„Schulden entlasten kommende Generationen!“

Interview Jens Südekum ist Ökonom und erklärt, warum der Staat noch mehr Kredite aufnehmen sollte
Ausgabe 35/2020

Im März richteten Norbert Walter-Borjans und der SPD-Vorstand einen wirtschaftspolitischen Beirat ein, in dem Jens Südekum nicht fehlen durfte. Südekum, selbst SPD-Mitglied, berät aber nicht nur die SPD sowie deren Finanzminister und Kanzlerkandidaten Olaf Scholz, sondern unter anderem auch das CDU-geführte Bundeswirtschaftsministerium.

Er ist einer der lautesten Kritiker der Schuldenbremse und beschäftigt sich intensiv mit Regionen, die von der Globalisierung abgehängt wurden. Südekums Aufstieg zum „Ökonom der Mächtigen“ (FAS) illustriert, dass sich in Deutschland, wo die Kreditaufnahme durch den Staat und der Mindestlohn unlängst noch verpönt waren, zuletzt finanz- und wirtschaftspolitisch doch einiges verändert hat – spätestens mit Beginn der Covid-19-Krise auch in der Praxis.

der Freitag: Herr Südekum, haben Sie denn gar kein schlechtes Gewissen gegenüber kommenden Generationen?

Jens Südekum: Kommt auf das Thema an. Wenn ich über CO2-Emissionen nachdenke oder über zerstörte Bildungschancen aufgrund geschlossener Schulen, dann ja. Wenn es um Staatsverschuldung geht, dann sicher nicht.

Aber all die Milliarden, die der Staat jetzt in der Corona-Krise aufnimmt, müssen in der Zukunft mühsam abgetragen werden …

Das ist eines der größten Märchen, die sich zu diesem Thema halten, in Deutschland ganz besonders hartnäckig. Bei jeder ausgegebenen Staatsanleihe gibt es ja irgendjemanden, der sie gekauft hat. Jeder Schuld steht ein Vermögen gegenüber. Es ist schon richtig, die Schulden werden vererbt, aber die Vermögen auch! Staatsverschuldung ist also immer ein Verteilungsproblem in einer Generation – zwischen denen, die die Zinsen zahlen müssen, Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, und denjenigen, die die Staatsschulden besitzen und die Zinsen kassieren. Meist verfügen die reichsten zehn Prozent über den Mammutanteil des Vermögens, also wohl auch an den Staatsschulden. Gegen diese Ungleichheit gibt es ja Instrumente. Aber zu sagen, wir dürfen keine Staatsschulden machen, weil wir kommende Generationen belasten, halte ich für ein völlig verkürztes Argument. Zumal, wenn es um Zwecke geht, die kommenden Generationen was bringen, vor allem die Reduktion von Emissionen.

Aber Kurzarbeitergeld für bald 24 Monate, Konjunkturprogramme, Kinderbonus – soll und kann das ewig so weitergehen?

Das ist akute Rettungspolitik. Und wir sind noch lange nicht über den Berg. Selbst wenn das Pandemiegeschehen unter Kontrolle bleibt, droht im Herbst oder Winter eine Insolvenzwelle. In bestimmten Branchen – Tourismus, Gastronomie, Veranstaltungen – werden Leute, die jetzt in Kurzarbeit sind, vermutlich arbeitslos werden. Die Unternehmen halten sich mit Investitionen zurück, es gibt wenige neue Jobs, Deutschland ist stark von Märkten in anderen Ländern abhängig – da muss der Staat dagegenhalten, auch über eine längere Zeit! Ich halte überhaupt nichts davon, jetzt schon auszurufen, spätestens 2022 müssten wir aber zur schwarzen Null zurückkehren.

Zur Person

Jens Südekum, 45, wuchs in Goslar auf. Mit 31 erhielt er den Ruf auf einen Lehrstuhl an der Universität Duisburg-Essen. Seit 2014 ist er Professor für Internationale Volkswirtschaftslehre an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Laut dem Ranking der FAZ ist Südekum einer der 15 einflussreichsten Ökonomen Deutschlands, auf der Plattform Twitter laut makronom.de viertwichtigste Stimme hinter Claudia Kemfert, Marcel Fratzscher und Dina Pomeranz.

