Empörung ist gar kein Ausdruck: Über die Armut in Deutschland weiß kaum jemand besser Bescheid als der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge – und kaum jemand kann sich über die Lage der Dinge mehr entrüsten.
Er und seine Frau Carolin Butterwegge werfen in ihrem neuen Buch Kinder der Ungleichheit. Wie sich die Gesellschaft ihrer Zukunft beraubt Blicke nicht nur auf Armut, sondern auch auf Reichtum, gerade unter Kindern und Jugendlichen.
der Freitag: Frau Butterwegge, wenn Sie an Ihre eigene Kindheit denken: Haben Sie da realisiert, dass es in diesem reichen Land jede Menge Armut gibt?
Carolin Butterwegge: Ich bin im Bergischen Land aufgewachsen, also dort, wo Armut kein Massenphänomen war. Aber ich hatte in meiner Kindheit durchaus Kontakt mit Gleichaltrigen, die schlechtergestellt waren. Sie lebten in beengten Wohnverhältnissen, die Eltern sprachen schlechtes Deutsch und die Kinder hatten es viel schwerer als ich.
Jetzt sind Sie selbst Eltern. Herr Butterwegge, was hat sich im Vergleich zu Ihrer Jugend verändert, wenn es um Armut geht?
Christoph Butterwegge: Wie sehr sich die Gesellschaft zum Schlechteren gewandelt hat, zeigen zwei Zahlen: 1965, also auf dem Höhepunkt des sogenannten Wirtschaftswunders, war jedes 75. Kind im Sozialhilfebezug. Heute befindet sich jedes siebte Kind im Hartz-IV-Bezug. Für mich war damals eine Begebenheit am ersten Gymnasialschultag prägend: Ich war Sohn einer alleinerziehenden Mutter, nicht ehelich geboren – und dann schlug unser Lehrer das Klassenbuch auf, ging die Namen aller Jungs – Koedukation gab es noch nicht – durch und fragte uns nach dem Beruf des Vaters. Da ich den nicht kannte, war ich stark verunsichert und lief wegen der mir peinlichen Situation rot an. Meine weitere Schullaufbahn wies anschließend entsprechende Hürden auf. Ich hoffe, dass Lehrkräfte heute diskreter und sensibler mit der sozialen Herkunft ihrer Schülerinnen und Schüler umgehen. Meine Frau ist noch und ich war an der Universität zu Köln in der Lehrerbildung tätig. Dort ist Kinderarmut als Thema stärker verankert und die Kluft zwischen Arm und Reich längst im Curriculum angekommen. Denn das Problem der Armut frisst sich in die Mitte der Gesellschaft hinein und der Reichtum konzentriert sich bei wenigen Familien.
In Ihrem neuen Buch betonen Sie an einer Stelle, dass Lehrer meist aus bürgerlichen Verhältnissen kommen, selten aus Armut.
Carolin B.: Es war sicher lange so, dass angehende Lehrkräfte aus eher akademisch geprägten Elternhäusern stammten. Ich bemerke aber durchaus einen Wandel unter meinen Studierenden. Immer mehr von ihnen kommen aus Familien, wo die Eltern als Arbeiter*innen tätig sind oder die einen Migrationshintergrund haben, wo sie also die erste Generation sind, die den Weg an die Hochschulen und zum Lehramt findet.
Von den 13,5 Millionen Menschen unter 18 in Deutschland wachsen 2,8 Millionen in Armutslagen auf, 2,4 Millionen sind jünger als 15 Jahre alt. Was steckt hinter diesen Zahlen?
