S21: Der Flachschwätzer

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Es gibt Journalisten. Die sammeln Informationen, recherchieren, analysieren, reflektieren das, was ihnen vorliegt kritisch und kommunizieren es verantwortlich. Es gibt Literaten. Die versuchen, die Wirklichkeit auch recherchierend, aber stärker reflektierend und vor allem mit den Mitteln von Phantasie und inneren Bildern zu verarbeiten. Und es gibt Schwätzer, zu denen mit Sicherheit auch ich selbst gehöre. Allerdings bekenne ich mich dazu und erhebe auch keine weiteren Ansprüche. Andere betreiben es als Profession, was bedingt, dass mit ihren Produkten eine große Leserschaft erreicht - und nach Möglichkeit beeinflusst werden muss, was schon sehr viel problematischer ist. Zum Beispiel, wenn man es als Journalist betreibt.

Eine große Leserschaft erreicht man natürlich nicht, wenn man als Schwätzer erkennbar ist. Es gilt also, seine fachliche Inkompetenz, Uninformiertheit, Recherche-Faulheit und Oberflächlichkeit möglichst unkenntlich zu machen. Die Sprache muss flott und schick daherkommen. Die Begrifflichkeit muss klug und kompetent klingen. Und der Text braucht eine eigene Kategorie, durch die er sich nicht nur von anderen unterscheidet, sondern die am besten auch noch höheren, oder gar höchsten Adel suggeriert.

So wurde wohl der SPIEGEL-Essay erfunden. Und Dirk Kurbjuweit gehört zu den Meistern des Metiers, wie sein jüngster Flachtext über den "Wutbürger" beweist (SPIEGEL 41/2010). Dass der Text bislang nicht online eingestellt ist, gehört wohl zum Geschäftsmodell "Sarrazin": das Publikum wird mit Provokationen heiß gemacht und kauft sich den Schmarrn. Und der Schreiber hat sich wieder einmal bezahlt gemacht - was in der Folge dazu führt, dass er weiteren Unsinn verbreiten darf.

So erhält sich dieses System der Desinformation und Volksverblödung am Leben - und der Autor dieser Zeilen muss sich eingestehen, daran mitzuwirken, sofern er es nicht lassen mag, das Machwerk zu kritisieren. Interessant wäre dabei die Frage, was mehr gelesen wird und tiefere Spuren im Gedächtnis hinterlässt, Simone Kaisers aufklärerischer und online zu lesender Bericht über die Mogeleien der Bahn (1) oder Kurbjuweits anti-aufklärerischer Egotrip, der lediglich eine Funktion haben dürfte: die Selbsterhebung des TOLLEN Autor über den protestierenden PÖBEL in Stuttgart.

Dabei ist Kurbjuweits "Wutbürger" bereits bei der ersten Charakterisierung als Aufwärmung der "Hassfigur Mallorcarentner" (Harald Martenstein) (2) erkennbar, den die Medien bereits während ihres neoliberalen Kreuzzugs als vorübergehenden "Juden"-Ersatz entdeckt hatten: "Er ist konservativ, wohlhabend und nicht mehr jung....Er zeigt sich bei Veranstaltungen mit Thilo Sarrazin und bei Demonstrationen gegen das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21." (Kurbjuweit)

In Stuttgart treibt ihn "die nackte Wut", im Verbund "brüllen und hassen“ sie. „Tag für Tag" und mögen so gar nicht "Weltbürger" sein. Wobei Weltbürger in Wahrheit China-Bürger meint: "Die nächste Moderne wird von chinesischem Tempo und chinesischen Dimensionen bestimmt werden." Und natürlich von chinesischen Methoden. Aber das spricht Kurbjuweit besser (noch) nicht aus. Am 30.09.2010 aber konnte man im Schlossgarten aber schon mal vorschmecken.

Und Weltbürger Kurbjuweit,selbst offenbar ganz Provinz, schert sich auch erst gar nicht, zur Kenntnis zu nehmen, was die Zeitung der Weltbürger, die New York Times zum Stuttgarter Hauptbahnhof schreibt ("Elegant Rail Station"(3) . Und was sind schon architektonische Kritiker Ingenhovens (4) gegen IHN, Kurbjuweit, den Großmufti der Welterklärung. Nein, in seinen provinziell verengten Weltbürger-Augen ist der Bonatzbau bloße "Miefigkeit", das Science-Fiction Fossil aus dem vergangenen Jahrhundert (5) von Ingenhoven dagegen "so kühn und elegant, dass er das Image dieser Stadt aufpolieren kann. Stuttgart würde im globalen Wettbewerb der Metropolen weit besser aussehen." Wow.

