in Deutschland ist Gewerkschaftsmitglied, 18,9 Prozent. In Berlin, wo die fünf arbeiten, sind es nur 14,9 Prozent, „möglicherweise das Ergebnis einer vergleichsweise starken Tertiarisierung“, erklärt das arbeitgebernahe Institut der Deutschen Wirtschaft. Wo der Dienstleistungssektor dominiert und die Industrie – „Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will“ – schwach ausgeprägt ist, sind weniger Leute in einer Gewerkschaft. Was zunächst einmal logisch klingt, ist eine wiederum recht simple Art der Erklärung. Denn die Zeit der Flächenstreiks in der Industrie ist längst vorbei, 2015, im Hochjahr der Proteste der Erzieher und Sozialarbeiterinnen, fanden 90 Prozent aller Streiktage im Dienstleistungsbereich statt. Gerade hier wird noch gekämpft.
Dass der Verlust von Kampfesmut eine Folge von allzu viel Simplizität darstellt, legt der Soziologe Ulf Kadritzke in seinem jüngst erschienenen Buch über die „Entsorgung der Klassenfrage“ nahe. „Schlafmützigkeit“ attestiert er den Sozialwissenschaften hier und heute, an und für sich. Ihre Vertreter reden viel von der Ungleichheit, lassen aber einen grundlegenden Gedanken beiseite: Sie halten nicht einmal die Gegebenheit einer Klasse an sich für relevant, von Arbeitnehmern, die eben nicht über die Produktionsmittel verfügen, sondern angestellt und letztlich immer in Hand der Kapitalisten sind. Was soll man da noch groß nachdenken über eine Klasse für sich, die sich und den Antagonismus, in den sie eingespannt ist, erkennt und bekämpft?
Ulf Kadritzkes Mythos Mitte. Oder: Die Entsorgung der Klassenfrage (Bertz+Fischer 2017, 108 Seiten, 7,90 €) empfiehlt sich als Pflichtlektüre an sozialwissenschaftlichen Fakultäten. Daran sollte schon allein das dort großteils dem Prekariat preisgegebene wissenschaftliche Personal Interesse haben. Denn sind dessen Unsicherheit, das Dasein in Befristung und die Unterbezahlung wirklich etwas so anderes als die „offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung“, von der im Manifest die Rede war?
Die eigene Lage als Ausbeutung zu erkennen – das fällt der Unternehmensberaterin, dem Programmierer und den anderen drei aus der Bar nachvollziehbar schwer. Nicht die Situation an ihren Arbeitsplätzen treibt sie politisch um, sondern eher Fragen wie nachhaltige Ernährung, Klimawandel oder Geschlechtergerechtigkeit. Sie sind mit ihrem Einkommen weitestgehend zufrieden, haben meist unbefristete Verträge und verfügen über eigene Befugnisse, einen großen Gestaltungsspielraum bei dem, was sie Tag für Tag arbeiten. Nein, sie würden sich nicht Proletariat nennen. Aber auch nicht Bourgeoisie. Sie sind nicht die Kapitalisten. Was aber sind sie?
Lauter fleißige Bürger – so soll die Mitte doch sein
Teil der „Mitte“, von der heutzutage alle und besonders gern Journalisten reden? Jener mutmaßlichen „Mitte“, deren Erosion heute all die Soziologen, Politologen und Ökonomen beschäftigt, wenn sie die Ungleichheit erforschen? Die meisten von ihnen würden dem Quintett aus Berlins Dienstleistungsbranche mit gutem Einkommen und einigem kulturellen und sozialen Kapital, aber ohne Klassenbewusstsein, sofort genau diese Antwort anbieten: „Mitte“. Und da auszuschließen ist, dass einer der fünf montags bei Pegida anzutreffen ist oder im September sein Kreuz bei der AfD machen wird oder Donald Trump gut findet, würde nicht wenigen Sozialwissenschaftlern dabei warm ums Herz werden. Denn so soll die Mitte doch sein, dafür wurde sie konstruiert: lauter fleißige, weitestgehend zufriedene, gemäßigte Bürger, ein Beweis der astrein funktionierenden Meritokratie beziehungsweise sich auszahlender Investitionen in die eigene Produktivkraft.
