Wie beim Ladendiebstahl

Cum-Ex/Cum-Cum Der Bundestag debattiert den Bericht des Untersuchungsausschusses zum größten Steuerbetrug der deutschen Nachkriegsgeschichte. Union und SPD üben sich in Relativierung
CDU-Finanzminister Wolfgang Schäuble war sich bei seiner Zeugenaussage im Februar keiner Schuld bewusst
CDU-Finanzminister Wolfgang Schäuble war sich bei seiner Zeugenaussage im Februar keiner Schuld bewusst

Foto: Imago/Jens Jeske

Steuerkriminalität auf das Motiv „hemmungsloser Gier“ zu reduzieren, dass ist ein altbekanntes Muster, um weitergehende Fragen nach systematischen Zusammenhängen abzuwürgen. Als der Bundestag an diesem Freitag den Abschlussbericht des Cum-Ex-Untersuchungsausschusses debattierte, begann also auch SPD-Obmann Andreas Schwarz seine Rede mit Bezug auf jene Gier, die verantwortlich sei für den Jahre währenden Betrug mit Aktien, Dividenden und Rückzahlungen von Steuern, die nie bezahlt worden waren (hier eine Erklärung der Praktiken).

Netzwerke aus der Finanzindustrie, und niemand anders, trügen die Verantwortung für den Milliardenschaden, der der öffentlichen Hand und damit allen Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern zugefügt worden ist, sagte Schwarz. Der Staat? Nur der arme Geprellte.

Wie Carsten Maschmeyer

Das ähnelt der Selbstdarstellung Carsten Maschmeyers bei seinem Auftritt als Zeuge im Ausschuss. Den Staat brachte Schwarz in Analogie zu einem Ladenbesitzer, dem ein Diebstahl in seinem Geschäft ja auch nicht zur Last zu legen sei. Organisierte Finanzkriminelle hier, Ladendiebe dort – das ist Relativierung von einem Ausmaß, dass sich allein die Unions-Abgeordneten am Rednerpult, allen voran Christian Hirte, zu übertreffen anschickten. Das zugrundeliegende Motiv ist klar: die als Bundesfinanzminister politisch Verantwortlichen, Peer Steinbrück (SPD) und Wolfgang Schäuble (CDU), aus der Schusslinie zu nehmen.

Wären Cum-Ex und dessen großer Bruder Cum-Cum, diese Raubzügen der Reichen, doch nur allein auf die Gier letzterer zurückzuführen – ihren wäre so viel leichter beizukommen, so vergleichsweise leicht, wie Ladendiebe erwischt werden. Tatsächlich aber steht der Staat im Zentrum des Skandals: Minister, die sich Gesetze – mitunter wortwörtlich – von der Bankenlobby diktieren und so vermeintliche Rechtslücken entstehen ließen, allen voran die, dass eine Aktie mehr als einen Besitzer haben kann. Ministerien, die sich ohne Zuarbeit von privaten Wirtschaftsprüfern und Steuerkanzleien scheinbar arbeitsunfähig wähnen. Ein ans Bundesfinanzministerium abgeordneter Richter, der sich munter von diesem, aber auch gern vom Bundesverband Deutscher Banken für seine Expertise in Sachen Dividendenstripping bezahlen ließ.

Kein Wurmfortsatz des Ministeriums

Staatseigene Landesbanken, die sich die Geschäftsmodelle Cum-Ex und Cum-Cum ganz selbstverständlich zueigen machten. Steuerrechtler staatlicher Universitäten, die mit ihren Gutachten der Praxis anstandslos eine Legalität verliehen, die zwar nichts war als ein Schein. Der aber intensiv genug strahlte, um Teilen der Legislativen, der Exekutiven und der Judikativen die Sicht zu nehmen.

Eine ihrem Namen spottende Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin), die, wie es Linken-Obmann Richard Pitterle ausdrückte, „ihre Untätigkeit mit einer angeblichen Nichtzuständigkeit zu erklären“ versuchte. Ein Bundestag-Finanzausschuss des Deutschen Bundestages, über den dessen Mitglied, der Grüne Gerhard Schick, selbstkritisch urteilte: Beim – für die Materie bedeutenden – Jahressteuergesetz 2007 „wussten wir alle miteinander nicht, worum es ging, sondern wir haben die Vorlagen aus dem Finanzministerium im Wesentlichen durchgewunken.“ Und anfügte: „Der Finanzausschuss darf kein Wurmfortsatz des Finanzministeriums sein.“

Her mit dem legislativen Fußabdruck!

Daraus ergibt sich, was die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen unter anderem an Konsequenzen aus dem Skandal fordert: die Parlamentarier besser aufzustellen, ihnen also ökonomisch sachkundiges, unabhängiges Personal an die Seite zu stellen, sodass sie auf Augenhöhe mit und nicht in Ohnmacht gegenüber der Finanzbranche agieren können. Einen legislativen Fußabdruck, der Lobby-Einfluss auf Gesetzgebung öffentlich macht, einzuführen, ein allumfassendes Lobbyregister und ein effektives Whistleblower-Schutzgesetz. Ohne anonyme Informationsgeber wäre heute noch viel mehr Menschen als ohnehin noch unbekannt, für was Cum-Ex und Cum-Cum stehen. Eine Bafin, die diesen Namen verdient. Viel striktere Transparenz- und Genehmigungspflichten für Nebentätigkeiten von Finanzrichtern, Mitarbeitern der Ministerialverwaltungen und öffentlich finanzierten Wissenschaftlern.

811 Seiten umfasst der Abschlussbericht des Cum-Ex-Untersuchungsausschusses, in dieser Legislaturperiode einer von insgesamt fünf Untersuchungsausschüssen. Die Lektüre lässt sich auf die „Feststellungen zum Sachverhalt“ und die Sondervoten von Grünen und Linken beschränken. Und auf die vielsagenden Sätze von Union und SPD auf Seite 314: Die Koalition, steht dort, habe Zweifel gehabt, "ob dieser Untersuchungsausschuss erforderlich sei und enthielt sich daher beim Einsetzungsbeschluss. Diese Zweifel sieht der Ausschuss durch die Ergebnisse der Beweisaufnahme bestätigt".

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Sebastian Puschner

stellvertretender Chefredakteur und Ressortleiter Politik

Sebastian Puschner studierte Politik-, Verwaltungswissenschaften und Philosophie in Potsdam und wurde an der Deutschen Journalistenschule in München zum Redakteur ausgebildet. Bei der taz arbeitete er als Redakteur im Berlin-Ressort. 2014 wechselte Sebastian Puschner zum Freitag, wo er den monatlichen Wirtschaftsteil mit aufbaute. Seit 2017 ist er verantwortlicher Redakteur für Politik, seit 2020 stellvertretender Chefredakteur. Er interessiert sich besonders für Politik und Ökonomie von Hartz IV bis Cum-Ex sowie für Fragen zu Geopolitik, Krieg und Frieden.

Sebastian Puschner

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