So dumm kann "Essay" sein, wenn offenbar man dieselben Groschenhefte wie der Architekt gelesen hat . Und natürlich denken nicht Kurbjuweit oder Ingenhoven nur "an sich, nicht an die Zukunft [s]einer Stadt". An die eigene Selbsterhöhung selbst auf Kosten des Allgemeinwohls. Nein, es ist der Wutbürger, der so tickt . Egoistisch will er die grüne Lunge seiner Stadt, eine der letzten intakten Frischluftschneisen zu ihrem Kessel, die Gleisfläche, die wie keine andere Fläche dort zur nächtlichen Abkühlung beiträgt für seine Enkel und deren Kinder erhalten. Kein Verständnis hat er für die Dürrs, Rommels, Schusters, Mappusse, Grubes, Ingenhovens oder Kurbjuweits, die meinen, den eigenen inneren Provinzmief durch äußerliches Protzgehabe übertönen zu müssen.

Dass Stuttgart dem schwulen John Cranko früh nicht nur zu „Asyl“, sondern auch zu internationalem Ansehen verholfen hat (6), das auch den Namen Stuttgart mit mehr assoziieren ließ als Daimler, Porsche und Bosch. Und das trotz des Paragraphen 175 (7). Dass Rillings Bach-Akademie weltweit Dependancen hat (8). Dass hier u.a. Peymann (9) , Palitzsch (10) oder Wieland Wagner zugange waren. Dass Stuttgart das "Winterbayreuth" (11) ist und war, das gelegentlich mehr begeisterte als das Original. Das alles weiß Kurbjuweit offenbar nicht. Muss man als SPIEGEL-Spießer auch genauso wenig wissen wie die Sache mit der Uraufführung von Akhnaten von Philip Glass 1984 in Stuttgart (12). Und natürlich weiß auch nur der Provinzspießer aus Stuttgart, dass die hiesige Staatsoper selbst im TIME Magazine für die Aufführung der gesamten Trilogie über Männer der Gewaltfreiheit von Glass gerühmt wurde. Weltbürger Kurbjuweit braucht so etwas nicht zu lesen. Schließlich arbeitet er ja für das WELTMAGAZIN schlechthin.

Stuttgart IST Metropole. Allerdings keine der grellen Bemalung und des lautstarken Protzens, sondern eine, in der an Qualität gearbeitet wird und die mit Qualität international überzeugt. Ein Bosch hatte es nicht nötig, zu protzen. Und ein Bosch hatte auch keinen Klassenkampf nötig. Er überzeugte durch seine Produkte. Die Metropole, die Kurbjuweit & Co sich erträumen hat Qualität nicht zu bieten - wie man an seinem Text unschwer erkennt. Sie brauchen und reagieren nur auf Protz und Geprahle. Ohne das wären sie nichts. Einen Essay haut man schnell hin. Recherche ist dagegen Arbeit, sie überzeugt nicht durch grelle Provokation oder PR, sondern durch Inhalt und Qualität. Und eine Metrople der Qualität ist Stuttgart. Und zwar für Kultur und Kommerz.

Und Stuttgart war bis Ingenhoven auch eine Metropole der Lebensqualität. Sie soll nun durch eine kultur- und geschmacklose Clique aus Kapital und Politik zerstört werden. Und das hat weder mit Sarrazin, noch mit Windparks, noch mit Zukunftsvergessenheit zu tun, sondern mit der Zerstörung eines Kulturdenkmals und eines Stadtparks. Und zwar aus der Unfähigkeit heraus, kreativ Alternativen zu denken. Genau davon aber schweigt nicht nur Kurbjuweit, sondern schweigen auch die meisten anderen medialen Hofschranzen und Hofnarren, die sich ihre Silberlinge mit Propaganda für genau diese Clique verdienen, deren PR-Sprüche sie aus der Ferne gerne weiterverbreiten, anstatt sich der Mühe ihrer qualifizierteren Kollegen zu unterziehen, und sich vor Ort kundig zu machen.

