Jugend. Strafe. Recht. Ein Überblick (1)

Jugendstrafrecht Der überraschende Tod von Kirsten Heisig und der Beginn des Prozesses gegen die Münchner „S-Bahn-Mörder“ erinnern uns wieder einmal an das Thema "Jugendstrafrecht".

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Warum härtere Jugendstrafen nichts bringen“ übertitelte Welt Online einen Beitrag vom 5. Juli 2010, der sich mit den Thesen des US-Hirnforschers Laurence Steinberg beschäftigt (www.welt.de/wissenschaft/article8311576/Warum-haertere-Jugendstrafen-nichts-bringen.html). Der Zeitpunkt verwundert einigermaßen, denn einen kleinen Medien-Hype um Steinberg hatte es eigentlich anläßlich der Verleihung des Klaus-J.-Jacobs-Forschungspreises am 3. Dezember 2009 in Zürich gegeben (www.jacobsfoundation.org/cms/fileadmin/jacobs/Documents/Corporate_Publications/2010_preisbrochure_d.pdf). Aber irgendwie scheint das Thema derzeit in der Luft zu liegen: der überraschende Tod von Kirsten Heisig und der Beginn des Prozesses gegen die Münchner „S-Bahn-Mörder“ am 13. Juli legen es ebenso nahe wie die Diskussion um die Sicherungsverwahrung. Und wie der Zufall es will, diese Woche beschäftigen sich auch das Nachrichtenmagazin Time und eine Rezension der Nachdenkseiten mit dem Themenkomplex. Time vergleicht unter dem Titel „Sentenced to Serving the Good Life“ (July 12, 2010) den norwegischen Strafvollzug mit dem im eigenen Land. Die Nachdenkseiten beschäftigen sich mit dem Buch von Loïc Wacquant „Bestrafen der Armen. Zur neoliberalen Regierung der sozialen Unsicherheit“ (www.nachdenkseiten.de/?p=6123#more-6123). Hinreichend Anlaß also, ein paar Links zum Thema zusammen zu tragen.

In der Welt bekräftigt Laurence Steinberg seine These, Jugendliche und Heranwachsende seien im Strafrecht deshalb anders zu behandeln als Erwachsene, da ihr Gehirn noch anders funktioniere. Weil das jugendliche Gehirn extrem auf kurzfristige Gewinne ausgelegt sei, gleichzeitig aber die langfristigen Kosten (noch) nicht eingeschätzt werden könnten, hätten harte Strafen keinen abschreckenden Effekt: „Heranwachsende sind weniger in der Lage, ihr Verhalten zu steuern. Sie sind weniger verantwortlich – sie müssen bestraft werden, aber nicht im selben Maße wie Erwachsene“. Etwas wissenschaftlicher formuliert:

Adolescence is characterized by an increased need to regulate affect and behavior in accordance with long-term goals and consequences, often at a distance from the adults who provided regulatory structure and guidance during childhood.“

First, much brain development during adolescence is in the particular brain regions and systems that are key to the regulation of behavior and emotion and to the perception and evaluation of risk and reward. Second, it appears that changes in arousal and motivation brought on by pubertal maturation precede the development of regulatory competence in a manner that creates a disjunction between the adolescent’s affective experience.“

...the developments of early adolescence may well create a situation in which one is starting an engine without yet having a skilled driver behind the wheel.“ (www.scribd.com/doc/2074118/Cognitive-and-Affective-Development-in-Adolescence-Laurence-Steinberg)

Zum einen sei also bei Jugendlichen die Impulskontrolle noch unzureichend ausgebildet – dies sei erst ab etwa Mitte 20 der Fall - ; zum andern sei der Botenstoff Dopamin bei ihnen so aktiv wie in keiner anderen Lebensphase, was sie in einer Art permanentem Rauschzustand halte: „Belohnungen fühlen sich daher für Jugendliche belohnender an. Musik klingt besser, Lachen mit Freunden ist intensiver, schnelles Autofahren toller.“

Schließlich spielten für Jugendliche die Kumpels eine größere Rolle als dies bei Erwachsenen der Fall ist. Im Kreis der Freunde sei bei ihnen das Belohnungssystem wesentlich aktiver: „Wenn sie dann in eine riskante Situation kommen, leitet es mehr Aufmerksamkeit auf die Belohnungen und weniger Aufmerksamkeit auf die Kosten.“ Genauer formuliert er es in der New York Times: „...for adolescents, just having friends nearby doubles the number of risks they take. We’ve found that a certain part of the brain is activated by the presence of peers in adolescents, but not in adults.“ (www.nytimes.com/2009/12/01/science/01conv.html) Dies kann nicht nur im Alltag in Freiheit zu riskantem Problemverhalten führen, wo die „Belohnung“ durch den Kick in den Fokus gerät („A lot of adolescent crime is driven by thrill-seeking.“ a.a.O.), sondern auch innerhalb einer Gefängnisstruktur eine kriminelle Sozialisation verstärken.