Carolin B.: 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche wachsen in einkommensarmen Haushalten auf, aber man kann den Anteil von Kindern in Armut auch anders beziffern, etwa über die Zahl der Familien, die Unterhaltsleistungen nach dem Sozialgesetzbuch II erhalten. Aber um tiefer zu gehen: Es geht um Lebensbereiche, in denen die Kinder infolge der familiären Armut höhere Risiken haben. Etwa bei der Ernährung, wenn sie ohne Frühstück in die Schule kommen, oder bei der Ausstattung mit jahreszeitgemäßer Kleidung – die haben Kinder aus armen Familien sehr viel seltener als Kinder aus bessergestellten Familien. Abseits der rein materiellen Ebene lässt sich mit Blick auf die Gesundheit feststellen, etwa mittels Schuleingangsuntersuchungen: Bei der Motorik, der körperlichen und der Sprachentwicklung gibt es bei Kindern aus armen Familien sehr viel häufiger Auffälligkeiten. Gleiches gilt im sozialen Bereich – Kinder aller Altersgruppen machen, wenn sie aus armen Familien kommen, häufiger Ausgrenzungserfahrungen. Sie verfügen seltener über feste Freundschaften, einen besten Freund, eine beste Freundin. Das ist natürlich ein besonders für ein Kinderleben bedeutsames Phänomen, wenn man keine Einladungen zu Kindergeburtstagen erhält, weil man vielleicht selber keinen ausrichten kann, da die elterliche Wohnung zu klein ist.
Zu den Personen

Foto: epd/IMAGO
Carolin Butterwegge, 47, Promotion über die Armut von Kindern mit Migrationshintergrund, ist Lehrkraft an der Professur für Erziehungswissenschaft der Universität zu Köln. Sie gehört dem Landesvorstand der Linken in NRW an, für die sie 2010 – 12 im Landtag saß
Christoph Butterwegge, 70, zwischen 1998 und 2016 Professor für Politikwissenschaft an der Universität zu Köln, war bis 2005 SPD-Mitglied und 2017 Kandidat der Linken für das Amt des Bundespräsidenten. Er ist Autor zahlreicher Bücher, u. a. Ungleichheit in der Klassengesellschaft
Sie zitieren im Buch eine Mutter, die sagt: „Ich freue mich jedes Mal, wenn mein Kind nicht zu einem Geburtstag eingeladen wird.“
Christoph B.: Kann es Schlimmeres für Eltern in einer so reichen Gesellschaft geben, als dem eigenen Kind wenige Freunde zu wünschen, weil sonst Geschenke gekauft und Gegeneinladungen zu einem Kindergeburtstag ausgesprochen werden müssten?
Woran liegt das?
Christoph B.: Eine marktwirtschaftlich oder kapitalistisch organisierte Gesellschaft ist immer von Ungleichheit geprägt. Denn einer kleinen Minderheit gehören die Unternehmen, Banken und Versicherungen. Die große Mehrheit ist gezwungen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, was bei qualifikatorischen Defiziten, gesundheitlichen Beeinträchtigungen oder in einer Region mit angespanntem Arbeitsmarkt nicht gut gelingt. Dass aber die Ungleichheit so zugenommen hat, hat im Kern drei Ursachen.
Welche?
Christoph B.: Erstens die Deregulierung des Arbeitsmarktes, wie mit den Agenda-Reformen und den Hartz-Gesetzen passiert. Wenn man den Kündigungsschutz lockert, die Leiharbeit liberalisiert, Mini- und Midijobs schafft, dann ist klar, dass der Niedriglohnsektor sich verbreitert, mehr Menschen ein stärkeres Armutsrisiko haben, besonders Familien und deren Kinder. Zweitens genannt sei die Demontage des Sozialstaates, das Wegfallen von Sicherungsmomenten wie durch Gerhard Schröders angebliche Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Das klang zwar logisch und nach mehr Transparenz. Aber in Wirklichkeit wurde die Arbeitslosenhilfe, welche den Lebensstandard von 2,2 Millionen Langzeitarbeitslosen – darunter viele mit Kindern – noch halbwegs absicherte, mit Hartz IV schlicht abgeschafft. Drittens liegt die größere Ungleichheit an einer unsozialen Steuerpolitik, die auf der einen Seite alle Kapital- und Gewinnsteuern entweder – wie die Gewer-bekapitalsteuer oder die Börsenumsatzsteuer – abgeschafft, sie – wie die Vermögensteuer seit 1997 – einfach nicht mehr erhoben oder – wie den Spitzensteuersatz in der Einkommensteuer, die Kapitalertragsteuer oder auch die Körperschaftsteuer – stark gesenkt hat. Auf der anderen Seite wurde mit der Mehrwertsteuer jene Abgabe, welche die Armen am härtesten trifft, 2007 von 16 auf 19 Prozent angehoben. Kein Wunder, dass sich die Gesellschaft stärker gespalten hat!