Würden die fünf jenes Buch Kadritzkes lesen, in Sachen Klasse könnten sie dort ihre Urgroßeltern kennenlernen, die „Ende des 19. Jahrhunderts ein bereits umkämpftes Terrain“ betraten: die „neu entstehenden, nicht selbstständigen Funktions- und Berufsgruppen“, teils „besser bezahlt und in abgestufter Weise in Leitungsaufgaben eingebunden“. Jene zu jener Zeit in Massen auftauchenden, in Verwaltungen und kaufmännischen Berufen, bei Unternehmen oder dem Staat Beschäftigten, an denen so vieles anders war als an den Arbeitern, welche damals eben um Terrain kämpften.
Die schnell vor diesem Kampf und, wie es 1933 beim Soziologen Carl Dreyfuss heißt, „vor der Klassenzugehörigkeit unter das Obdach“ einer fiktiven Mittelschicht flüchteten, nein: von den deutschen Wirtschafts- und Sozialwissenschaften dort in Schutz gebracht wurden, um einen Puffer zwischen den Antagonismus der Klassen zu klemmen. Als diesbezüglichen Gründungsakt präsentiert Kadritzke die Zusammenkunft von Vertretern der protestantischen Ethik 1897, wo es in Anschluss an einen Vortrag des Ökonomen Gustav Schmoller erleichtert hieß: „Der Evangelisch-soziale Kongress nimmt mit Genugtuung von der beruhigenden, auf wissenschaftliche Beobachtung gestützten Überzeugung des Referenten Kenntnis, daß die volkswirtschaftliche Entwicklung der Neuzeit nicht mit innerer Notwendigkeit zur Auflösung eines für die Vermittlung sozialer Gegensätze wichtigen und für das sittlich-religiöse Volksleben erfahrungsgemäß hochbedeutsamen Mittelstandes führen müsse, daß vielmehr zwar gewisse Teile des bisherigen Mittelstandes voraussichtlich verschwinden, dagegen andere sich erhalten und neu sich bildende die alten niedergehenden ersetzen werden.“
Carl Dreyfuss hatte, wie die anderen vier Weimarer Soziologen, die Kadritzke reaktiviert, seine Zweifel an der herbeikonstruierten und Harmonie stiftenden Mitte. Er flüchtete 1935 vor Nationalsozialismus und Judenverfolgung aus Deutschland. Die Deutung, der Untergang der Weimarer Republik sei dem Zerdrücken ihrer Mitte von extremen Rändern her geschuldet, hält sich bis heute. Sie bemüht, wer ganz unbedingt an sie glauben will, jene gute Mitte.
In Westdeutschland wollten das nach 1945 viele, und der Soziologe Helmut Schelsky tat ihnen 1953 den Gefallen, jeden Klassenkampf für beendet zu erklären. Er wertete den Ausgang als eine Art Unentschieden, indem er die „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ ausrief, was Illusionen von der Überwindung sozialer Herkunft und Chancengleichheit nährte. Jene nivellierte Mittelstandsgesellschaft aber war in den Folgejahren so sehr mit der Wahrnehmung ihrer neu gewonnenen sozialen Mobilität beschäftigt, dass sie nicht den neoliberalen Raubzug bemerkte, den die Kapitalisten spätestens ab den 1980er Jahren auf den Sozialstaat starteten. Vonseiten des Kapitals wurde der Klassenkampf wieder intensiviert und in früheren Runden errungene Rechte geschliffen, nicht zuletzt die Wirkmacht der Gewerkschaften.
Dieser Raubzug dauert an, noch immer aber träumen alle von der Mitte. Fast alle. Den schwerreichen Finanzmogul Warren Buffett fragte 2006 ein Kolumnist der New York Times nach seiner Steuerquote, die im Vergleich zu seinen Sekretärinnen gering ausfällt, und ob, wer diese Ungerechtigkeit thematisiere, nicht immer gleich beschuldigt werde, einen Klassenkampf zu schüren. Warren Buffett antwortete: „Es herrscht Klassenkampf, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die den Kampf führt, und wir gewinnen.“
Soziale gegen Kultur-Linke?
Bald nach Buffetts Äußerung folgte der Beinahe-Zusammenbruch der Finanzmärkte, dessen Folgekosten bis heute alle außer die Kapitalisten bezahlen, und tatsächlich flackerte nun auch von ihrer Seite so etwas wie Klassenkampfrhetorik auf: „Wir sind die 99 Prozent.“ Gerade in Deutschland aber gelang es, mittels einer merkantilistischen Handelspolitik und zur dauerhaften Großen Koalition geronnener Beschwichtigungspolitik jeden Vergleich der sich zuspitzenden Verhältnisse mit Weimar als ganz und gar übertrieben dastehen zu lassen. In jüngster Zeit freilich gelingt dies nicht mehr so recht, und der einen und dem anderen dräut, dass folgender Satz Ulf Kadritzkes stimmt: „Nach wie vor gilt, dass der demokratische Kapitalismus in seinen Krisen auch die Gegenkräfte hervorbringt, die ihre Profiteure das Fürchten lehren.“
Doch da die Linke vom Klassenkampf lange nichts mehr wissen wollte und sich zuletzt lieber in ein Gefecht um ihren vermeintlichen Antagonismus zwischen einer „Kultur-“ und einer „sozialen“ Linken verstrickte, kommen jene Gegenkräfte heute meist von rechts.
