London Riots 2011: Soziale Unruhen in Großbritannien

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Als Margaret Thatcher in den 80er Jahren angesichts einer schweren und andauernden Wirtschaftskrise ihr Heil in einer markt-radikalen Ideologie suchte, über den britischen Wohlfahrtsstaat herzufallen begann und der Unterschicht im allgemeinen und den Gewerkschaften, im besonderen quasi den Wirtschafts-Krieg erklärte (und gewann), wurde das vielerorts lange als beispielhaft gepriesen und auch so mancher deutsche Journalist, Wissenschaftler, Politiker oder Manager träumte etwas später von einem deutschen Thatcherismus, der die „Überregulierung“ endlich zerschlagen und dem Kapitalismus seinen freien Lauf (zurück)geben möge. Im Klartext hieß das Krieg (Klassenkampf von oben) und auf seiner verbrannten Sozialstaats-Erde sollte eine neue, profitablere Wachstums-Gesellschaft entstehen. [1]

Thatcher gelang es, die wirtschaftliche Macht zu „deregulieren“ und die Profite vom Zwang zum Teilen zu befreien. Privatisierungen und das britische Öl halfen, den Staat einigermaßen am Funktionieren zu halten und zumindest in der Mittelschicht den Schein einer Gesellschaft der Eigentümer *) zu erwecken. Die „City“ erinnerte sich an die glorreichen Zeiten des britischen Imperialismus und führte ihn in Form eines Finanzimperialismus wieder ein, der die ihn betreibende Kaste schnell superreich machte und mit seinen Brosamen auch anderen beim Überleben half. Und während im Norden die Deindustrialisierung wütete und ganze Regionen in Armut stürzte, genoss der Süden eine gewisse Prosperität.Urs Lesse hat es in einer Analyse des Thatcherismus so resümiert:

Kein Nachkriegspremier hat die die britische Gesellschaft prägenden Gegensätze in dem Maße verschärft wie Margaret Thatcher. So hat sich die Arbeitslosigkeit in ihren ersten beiden Regierungsjahren glatt verdoppelt, eine auch im internationalen Vergleich verheerende Bilanz, die jedem Vorgänger wohl mit Sicherheit politisch das Genick gebrochen hätte....Von den sozialen Umbrüchen überdurchschnittlich betroffen sind die traditionell ohnehin schwächer strukturierten Landesteile wie der Norden und Schottland. Diese Regionen haben ein doppeltes „Ausbluten“ hinnehmen müssen. So ist nicht nur ihre Bevölkerungszahl in den achtziger Jahren geschrumpft; zu den Abwanderern zählen insbesondere gut ausgebildete junge Leute mit guten Perspektiven, sich in der verschärften Konkurrenz des thatcheristischen Großbritanniens behaupten zu können. Darüber hinaus hat hier aber auch die Beschäftigung einen über dem gesamtstaatlichen Durchschnitt liegenden Rückgang erfahren.“[2]

Am oberen Ende steht nun die Edel-Kriminalität der Zocker mit Privatschulvergangenheit, die im Casino-Kapitalismus der „City“ auf Rechnung und Kosten anderer ihr regelloses Unwesen treiben und - zusammen mit der ebenso zügellosen US-Finanzindustrie - die Welt in die andauernde Finanzkrise getrieben haben und dies weiterhin tun, weil ihre Kumpels aus dem Old Boy Network in Regierung und Parlament sich nicht mit ihnen anlegen wollen [3]. Geraint Anderson, Ex-Investmentbanker, Kolumnist und Sohn des britischen Labour-Abgeordneten Donald Anderson, Baron Anderson of Swansea, hat das Innenleben der Branche, wie es sich aus seiner Sicht darstellt, pointiert beschrieben. [4]Am unteren Ende steht die deregulierte Jugend nicht nur des weißen und farbigen Prekariats. Und auch sie wollen offenbar auf Kosten anderer zumindest die Illusion jenes „besseren“ Lebens haben, das die Werbung ihnen ständig als wünschenswert vorgaukelt. Und das setzen sie aktuell, da es wieder einmal einen passenden Auslöser gegeben hat, in ihrer Randale um. Sie scheinen, wie die City Boys, Thatchers ewig pubertäre Urenkel zu sein und Uromas Sozialdarwinismus auf ihre Weise, mit ihren (Gruppen-)“Normen“ und mit ihren Mitteln umzusetzen. Und auch sie tun es häufig auf Kosten derer, die ohnehin ganz unten zurecht kommen müssen, während die dort oben in den Glaspalästen, hoch über der verbrannten Erde weiter ungeschoren ihre Profite mehren können.

