Am 24. Oktober 2012 wurde, "preisend mit viel schönen Reden“, in Berlin ein Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas eingeweiht. Spät, aber immerhin. Viel führende CDU gedachte mit angemessenem Eifer. Und vielleicht auch passend mit edlem Tuch der Firma Boss (die sich – im Gegensatz zu manchem frühen Adenauer-Personal – inzwischen immerhin der Aufarbeitung ihrer Vergangenheit gestellt hat)?
Die Wirklichkeit wird bei solchen Anlässen eher nicht sichtbar. Sie zeigt sich umso deutlicher, je weniger öffentlich und spektakulär es wird. Zum Beispiel im baden-württembergischen Landtag anlässlich einer Debatte über zwei Anträge auf Ministerentlassung durch die CDU-/ CDU-FDP-Opposition am 14. Dezember 2012, deren Protokoll nun online zugänglich gemacht wurde.
Interessant in diesem Zusammenhang ist die Setzung politischer Prioritäten der Opposition, was den Zeitpunkt der Debatte wie deren Inhalt betrifft. Jeder möge sich anhand der folgenden Auszüge selbst ein Bild davon machen.
Aus dem Protokoll der 55. Sitzung des Landtags von Baden-Württtemberg,15. Wahlperiode
Stuttgart, Freitag, 14. Dezember 2012 • Haus des Landtags
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Begrüßung der Premierministerin der Provinz Westkap, Republik Südafrika, Frau Helen Zille, und ihrer Delegation 3288 [Hervorhebung von SG]
1. Antrag der Fraktion der CDU und der Fraktion der FDP/DVP – Entlassung der Ministerin für Kultus, Jugend und Sport Gabriele Warminski-Leitheußer – Drucksache 15/2807
– dringlich gemäß § 57 Absatz 2 Nummer 3 GeschO
2. Antrag der Fraktion der CDU – Entlassung des Ministers für Finanzen und Wirtschaft Dr. Nils Schmid – Drucksache 15/2808
– dringlich gemäß § 57 Absatz 2 Nummer 3 GeschO 3221
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Ministerpräsident Winfried Kretschmann: Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Wir befinden uns mitten in den Haushaltsberatungen. Das ist bekannterweise eigentlich die Stunde der Opposition, in der sie die Regierung präzise, sachkundig angreift.
(Abg. Hans-Ulrich Sckerl GRÜNE: Tja!)
Statt dass Sie das machen, stellen Sie jetzt Anträge auf Entlassung von gleich zwei Ministern. Jeder weiß: Entlassungsanträge stellt man bei schweren Verfehlungen im Amt.
(Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP: Das sind sie doch!)
Da ist mir von meinem Vorgänger einiges bekannt. Da hätten Sie aktiv werden können, Herr Hauk.
(Anhaltender lebhafter Beifall bei den Grünen und der SPD – Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Warum sind Sie nicht aktiv geworden?)
Da haben Sie sich lieber in Vasallentreue geübt bis zum bitteren Ende.
(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Sie sind auch nicht aktiv geworden, oder? – Abg. Peter Hauk CDU: Das war die Schwäche der damaligen Opposition! Da kam gar nichts!)
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Was Sie hier machen, das ist blanker Populismus – blanker Populismus!
(Beifall bei den Grünen und der SPD – Abg. Peter Hauk CDU: Was Sie hier machen, ist beleidigte Leberwurst spielen!)
Warum ich ziemlich geladen bin, das sage ich Ihnen noch zum Schluss, Herr Kollege Hauk.
(Abg. Dr. Hans-Ulrich Rülke FDP/DVP: Das sind Sie immer, wenn man Sie kritisiert! – Zuruf des Abg. Peter Hauk CDU – Unruhe)
Man trägt das hier über einen sachlichen Streit aus, und man stellt keine Entlassungsanträge.
(Abg. Helmut Walter Rüeck CDU: Jetzt kommt der Oberlehrer! – Zuruf des Abg. Peter Hauk CDU)
Sie machen eine Politik der schrillen Töne und jetzt auch noch schrille Aktionen. Sie müssen einfach begreifen: Sie sind abgewählt worden.