Sozialwissenschaften wie Ökonomie hantieren derweil hektisch mit ihren Instrumentarien zur Vermessung der Mittelschicht, diskutieren etwa, ob sie zwischen 1991 und 2013 um „mehr als fünf“ oder um „rund sechs“ Prozentpunkte geschrumpft sei. Es lohnt nicht, derlei Schlafmützigkeit viel Aufmerksamkeit zu schenken. Es lohnt dagegen durchaus und gerade im Angesicht der 2007 losgebrochenen Krise, von oben und unten, von Kapitalisten und Lohnabhängigen zu reden und davon, wie letztere Klasse kollektiv anzusprechen wäre. Genau dies hat gerade die Sozialistische Linke in der Linkspartei mit ihrem Debattenheft Klasse neu denken getan.
Darin fragte der Sozialwissenschaftler Alex Demirović, wie es gelingen kann, das Prekariat der Armen wie die globalisierten, großstädtischen Kleinbürger zur Einsicht in ihre Klassenzugehörigkeit zu bewegen, um damit für die Abschaffung aller Klassen einzutreten. Die Herausforderung sei, „nicht nur die Arbeit, sondern alle Aspekte der Lebensweise, der klassenspezifischen Praktiken der verschiedenen Gruppen der Lohnabhängigen in den Blick zu nehmen“. Es gehe darum, Klassen- und Identitätspolitik nicht gegeneinander zu stellen, sondern deren Zusammenhang nachzugehen. Natürlich bildeten heute nicht alle Arbeiterinnen und Arbeiter eine Einheit, doch: „Die ökologische Frage, wie gesunde Ernährung, der Zugang zu sauberem Wasser, nachhaltige Energieerzeugung oder Mobilität, betrifft nicht nur ein vermeintlich saturiertes Kleinbürgertum, das auf die eigene schlanke Linie und seine Fitness achten muss. Auch die ArbeiterInnen sind betroffen, wenn es um den sicheren Arbeitsplatz ohne Gesundheitsrisiken, Lärm- und Luftbelastung, die medizinische Versorgung oder die Qualität der Lebensmittel geht.“ Von dieser Erkenntnis zu überzeugen, das ist kein einfaches Unterfangen, denn: „Das Unangenehme der Klassenzugehörigkeit ist, dass es auf ein zwingendes Verhältnis verweist, die materielle Abhängigkeit von anderen und vor Augen führt, dass die Individuen trotz aller intellektuellen Kompetenzen, trotz der Freiheit und Gleichheit, trotz Demokratie einem übermächtigen Ganzen unterworfen sind, dem sie blind ausgeliefert sind, das sie nicht kontrollieren, das sie den anderen gegenüber entsolidarisiert“, schreibt Demirović.
Dass von Klasse – und eben nicht von Rasse, Nation oder Geschlecht zu reden – Anknüpfungspunkte und Solidarität stiften kann – selbst unter Rückgriff auf eine eher traditionellen Bedeutung des im Englischen nicht aus dem Sprachgebrauch getilgten Wortes, das ließ ein Auftritt Jeremy Corbyns im Mai im Nordwesten Englands erahnen. Vor 20.000 Jugendlichen bei einem Musikfestival, in einem Stadion, in dem sonst ein kleiner Arbeiterverein sowie die Obdachlosen-Mannschaft des FC Liverpool Fußballspiele austragen: Von „working class communities“, und „working class youngsters“ sprach der Labour-Chef, deren kulturelle Tradition in Sport und Musik gefördert werden müsse. Und von denen, die gefälligst zur Bewahrung und Finanzierung dieser Tradition heranzuziehen seien: die Reichen, die Milliardärclubs der Premier League.
Das begeisterte nicht nur die 20.000 vor Ort, das fanden auch zumindest drei der fünf in der Bar in Berlin gut. „Mitreißend“, sagt eine. „Leidenschaftlich“, eine andere, und vor allem: „Inhaltlich richtig.“
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