Gerade bei Jugendlichen und Heranwachsenden seien deshalb z.B. das (gemeinschaftliche) Training von Aggressions- und Impulskontrolle, Therapie von Drogenproblemen usw. aus neurowissenschaftlicher wie ökonomischer Sicht wesentlich angebrachter als das Wegschließen in Gefängnissen – wie dies vor allem in den USA sehr stark der Fall ist:„Gefängnis ist sehr teuer, und es funktioniert nicht. Andererseits wissen wir, dass Jugendliche, die man in der Gemeinschaft behandelt, statt sie einzusperren, denen man eher mit Hilfestellungen als mit Strafen begegnet, viel eher dazu zu bringen sind, mit den Verbrechen aufzuhören.“ (Rheinischer Merkur Nr. 3, 21.01.2010 / www.merkur.de/2010_03_gg_steinberg.39706.0.html?&;no_cache=1)

Klingt in dieser Kürze für unsere Ohren etwas banal. Wenn man dem aber etwas weiter nachgeht, kann man doch auf Manches stoßen, was zur Überprüfung der eigenen Meinung und zur fundierteren Argumentation in einschlägigen Debatten nützlich sein kann. Daher noch einige weitere Links, wobei ich mit eher einfacheren deutschsprachigen Medienberichten beginnen und dann zu etwas wissenschaftlicheren englischsprachigen Texten übergehen möchte:

www.merkur.de/2010_03_gg_steinberg.39706.0.html?&;no_cache=1

www.bernerzeitung.ch/leben/gesellschaft/Unsere-Kinder-werden-viel-zu-hart-bestraft/story/23010883

www.zeit.de/2009/51/C-Interview-Psychologie

www.podcast.de/episode/1427889/Laurence_Steinberg_und_das_jugendliche_Gehirn

thedianerehmshow.org/audio-player?nid=201

www.nytimes.com/2009/12/01/science/01conv.html

www.scribd.com/doc/2074118/Cognitive-and-Affective-Development-in-Adolescence-Laurence-Steinberg

www.teach.virginia.edu/component/content/article/121-lectureship/2380-education-research-lectureship-series-laurence-steinberg

www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2396566/pdf/nihms33852.pdf

www.neuro24.de/show_glossar.php?id=12

www.uni-konstanz.de/rtf/ki/Jugendkriminalitaet-2002-9.htm

Was bei uns zwar auch noch nicht weit genug durchgedrungen ist, klingt, wie gesagt, gleichwohl etwas banal. Vor dem Hintergrund der USA , wo Steinberg maßgeblich am Verbot der Todesstrafe für jugendliche Täter 2005 beteiligt war, sieht es aber schon ganz anders aus:

Der Beginn der Strafmündigkeit wird in den USA von den Bundesstaaten festgelegt und liegt – je nach Staat – zwischen dem vollendeten 6. und dem vollendeten 12. Lebensjahr.“ (de.wikipedia.org/wiki/Kindheit_und_Jugend_in_den_Vereinigten_Staaten)

Eine 2004 vom House Committee on Government Reform in Auftrag gegebene Studie ergab, dass in den amerikanischen Jugendstrafanstalten im Jahre 2003 ca. 15.000 geisteskranke Kinder und Jugendliche nur deshalb untergebracht waren, weil sie keinen Zugang zu adäquater Behandlung hatten. In 33 Bundesstaaten war es möglich, geisteskranke Kinder und Jugendliche auch dann in Haft unterzubringen, wenn diese nicht gegen das Strafrecht verstoßen hatten.“

Mit seiner Entscheidung im Verfahren Roper v. Simmons hat der U. S. Supreme Court 2005 festgestellt, dass es verfassungswidrig sei, einen Straftäter, der bei Ausübung der Tat jünger als 18 Jahre war, hinzurichten. Bis zu diesem Zeitpunkt konnte noch in 19 Bundesstaaten Todesurteile gegen Personen vollstreckt werden, die die Tat im Alter von unter 18 Jahren begangen hatten“ (de.wikipedia.org/wiki/Kindheit_und_Jugend_in_den_Vereinigten_Staaten). Besondere Brisanz erhält in diesem Zusammenhang Steinbergs Aussage: „“there are studies that say that adolescents are more likely than adults to give false confessions (www.nytimes.com/2009/12/01/science/01conv.html).