(Anhaltender Beifall bei den Grünen und der SPD – Abg. Wolfgang Drexler SPD: Ja! – Abg. Peter Hauk CDU: Und Sie setzen weiterhin auf die Ministerin!)
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Jetzt will ich noch einmal sagen, warum ich auch geladen bin.
(Abg. Dr. Hans-Ulrich Rülke FDP/DVP: Das sind Sie immer, wenn man Sie kritisiert! – Abg. Peter Hauk CDU: Das vertragen Sie halt nicht! – Gegenruf des Abg. Wolfgang Drexler SPD: Zuhören!)
Auf Initiative des ehemaligen Bundesratspräsidenten Wedemeier wird seit 1994 in der jeweils letzten Plenarsitzung des Bundesrats vor der Weihnachtspause der Opfer der Sinti und Roma während der Zeit der NS-Verfolgung gedacht. Anknüpfungspunkt für das Gedenken ist der 16. Dezember 1942, der Tag, an dem der Reichsführer der SS den sogenannten Auschwitz-Erlass unterzeichnet hat.
(Abg. Peter Hauk CDU: Was hat das damit zu tun?)
Aus diesem Anlass sollte ich heute im Bundesrat, und zwar als Bundesratspräsident, eine Rede zum Gedenken der Opfer des nationalsozialistischen Völkermords an den Sinti und Roma und der Gruppe der Jenischen halten.
Ich habe Sie gestern angerufen, Herr Kollege Hauk, und Sie gebeten, die Entlassungsanträge auf den Nachmittag zu verschieben. Diesem Wunsch haben Sie sich kühl verweigert.
(Abg. Wolfgang Drexler SPD: Was? Unglaublich! – Abg. Peter Hauk CDU: Das ist gar nicht wahr! – Abg. Hans-Ulrich Sckerl GRÜNE: Unglaublich! – Zurufe von den Grünen und der SPD: Pfui! – Pfui Teufel! – Unglaublich! – Zuruf des Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU – Lebhafte Unruhe – Glocke der Präsidentin)
Ich möchte wirklich wissen – –
(Anhaltende lebhafte Unruhe – Glocke der Präsidentin)
Stellv. Präsidentin Brigitte Lösch: Liebe Kolleginnen und Kollegen!
(Anhaltende Unruhe – Glocke der Präsidentin)
Ministerpräsident Winfried Kretschmann: Ich möchte wirklich wissen, was es an Ihren Entlassungsanträgen geändert hätte, wenn Sie diese auf heute Mittag verschoben hätten
(Abg. Wolfgang Drexler SPD: So ist es! Pfui Teufel! – Abg. Hans-Ulrich Sckerl GRÜNE zu CDU und FDP/DVP: Unglaublich! – Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Unglaublich! – Lebhafte Unruhe)
und damit dem Bundesratspräsidenten die Möglichkeit gegeben hätten, diese Gedenkrede zu halten. Ich möchte einmal wissen, was da der Unterschied gewesen wäre.
(Anhaltender lebhafter Beifall bei den Grünen und der SPD – Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Es ist unglaublich, was für Zusammenhänge Sie herstellen wollen! Eine Unverschämtheit! Entschuldigen Sie sich! – Lebhafte Unruhe – Glocke der Präsidentin)
Selbstverständlich können Sie solche Entlassungsanträge stellen.
(Abg. Helmut Rau CDU: Sie sind ein Heuchler, Herr Ministerpräsident! – Lebhafte Gegenrufe von den Grünen und der SPD – Glocke der Präsidentin)
Stellv. Präsidentin Brigitte Lösch: Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ministerpräsident Winfried Kretschmann: Es hätte überhaupt nichts geändert, wenn Sie das heute Nachmittag gemacht hätten,
(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Sie stellen Zusammenhänge her! Das ist unglaublich!)
gerade wenn der Bundesratspräsident turnusgemäß vom Land Baden-Württemberg gestellt wird.