Bei einer solchen Recherche hätte Herr Kurbjuweit auch lernen können, dass es wohl schlecht zusammengeht, einerseits Sarrazin zuzugröhlen, andererseits bei den Kundgebungen und Demonstrationen Seite an Seite mit jeder Menge "Migrationshintergrund" und einer ganzen Hautfarbenpalette zusammen zu stehen und zu gehen. Er hätte dabei auch feststellen können, dass Stuttgart eine Metropole der Integration ist. Und der Zusammenarbeit. Auch von alt und jung. Dass man zu bestimmten Tages- und Nachtzeiten außer den hoch willkommenen jungen "Berufsdemonstranten" auf so viele ältere Bürger trifft, hat nämlich damit zu tun, dass andere noch arbeiten oder zur Schule gehen müssen. Und dass dann Ältere nicht ihre Rente auf Mallorca verprassen, wie Kurbjuweit und die Seinen gerne wähnen, wenn es mal gerade nichts anderes zu hetzen gibt, sondern sich an eine Aufforderung der OECD halten, vermag ich nicht zu verurteilen: "Künftig müssten die Menschen zum "aktiven Altern" erzogen werden - aktiv im Job, in der Familie, in der Nachbarschaft."(13)

Weit weg von der Realität lässt sich natürlich jedes beliebige Cliché mit jedem beliebigen anderen zusammenphantasieren, um das erwünschte Essay-Gebräu zusammenzurühren. Da geraten dann auch schon mal geographische Gegebenheiten außer Schreibweite. Zum Beispiel bei dem Schwachsinn, der Bahnhofsneubau, von dem er nichts mehr haben werde, vergälle dem hassend brüllenden Alten am Gehstock das Leben. Jeder, der auch nur einmal in der Gegend war, weiß, dass da ohnehin kaum jemand lebt. Und schon gar kein Alter. Wem also sollte da was vergällt werden - außer dem innerstädtischen Einzelhandel, der Mühe haben wird, das Baustellen-Desaster und den ECE-Neubau zu überleben? Oder den Bahnkunden, die jetzt schon vom kommenden Chaos kosten dürfen?

Den ideologischen Gipfel aber erklimmt Kurbjuweit, wenn er Contenance angesichts der Barbarei einfordert: "Contenance im Angesicht von Schwierigkeiten, das zeichnet ein wohlverstandenenes Bürgertum aus." Richtig, auch angesichts des Völkermordes im "Dritten Reich". Und wenn der Bürger sogar damals Contenance bewahren konnte, dann müsste es doch jetzt bei der vergleichsweise harmlosen Petitesse in Stuttgart auch möglich sein.....

Zurück zum bewußt- und meinungslosen Biedermeier, ihr blöden Stuttgarter! Das Ducken und Maul halten ist eure Sache. Das Besserwissen ist Sache des SPIEGEL!

Links zu Quellen und zur Vertiefung:

(1) www.spiegel.de/spiegel/0,1518,722375,00.html

(2) www.zeit.de/2008/20/Martenstein-20

www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,546690,00.html

(3) www.nytimes.com/2009/10/03/arts/design/03railway.html?_r=1&;sq=Bonatz&st=nyt&scp=1&pagewanted=all

www.faz.net/-01ib4n

www.kopfbahnhof-21.de/index.php?id=227

www.kopfbahnhof-21.de/index.php?id=226

www.s21.siegfried-busch.de/page14/page4/page4.html

(4) www.magazin-world-architects.com/de_08_25_onlinemagazin_s21_de.html

(5) pinktentacle.com/2010/06/sci-fi-illustrations-by-shigeru-komatsuzaki/

www.manager-magazin.de/politik/artikel/0,2828,715782,00.html

www.bei-abriss-aufstand.de/2010/09/24/realistischeres-bild-des-fraunhofer-instituts/

(6) de.wikipedia.org/wiki/John_Cranko

(7)sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/29355/2" href="http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/29355/2" target="_blank">sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/29355/2

(8) de.wikipedia.org/wiki/Internationale_Bachakademie_Stuttgart

(9) de.wikipedia.org/wiki/Claus_Peymann

(10) de.wikipedia.org/wiki/Peter_Palitzsch

(11) www.badische-zeitung.de/klassik-2/stuttgarter-gral-mit-pariser-couleur--17252352.html

(12) de.wikipedia.org/wiki/Akhnaten

(13) wissen.manager-magazin.de/wissen/dokument/dokument.html?id=17917560&top=MM

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

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