Unten dagegen waren Mitte 2010 20 Prozent der jungen Leute zwischen 16 und 24 arbeitslos. Das war eine dreimal höhere Arbeitslosenquote als bei den Erwachsenen und die höchste Quote in 18 Jahren. Unter den Armen lag der Anteil der besonders Armen (in deepest poverty, weniger als 40% des mittleren Einkommens) 2008/09 bei 44 Prozent, was der höchste je gemessene Prozentsatz war. [5] Zumindest die also müssen sich dann wohl schon etwas einfallen lassen, wenn sie auch mal groß schoppen wollen – um es mal zynisch zu formulieren.

Das Erstaunliche dabei ist für mich, dass diese aktuellen Riots durchaus in einer langen Tradition der Gewalt mit ethnischen Bezügen stehen, die, als erster großer Rassenkonflikt 1958 in Notting Hill von Weißen gestartet wurde, wo, wie es der Zufall so will, später der oben genannte Investmentbanker Geraint Anderson (City Boy) geboren wurde. Und sie stehen für mich auch im nicht-ethnischen Kontext des chronischen Fußball-Rowdytums oder der alkoholbedingten Exzesse andernorts. Irgendwie scheint die den Briten zugeschriebene stoische Gelassenheit und Disziplin - unabhängig von Klasse oder Ethnie - diesen Gegenpol zu haben. Oder er scheint in diesem Kontrast stärker aufzufallen.

Riots have occurred before the rapid urbanisation starting in the mid-20th Century, hence the occurrence of riots in urban areas in itself is not special. While a riot may be initially sparked by a specific event, scholars, commentators and commissions have sought to identify the deeper reasons and have identified a number urban conditions that may underline urban riots. These urban conditions are often associated with urban decay more generally and may include: discrimination, poverty, high unemployment, poor schools, poor healthcare, housing inadequacy and police brutality and bias.“[6]

Wären aktuell wohl noch anzufügen: der über die Werbung und Peergroups erzeugte Druck, bestimmte Symbolgüter zu besitzen, zerfallende verwandtschaftliche, nachbarschaftliche und staatlich organisierte Strukturen und der zunehmende Ersatz familiär und staatlich vermittelter Werte durch medial und subkulturell vermittelte, um nur das zu nennen, was mir so spontan einfällt.

[1] www.zeit.de/2000/42/Das_Erbe_der_Eisernen_Lady

*) en.wikipedia.org/wiki/Ownership_society

www.cato.org/special/ownership_society/boaz.html

www.thedailybeast.com/newsweek/2008/10/10/end-of-the-ownership-society.html

[2] urs-lesse.de/thatcherismus.pdf

de.wikipedia.org/wiki/Margaret_Thatcher

en.wikipedia.org/wiki/Margaret_Thatcher

www.nachdenkseiten.de/?p=10413

[3] en.wikipedia.org/wiki/Old_boy_network

en.wikipedia.org/wiki/Yes_Minister

[4] www.dailymail.co.uk/femail/article-1029229/Sex-City-Boy-Champagne-cocaine-prostitutes--Square-Mile.html

www.sueddeutsche.de/wirtschaft/cityboy-autor-geraint-anderson-ich-fuehle-mich-wie-ein-suender-1.523020

www.spiegel.de/spiegel/print/d-62603861.html

www.welt.de/finanzen/article2375791/Investmentbanker-im-Sumpf-von-Sex-und-Drogen.html

www.karriere.de/beruf/wie-pubertaere-jungs-mit-500-000-pfund-taschengeld-8437/

www.arte.tv/de/2326990,CmC=2326794.html

www.cityboy.biz/?q=node

Video: Der grosse Rausch - ein Banker packt aus:

www.youtube.com/watch?v=mAaBVPVgwGo

www.youtube.com/watch?v=UYcHkdAa-vk&;;;;;;;feature=related

www.youtube.com/watch?v=xVPVXddnKo4&;;;;;;;feature=related

www.youtube.com/watch?v=BZwAS2_o8Hw&;;;;;;;feature=related

www.youtube.com/watch?v=-6lgEhOOaco&;;;;;;;feature=related

[5] www.poverty.org.uk/reports/mpse%202010%20findings.pdf

[6] en.wikipedia.org/wiki/Urban_riots


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Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

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