(Abg. Wolfgang Drexler SPD: So ist es!)
Das wissen Sie. Ausgerechnet Sie hindern mich daran, das zu machen. Ich habe wirklich die Befürchtung, dass dies bei den Sinti und Roma zu Irritationen führt.
(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Oh!)
Denn sie müssen glauben, mir seien andere Dinge wichtiger. Natürlich ist es klar, dass ich dann, wenn Sie beantragen, zwei Minister zu entlassen – darunter noch meinen Stellvertreter –, hier sein muss. Das gebietet der Respekt vor diesem Haus. Das ist gar keine Frage.
(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Sie sind ja da! Das ist in Ordnung!)
Aber ich möchte noch einmal sagen: Ich hoffe, dass es nicht zu diesen Irritationen kommt.
(Zuruf des Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU)
Aber ich finde, auch das ist ein Zeichen dafür, dass Sie den Weg von Maß und Mitte verlassen haben.
(Anhaltender lebhafter Beifall bei den Grünen und der SPD – Abg. Helmut Walter Rüeck CDU: Kein Wort zu GWL!)
Stellv. Präsidentin Brigitte Lösch: Nach § 82 Absatz 4 der Geschäftsordnung erteile ich Herrn Kollegen Hauk das Wort.
(Zurufe der Abg. Karl Zimmermann CDU und Hans- Ulrich Sckerl GRÜNE)
Abg. Peter Hauk CDU: …....
Das Letzte – das halte ich für den Gipfel der Unverschämtheit –: Sie haben mich gestern um 22:05 Uhr angerufen und mich gefragt, ob es stimme, dass die CDU-Fraktion die Entlassung des Finanz- und Wirtschaftsministers beantragen würde. Das habe ich bestätigt. Sie haben mich dann weiter gefragt, ob wir diesen Entlassungsantrag auf den kommenden Mittwoch verschieben könnten. Das habe ich verneint.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU – Zurufe von der CDU und der FDP/DVP: Aha! – Abg. Friedlinde Gurr-Hirsch CDU: Nicht auf den Nachmittag! Da gibt es nämlich gar keine Sitzung!)
Ich kann sagen: Das ist die Wahrheit.
(Zuruf von der CDU: Das ist der Gipfel! – Zuruf der Abg. Friedlinde Gurr-Hirsch CDU)
Sie haben sehr wohl auf die mit Ihrem Amt als Bundesratspräsident verbundenen Schwierigkeiten hingewiesen; das ist wohl wahr. Vom Nachmittag war nie die Rede,
(Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP: Hört, hört! – Unruhe – Glocke der Präsidentin)
zumal wir als Opposition nicht Herr des Verfahrens in dieser Frage gewesen wären.
(Abg. Wolfgang Drexler SPD: Das ist Blödsinn!)
Davon war nie die Rede.
(Abg. Hans-Ulrich Sckerl GRÜNE: Ein Dringlichkeitsantrag ist in der Geschäftsordnung definiert! – Unruhe – Glocke der Präsidentin)
Es erfolgte in dieser Frage auch keine Bitte.
(Zurufe von den Grünen und der SPD, u. a. Abg. Hans-Ulrich Sckerl GRÜNE: Verlogenes Unschuldslamm!)
Ich will der Ehrlichkeit halber darauf entsprechend hinweisen. Das war auch ein Teil. Das, Herr Ministerpräsident, nehme ich Ihnen auch persönlich übel; um das auch klar zu sagen.
(Anhaltender Beifall bei der CDU und der FDP/DVP – Zurufe von der CDU: Sehr gut! – Abg. Friedlinde Gurr-Hirsch CDU: Alles nur um der Moral willen!)
Stellv. Präsidentin Brigitte Lösch: Das Wort für die Fraktion der FDP/DVP erteile ich Herrn Kollegen Dr. Rülke.
Abg. Dr. Hans-Ulrich Rülke FDP/DVP: ….....