So hat es Unions-Fraktionschef Ralph Brinkhaus gefordert – er sagt, wir müssten irgendwann wieder in den „Normalmodus“.

Die schwarze Null ist aber kein Normalmodus, kein vernünftiger Maßstab für Haushaltspolitik. Mag sein, dass wir 2022 kein derartiges Maß an Neuverschuldung benötigen wie 2020, aber jetzt schon einen ausgeglichenen Haushalt auszurufen, das ist, wie wenn Sie Gas geben, um aus einem Tal herauszukommen, und dann mitten in der Auffahrt eine Vollbremsung hinlegen. Das wäre eine katastrophale Wirtschaftspolitik.

Erklären Sie mal Ihr Credo: „Wir dürfen die Corona-Schulden nicht zurückzahlen.“

Staatsschulden funktionieren anders als Schulden von Privathaushalten. Wenn ich einen Kredit aufnehme, um ein Haus zu kaufen, dann ist der Normalfall, dass ich diese Schulden zu meinen Lebzeiten komplett getilgt haben werde. Der Staat funktioniert aber nun einmal anders: Er nimmt eine Anleihe auf, die muss in zehn Jahren getilgt werden, und das wird sie auch – aber dadurch, dass in zehn Jahren eben eine neue Anleihe ausgegeben wird. Mit der neuen wird die alte Anleihe „abgelöst“. Dieses Spiel geht eigentlich immer so weiter, die USA haben seit dem Zweiten Weltkrieg noch nie irgendwelche Schulden zurückgezahlt, Deutschland nur ganz wenig, seit 2014, das ist aber eine Ausnahme.

Und in der Regel?

In der Regel geht es immer nur darum, dass die Schuldenlast beherrschbar bleibt in Relation zum Bruttoinlandsprodukt: Wie viel wird in Deutschland insgesamt produziert, wie hoch ist der Schuldenstand, wie hoch ist die Zinsbelastung aus diesem Schuldenstand? Das muss in einer vernünftigen Relation zueinander stehen.

Was heißt das, vernünftig?

Die beste Kennziffer dafür ist: Wie viel Prozent seines Haushalts muss der Bund für Zinsen ausgeben? Das waren in den 90er Jahren mal 16 Prozent, das ist durchaus eine Belastung, weil man dann über den Haushalt eines Jahres nicht mehr so frei entscheiden kann, da allein schon 16 Prozent für Zinsen draufgehen. Aber diese Zahl ist mittlerweile auf vier bis fünf Prozent gesunken. Das heißt, es ist mittlerweile fast zu vernachlässigen, was für Zinsen anfällt! In so einer Situation zu sagen, wir dürften auf keinen Fall expansive Wirtschaftspolitik betreiben, weil das die Schulden erhöht und irgendwie kommende Generationen belasten würde, passt überhaupt nicht zur makroökonomischen Lage, in der die Zinsbelastung extrem gesunken ist – und nach allen Projektionen niedrig bleiben wird.

Warum sind die Zinsen so niedrig und warum sollte das so bleiben?

Das ist ein in allen entwickelten Volkswirtschaften seit Ende der 70er anhaltender Trend. Wir Ökonomen nennen das manchmal „säkulare Stagnation“. Es gibt viele Gründe dafür. Entscheidend ist, dass Unternehmen viel weniger Geld auf dem Kapitalmarkt nachfragen, um es zu investieren.

Warum ist das so?

Eine spannende Frage. Ich meine, es liegt an der immer stärkeren Konzentration von Marktmacht und Profiten bei wenigen Unternehmen, in vielen Branchen. Am deutlichsten ist das bei den US-Internetgiganten Google, Facebook oder Amazon, die sind praktisch Monopolisten und nicht darauf angewiesen, sich irgendwo auf dem Kapitalmarkt Geld zu besorgen. Wer die aber vom Thron stoßen will, braucht Geld, muss investieren. Aber die Konzentration ist so stark, dass der Zweite, Dritte und Vierte einer Branche oft sagt: Wir haben doch sowieso keine Chance! Wer dennoch ambitioniert ist, den kaufen die Großen früh auf, denken Sie an Instagram und Whatsapp. Corona verstärkt all diese Entwicklungen, die Krise belastet kleine und mittlere Unternehmen am stärksten, Amazon profitiert. Solch eine Konstellation ist der Killer für wirtschaftliche Dynamik, für Investitionen. Zudem spielt in alternden Volkswirtschaften, gerade in Europa, Vorsorge für das eigene Alter eine große Rolle, es wird viel gespart, also gibt es ein hohes Kapitalangebot.