Kinderarmut war durchaus ein Thema in diesem Wahlkampf.
Christoph B.: Ja, wie in den Wahlkämpfen davor, nämlich am Rande. Wenigstens die Forderung nach einer Kindergrundsicherung war zu vernehmen. Vor allem die Kanzlerkandidatin der Grünen hat sie in den Triellen erhoben, aber es handelt sich auch um einen Programmpunkt der Linken und der SPD, in nicht sehr unterschiedlicher Form. Aber wie die Rente und das Problem Altersarmut ist Kinderarmut viel zu wenig präsent, obwohl sie seit dem Jahrtausendwechsel konstant auf einem ganz hohen Niveau verharrt.
Warum die geringe Präsenz?
Christoph B.: Die sozioökonomische Ungleichheit ist ein Tabuthema. Und wer über den Reichtum nicht reden will, schweigt auch gern über die Armut. Es geht um den strukturellen Zusammenhang, den wir in unserem neuen Buch herzustellen versuchen. Dazu gehört, auf reiche Familien zu blicken. Es ist freilich sehr schwer, in diesen abgeschirmten Bereich hineinzuleuchten. Aber man kann Steuerstatistiken entnehmen, dass zum Beispiel zwischen 2011 und 2014 neunzig Kinder, die unter vierzehn Jahren alt waren, 29,5 Milliarden Euro von ihren vermögenden Eltern geschenkt bekommen haben, weil diese fürchteten, dass die Erbschaftsteuer für Firmenerben verschärft würde. Jedes Kind erhielt 327 Millionen Euro im Schnitt – schenkungsteuerfrei.
Durch die Corona-Maßnahmen hat sich die Arm-Reich-Schere klar gezeigt und verschärft. War es vor diesem Hintergrund ein Fehler, in Deutschland so rabiat auf Schulschließungen zu setzen?
Carolin B.: In der pandemischen Situation war das zwar nachvollziehbar. Aber die Schließungen haben sich vielerorts sehr negativ auf die Bildungschancen gerade von sozioökonomisch benachteiligten Schüler*innen ausgewirkt. Das ging weit über die Ausstattung mit digitalen Endgeräten hinaus. Es geht auch um fehlende Medienkompetenz, mit digitalen Lernplattformen umzugehen, um beengte Wohnverhältnisse ohne ein eigenes Kinderzimmer, ohne ruhigen Arbeitsplatz zum Lernen. Das sind alles Faktoren, die dazu geführt haben, dass gerade Kinder, die vorher schon schlechtere Bildungschancen hatten, zusätzlich abgehängt worden sind. Viele Lehrkräfte stellten fest, dass sie diese Schüler*innen schwieriger motivieren konnten, sich überhaupt noch mit Unterricht oder mit Schule zu befassen – in der Distanz.
Fast jedes dritte Kind zeigte ein Jahr nach Beginn der Pandemie psychische Auffälligkeiten. Ist die Corona-Politik symptomatisch für den gesamtgesellschaftlichen Umgang mit der Jugend hier – sie spielt einfach keine Rolle?
Christoph B.: Zumindest den verantwortlichen Politikern sind die Schulen weniger wichtig als die Wirtschaft. So hat die Industrie erheblich weniger restriktive Maßnahmen zu spüren bekommen. Was an den Schulschließungen aber vor allen Dingen skandalös ist: dass man bei uns, anders als zum Beispiel in den skandinavischen Ländern, zu wenig Personal und deshalb zu große Klassen hatte. Hätte man mehr Lehrer und Lehrerinnen, Schulpsychologinnen und Schulsozialarbeiter, dann wäre auch eine Schließung besser zu bewältigen gewesen. Aber bei uns wird viel zu wenig in den Bildungsbereich investiert – das müsste sich ändern, als eine Lehre aus der Pandemie.