Zunächst einmal möchte ich Sie fragen, warum Sie mich eigentlich nicht angerufen haben.
(Beifall bei der FDP/DVP und Abgeordneten der CDU – Lachen bei Abgeordneten der Grünen – Gegenruf des Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP)
Der Antrag auf Entlassung der Kultusministerin lag gestern um 22:05 Uhr schon längst vor; der muss Ihnen bekannt gewesen sein. Dieser Entlassungsantrag hat die Unterschriften beider Oppositionsfraktionen getragen.
(Abg. Helmut Walter Rüeck CDU: Vermutlich wollte er da noch in Berlin bleiben!)
Also ist doch gar nicht die entscheidende Frage,
(Zuruf des Abg. Wolfgang Drexler SPD)
ob heute Nachmittag die Entlassung des Finanzministers behandelt wird, sondern die entscheidende Frage dafür, ob Sie heute Morgen hierher nach Stuttgart kommen mussten oder nicht, ist die Frage der Entlassung der Kultusministerin.
(Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP: So! – Weitere Zurufe – Unruhe)
Dieser Entlassungsantrag hat beide Unterschriften getragen. Ich frage Sie, warum Sie dann, wenn Ihnen das so wichtig war, nur einen Oppositionsführer angerufen haben.
(Beifall bei der FDP/DVP und der CDU – Oh-Rufe von der SPD – Abg. Wolfgang Drexler SPD: Er ist beleidigt! Das ist natürlich schlimm!)
Herr Ministerpräsident, was Sie hier gemacht haben, ist eine Infamie!
(Unruhe – Glocke der Präsidentin)
Sie haben die Opposition – auch meine Fraktion – in die Nähe von Leuten gerückt, die das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus nicht zulassen wollen. Das ist ein Unding!
(Beifall bei der FDP/DVP und der CDU – Abg. Karl- Wilhelm Röhm CDU: Bravo! Spitze! – Gegenruf des Abg. Hans-Ulrich Sckerl GRÜNE: Mäßigen Sie sich! Das ist niederträchtig! – Lebhafte Unruhe – Glocke der Präsidentin)
Stellv. Präsidentin Brigitte Lösch: Herr Abg. Dr. Rülke! Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, sich im Ton zu mäßigen – auch Sie, Herr Fraktionsvorsitzender Dr. Rülke.
(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Nein! Er hat völlig recht! Es ist sein gutes Recht, sich dagegen zu verwahren! Es ist sein gutes Recht, seine Empörung zu zeigen! – Gegenruf des Abg. Hans-Ulrich Sckerl GRÜNE: Schauspieler! – Anhaltende lebhafte Unruhe)
Ich bitte Sie, sich in der Lautstärke und im Ton zu mäßigen.
Abg. Dr. Hans-Ulrich Rülke FDP/DVP: Frau Vizepräsidentin, einverstanden. Ich mäßige mich in der Lautstärke,
(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Unglaublich!)
aber ich mäßige mich nicht in meiner Aussage.
(Unruhe)
Das, was Sie hier getan haben, Herr Ministerpräsident, insbesondere auch gegenüber meiner Fraktion, ist eine Infamie, die sich seit 60 Jahren keiner Ihrer Vorgänger an diesem Platz geleistet hat.
(Beifall bei der FDP/DVP und der CDU – Abg. Karl- Wilhelm Röhm CDU: So ist es! Bravo! – Abg. Muhterem Aras GRÜNE: Hier sitzen doch Schülergruppen! Das ist doch peinlich!)
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Für ganzheitlich Interessierte gibt es auch eine Video-Aufzeichnung der Debatte. Besonders unterhaltsam wird es nach 1:03:00, wenn der Fraktionsvorsitzende der FDP in einem therapeutisch eher wenig nachhaltigen Urschrei-Versuch demonstriert, weshalb er seitdem mitunter liebevoll „Brüllke“ genannt wird.
Zum Thema allegemein:
http://www.fr-online.de/politik/gastbeitrag-ein-gefaehrliches-spiel,1472596,21559324.html
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