Wie sich dies praktisch in den Medien widerspiegelt soll beispielhaft in den folgenden Links dokumentiert werden:

www.spiegel.de/panorama/justiz/0,1518,378302,00.html

www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,526461,00.html

www.taz.de/1/politik/amerika/artikel/1/nur-noch-im-gefaengnis-sterben/

www.rundschau-online.de/html/artikel/1273842566927.shtml

www.spiegel.de/panorama/0,1518,134524,00.html

www.der-jugendrichter.de/html/kindergericht.html

Hierzulande wurde die Öffentlichkeit vor allem auch anläßlich des Falles des Raoul Wütrich auf das etwas andere juristische Vorgehen gegen Kinder und Jugendliche in den USA aufmerksam:

www.welt.de/print-welt/article589639/Hilfe_fuer_einen_Spielball_der_amerikanischen_Justiz.html

www.zeit.de/1999/44/199944.entscheiden.raou.xml

www.spiegel.de/panorama/0,1518,48923,00.html

www.medienheft.ch/kritik/bibliothek/Diplomarbeit_BartKatharina.pdf

Deutlich stärker könnten aber – angesichts der pauschalen Forderungen nach Strafverschärfungen - andere Äußerungen Steinbergs hierzulande aufhorchen lassen:

92 Prozent aller jungen Straftäter werden als Erwachsene keine Verbrechen mehr begehen. Sie nennen das vielleicht Optimismus, ich nenne es Wissenschaft. Wenn man zum Beispiel sagt, ein 13-Jähriger werde sich nie mehr rehabilitieren, ist das falsch. Denn die Wissenschaft zeigt, dass das in den allermeisten Fällen klappt. …. Einige Jugendliche müssen in der Tat weggesperrt werden, weil sie gefährlich sind. Dann geht es nicht darum, diese Jugendlichen zu resozialisieren, sondern darum, die Gesellschaft zu schützen. Die Zahlen, die wir haben, zeigen, dass nur etwa fünf bis acht Prozent wieder straffällig werden.“

Was haben wir erreicht, wenn ein Junge acht Monate im Gefängnis sitzt? ...er verpasste die Schule für ein Jahr, er wurde in eine Gemeinschaft mit anderen Kriminellen eingeschlossen, von denen er mit Sicherheit nicht profitiert, und dann kommt er zurück in eine Umgebung, mit der er vorher schon nicht klargekommen ist. Wer ist denn da überrascht, wenn der Betreffende weitere Verbrechen begeht?“

In Staaten wie Kalifornien kostet ein Gefängnisplatz pro Jahr 100 '00 Dollar. Diese Geldverschwendung ist einfach schockierend. Sie können ein Kind für weniger Geld ein Jahr lang nach Harvard schicken, als es für ein Jahr im Gefängnis kostet.“ (Alle Zitate aus der Berner Zeitung vom 13.11.2009 / www.bernerzeitung.ch/leben/gesellschaft/Unsere-Kinder-werden-viel-zu-hart-bestraft/story/23010883)

Ein letztes Zitat schließlich klingt wie eine Art Motto, unter das man, geht man nach den Medienberichten, die Arbeit von Kirsten Heisig stellen könnte:

Gute Eltern begegnen ihren Kindern mit viel Wärme, sie setzen aber auch klare Grenzen und leben klare, einsichtige Regeln vor, die sie auch durchsetzen. Und sie unterstützen das psychologische Bedürfnis der Kinder, autonome Persönlichkeiten zu werden. Kinder von solchen Eltern bringen bessere Leistungen in der Schule. Nicht günstig für die Entwicklung der Kinder sind sowohl eine autoritäre wie auch eine nachlässige Erziehung.“(a.a.O.)

Ein bißchen anders formuliert es der Psychologe Wolfgang Bergmann im SWR, wenn er über gewalttätige Kinder und Jugendliche spricht:

Also diese Kinder haben ein enormes Bedürfnis nach Verlässlichkeit. Sie spüren insgeheim was ihnen fehlt. Sie haben aber auch ein enormes Bedürfnis danach einem starken Erwachsenen zu begegnen. Stark, da muss man nicht so doll sein, die Kinder tragen diese Bedürftigkeit an einen heran, man darf sie dabei nur nicht enttäuschen.“

....bei kleinen Jungen, ob die nun 8 Jahre und klein sind, oder 16 Jahre und immer noch klein insgeheim, bei denen ist das natürlich noch ausgeprägter. Die wollen dann auch die Stärke des Gegenüber, des Erwachsenen, spüren. Der muss wie ein Fels in der Brandung, in diesem eben beschriebenen Durcheinander einer konfusen und letztlich feindlichen Welt sein.“ (www.swr.de/swr2/programm/sendungen/leben/-/id=660174/nid=660174/did=3367088/1izdeeg/index.html / dort Manuskriopt oder Podcast)

Aus der Sicht eines Betroffenen schildert ein ZEIT-Dossier es so: „Wenn man Marco fragt, was er in Deutschland ändern würde, dann sagt er, „ick würde härtere Strafen einführen“. Drei Jahre für jemanden wie ihn, ohne Kontakt zu anderen Gefangenen. So als ob er jede Chance, die ihm einer wie Daniel [Jugendrichter] gibt, als Schwäche auslegt. Und nicht versteht, warum man ihn anders behandelt als er seine Opfer.“ (ZEIT Nr 28 2010). Klingt wie ein Widerspruch zur eingans zitierten Schlagzeile. Muss es aber nicht sein – wenn man genau liest, was Steinberg und Bergmann sagen.

Weiterführende Links hierzu und Schluß siehe Teil 2:

www.freitag.de/community/blogs/seriousguy47/jugend-strafe-recht-versuch-eines-ueberblicks-2

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

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