Wie sehen Sie die Chancen, dass sich mit einer neuen Regierung überhaupt etwas ändert in Bezug auf Kinderarmut?
Christoph B.: SPD und Bündnis 90/Die Grünen wollen alle kindbezogenen Leistungen zusammenfassen und die Kinder in armen Familien materiell besserstellen. Die FDP fordert ein Kinderchancengeld und wird wahrscheinlich eher auf die steuerpolitischen Vorteile für privilegierte Familien schauen. Wenn die FDP als Bremse für sozialen Fortschritt in einer Koalition agiert, wird das Gelb der Ampel eher zur Vollbremsung als zu Vollgas im Kampf gegen Kinderarmut führen.
Die Kindergrundsicherung, wie sie die Ampel-Koalition jetzt anpeilt, wäre kein Allheilmittel, lese ich in Ihrem Buch, sondern womöglich ein Steuergeschenk für Mittelschichtfamilien und ein Türöffner für das bedingungslose Grundeinkommen, dessen schärfster Kritiker Sie sind.
Christoph B.: Wenn man unter einer Kindergrundsicherung versteht, dass über allen Kindern derselbe Betrag ausgegossen wird, wäre das für mich ein Kindergrundeinkommen – verheerend. Eine Familienpolitik nach dem Gießkannenprinzip verringert die Ungleichheit in der Gesellschaft in keiner Weise, sondern alle Eltern und ihre Kinder wären um denselben Betrag bessergestellt. Es wäre sinnvoll, die Grundsicherung so auszugestalten, dass nur ein Basisbetrag für alle Kinder gleich gezahlt wird. Darauf aufbauend, so ist das bei SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der Linken gedacht, kommt ein zweiter Betrag, je nach der Einkommenshöhe der Familie. Sozial benachteiligte Familien bekämen also mehr Geld. Zudem sehen die sinnvollen Kindergrundsicherungs-Konzepte eine bessere soziale, Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur vor: mehr Kitaplätze, bessere Betreuungsqualität, kleinere Klassen, mehr Freizeiteinrichtungen für Kinder und Jugendliche. Wenn die Kindergrundsicherung das Leben junger Menschen verbessert, wäre sie ein Projekt für die neue Regierung, das die Gesellschaft voranbrächte. Meine Befürchtung ist jedoch, dass, was sich jetzt als eine Koalition des Fortschritts inszeniert, letztlich doch nur eine Koalition der Fortschrittsgläubigkeit ist, bei der die soziale Ungleichheit und Armut insbesondere von Kindern wieder hinten runterfallen.
Die Partei, die dem am nächsten kommt, was Sie fordern, erreichte nicht einmal fünf Prozent. Frau Butterwegge, Sie sind Mitglied des Landesvorstands in NRW. Was ist los mit der Linken?
Carolin B.: Das schlechte Abschneiden hat sicher viele Gründe. Teils lag es am personalisierten Wahlkampf um das Kanzleramt, in dem die Linke kaum vorkam. Manche Sympathisant*innen der Linken trauen einer SPD, die verspricht, Hartz IV hinter sich zu lassen, eher zu, beispielsweise einen höheren Mindestlohn durchzusetzen. Und bei den Grünen finden sie den Klimaschutz besser aufgehoben. Die regierenden Parteien haben in der Pandemie häufig die Politik bestimmt, während die Anliegen der Opposition wenig Gehör fanden. Auch hat die Linke im Wahlkampf einen weniger geschlossenen Eindruck als SPD und Grüne gemacht.
Info
Kinder der Ungleichheit. Wie sich die Gesellschaft ihrer Zukunft beraubt Carolin Butterwegge , Christoph Butterwegge Campus Verlag 2021, 303 S., 22,95 €
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