Heraus kommen niedrige Zinsen.

Ja, der Zins ist der Preis vom Geld. Habe ich eine geringe Nachfrage und ein hohes Angebot, dann ist der Preis für Geld eben sehr gering. Das von den Zentralbanken geschaffene Geld kommt in der Realwirtschaft kaum an, weil es von den Unternehmen für Investitionen nachgefragt werden müsste, aber nicht nachgefragt wird.

Nehmen wir an, der Staat mindert diese Marktkonzentration. Dann muss er investieren, um aus den Schulden rauszuwachsen – klingt aber nicht gerade nach „Post-Wachstums-Ökonomie“ ...

Damit kann ich wenig anfangen, muss ich gestehen. In der ersten Aprilwoche, als die Weltwirtschaft so stillstand wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr – China, Europa, USA, alle im Lockdown, keine Flugzeuge in der Luft, viele Produktionsanlagen standen still, da waren die globale CO₂-Emissionen im Vergleich zum Vorjahr um gerade mal 17 Prozent gesunken. Man muss sich vorstellen, was zu tun wäre, um die Emissionen nachhaltig zu senken durch eine Reduktion von Produktion, und was das bedeuten würde für den Lebensstandard von Milliarden von Menschen. Worum es geht, ist doch, das Wachstum zu entkoppeln von CO2-Emissionen.

Wie?

Durch neue Technologien, also zum Beispiel Wasserstoff für die Stahlproduktion, auch für klimaneutrale Autos. Das sind die Industriezweige, wo Europa noch führend ist. Darauf sollte der Staat jetzt setzen, damit diese Geschäftspläne marktfähig werden. Heute kostet eine Tonne klimaneutralen Stahls ungefähr das Doppelte einer konventionellen. Wenn der Staat hier gezielt fördert, setzen Lerneffekte ein, die Kosten sinken und irgendwann werden alle klimaneutralen Stahl produzieren.

Reicht da das Konjunkturpaket der Bundesregierung?

Zumindest geht es in die richtige Richtung. 50 der 130 Milliarden sind für Zukunftsinvestitionen vorgesehen. Aber die Aufgaben, um die es geht, erfordern eine Anstrengung über die nächsten zehn, 15, 20 Jahre seitens des Staates, die über diese 50 Milliarden weit hinausgeht. Aber die Schulden, die dabei anfallen, die sind keine Be-, die sind eine Entlastung kommender Generationen!

Was wird das dann für ein Wahlkampf 2021? Die Staatsschulden-Kritiker von FDP und Union gegen einen SPD-Kandidaten, der das Geld als Finanzminister mit vollen Händen ausgibt?

Einen Wahlkampf, in dem es um grundsätzliche wirtschaftspolitische Fragen geht, hielte ich persönlich jedenfalls für sehr spannend. Aber ich glaube nicht, dass aus der Union bloß eine platte Kampagne gegen neue Schulden kommt. Es gibt in ihren Reihen ja auch einige, die da weiterdenken. Und es gibt ja auch berechtigte Einwände – die Befürchtung etwa, all das Geld werde nicht zielgerichtet und effizient für die vorgesehenen Zwecke eingesetzt.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Sebastian Puschner

stellvertretender Chefredakteur und Ressortleiter Politik

Sebastian Puschner studierte Politik-, Verwaltungswissenschaften und Philosophie in Potsdam und wurde an der Deutschen Journalistenschule in München zum Redakteur ausgebildet. Bei der taz arbeitete er als Redakteur im Berlin-Ressort. 2014 wechselte Sebastian Puschner zum Freitag, wo er den monatlichen Wirtschaftsteil mit aufbaute. Seit 2017 ist er verantwortlicher Redakteur für Politik, seit 2020 stellvertretender Chefredakteur. Er interessiert sich besonders für Politik und Ökonomie von Hartz IV bis Cum-Ex sowie für Fragen zu Geopolitik, Krieg und Frieden.

Sebastian Puschner

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